Lebten Neandertaler besonders gefährlich?
Abb. 1: Urmenschen auf Höhlenbärenjagd. Gemälde von Franz Roubal (1937).
Lange Zeit wurde der Neandertaler (Homo neanderthalensis) als wilder und primitiver Vorläufer des modernen Menschen dargestellt: Wo der Homo sapiens durch Verstand und Innovation brillierte, habe sich der robust gebaute Neandertaler durch Zähigkeit und rohe Kraft hervorgetan. Nicht umsonst sind erbitterte Kämpfe zwischen Neandertalern und wilden Tieren wie Höhlenbären seit jeher ein beliebtes Sujet der Paläo-Kunst, wie etwa das historische Schulwandbild von Franz Roubal illustriert (vgl. Titelbild).
Dieses Bild hat sich in der modernen Forschung mittlerweile weithin gewandelt. Doch galt es nach wie vor als gut belegt, dass Neandertaler offenbar gefährlicher lebten als unsere eigenen Vorfahren: Davon zeugen sollen ihre Knochen, vor allem Schädel, an denen sich auffällig oft Spuren schwerer Verletzungen finden.
Bereits seit der Frühzeit der Paläoanthropologie wurden an menschlichen Fossilien Verletzungen dokumentiert, die teils zum Tode führten oder noch lange überlebt wurden. Besonders einflussreich für das Bild des risikofreudigen Neandertalers war hierbei die Studie von Thomas D. Berger und Erik Trinkaus 1995 („Patterns of Trauma among the Neandertals“), bei welcher eine Stichprobe von Neandertaler-Fossilien hinsichtlich ihrer Verletzungsmuster mit modernen Menschen verglichen wurde. Insgesamt 17 Neandertaler-Individuen mit 27 Läsionen gingen in die Auswertung mit ein; als Vergleichsgruppen fungierten archäologische Skelettfunde aus dem präkolumbischen Nordamerika und antiken Ägypten/Nubien (aber keine paläolithischen Homo sapiens!), die Daten dreier Krankenhäuser des späten 19. bis 20. Jahrhunderts sowie eine nicht-repräsentative Gruppe moderner Rodeo-Reiter. Das Ergebnis der Studie war eindeutig:
„Die anatomische Verteilung der traumatischen Verletzungen bei den europäischen und nahöstlichen Neandertalern belegt eine außergewöhnlich hohe Rate an Kopf- und Halsverletzungen. Dies geht einher mit einer relativ hohen Rate an Schulter- und Armtraumata und verhältnismäßig geringen Mengen an Verletzungen der unteren Gliedmaßen sowie dem Fehlen von verheilten Verletzungen der unteren Gliedmaßen, die schwer genug sind, um die Beweglichkeit zu beeinträchtigen. Obwohl zwei rezente menschliche Stichproben sich diesem Muster probabilistisch annähern, stimmt es am ehesten mit dem Muster überein, das bei professionellen nordamerikanischen Rodeo-Sportlern beobachtet wird. Folglich wird vorgeschlagen, dass dieses Gesamtmuster das Ergebnis häufiger Nahbegegnungen gefährlicher Art mit Beutetieren war (gefördert durch eine Projektiltechnologie, die größere Nähe zu diesen Tieren erforderte), kombiniert mit unterschiedlicher Mobilität und Überleben von Individuen mit schweren Verletzungen der unteren Gliedmaßen.“[1]
Mit einer Prävalenz von Kopf-Hals-Traumata von nicht weniger als 30‒40 % scheinen männliche Neandertaler demnach einen besonders riskanten Lebensstil gepflegt zu haben. Viel zitiert wurde seitdem vor allem Berger/Trinkaus‘ Beobachtung, dass die Neandertaler-Population ein vergleichbares und ähnlich hohes Verletzungsmuster aufweise wie heutige amerikanische Rodeo-Reiter. Im Gegensatz zum intelligenteren Homo sapiens, der Fernwaffen aus sicherer Entfernung bevorzugte – so die mehr oder weniger explizite Schlussfolgerung – habe der Neandertaler sich mit Stoßspeeren auf unmittelbare Tuchfühlung zu gefährlichen Großtieren begeben, was regelmäßig schwere Verletzungen nach sich zog. Eine solche „Nahbegegnung der unangenehmen Art“ nach Berger/Trinkaus (1995) sehen wir etwa in der populären Doku-Reihe Die Erben der Saurier veranschaulicht, wo ein unglücklicher Neandertaler von einem Wollnashorn über den Haufen gerannt wird.

Das Ergebnis von Berger/Trinkaus (1995) wird nicht nur bis heute in zahlreichen populären Veröffentlichungen aufgegriffen, sondern zog auch weitere wissenschaftliche Publikationen nach sich. „Es ist eine Besonderheit des Neandertaler-Skeletts, dass regelmäßig eine hohe Frequenz von Verletzungen zu beobachten ist“[2], beginnt etwa S. J. Underdown (2006) das Abstract seines Artikels – nur um darin schließlich zu dem Schluss zu kommen, dass das Verletzungsprofil der Neandertaler dem einer australischen Aborigine-Population recht nahe komme, in deren Jäger-Sammler-Lebensweise die Großtierjagd keine große Rolle spielte. Andere Studien, die das gewalttätige Leben der Neandertaler mit weiteren Belegen untermauerten, konzentrierten sich vor allem auf einzelne Fallbeispiele, während die wenigen quantitativen Erhebungen zu widersprüchlichen Resultaten kamen.

Die an den vorliegenden Skelettresten dokumentierten Verletzungsspuren, auf die Berger/Trinkaus und andere hinwiesen, sind nicht zu bestreiten. Doch war der Lebensstil der Neandertaler tatsächlich nennenswert gefährlicher als bei Homo sapiens desselben Zeitalters?
Dieser Frage ging schließlich eine Studie nach, die 2018 von einem Forschungsteam der Universität Tübingen in der führenden Fachzeitschrift Nature veröffentlicht wurde. Darin nahmen Judith Beier, Nils Anthes, Joachim Wahl und Katerina Harvati vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment erstmals eine populationsstatistische Auswertung an einer großen Zahl Fossilien von Neandertaler und paläolithischen Homo sapiens sowohl mit als auch ohne Verletzungen vor, um das Vorkommen von Kopf- und Halstraumata auf einer repräsentativen quantitativen Ebene miteinander zu vergleichen. Von 114 Neandertalern und 90 paläolithischen Homo sapiens aus ganz Europa und Vorderasien, die in die Auswertung einflossen, wiesen jeweils 9 (7,9 %) bzw. 12 (13,3 %) Individuen Verletzungen an Kopf und/oder Hals auf. Anders als bei der Stichprobe von Berger/Trinkaus (1995), wo eine sehr kleine Anzahl Neandertaler-Fossilien mehreren holozänen und neuzeitlichen Homo-sapiens-Populationen gegenübergestellt wurde, zeigte sich nun also kein deutlicher Unterschied zwischen beiden Arten mehr. Dies galt auch dann, wenn man die Faktoren Geschlecht, Sterbealter und Erhaltungszustand der Fossilien einberechnete:
„Auf der Grundlage unserer Ergebnisse weisen wir die Hypothese zurück, dass Neandertaler mehr Schädeltraumata aufweisen als jungpaläolithische moderne Menschen im westlichen Eurasien ‒ vielmehr zeigen wir, dass die beiden Taxa eine ähnliche Prävalenz von Schädelverletzungen aufweisen. Zuvor vorgeschlagene Werte von 30‒40 % für das Vorkommen von Schädelverletzungen bei Neandertalern repräsentieren die äußerste Grenze der Vorhersagen unserer Modelle für Neandertaler (mittlere Prävalenz von 3‒17% für Skelettelemente und 4‒33% für einzelne Exemplare); diese Werte sind vergleichbar mit jenen bei jungpaläolithischen modernen Menschen (2‒12% für Skelettelemente und 2‒34% für einzelne Individuen) und solchen, die für mesolithische Jäger-Sammler, neolithische Ackerbauern und rezente Jäger und Sammler dokumentiert sind.“[3]
Festgestellt wurde jedoch bei beiden Arten eine deutlich höhere Prävalenz bei männlichen gegenüber weiblichen Individuen, was in geschlechtsspezifischen Unterschieden in Aktivitäten und Verhaltensweisen begründet liegen dürfte, wie sie auch für spätere Epochen belegt sind. Erstaunlicherweise bestand keine größere Häufigkeit verheilter Verletzungen unter älteren Individuen, was durch eine trotzdem verkürzte Lebenserwartung von Überlebenden zu erklären sein könnte. Allerdings fanden sich unter den verletzten Neandertalern mehr Individuen unter einem Sterbealter von 30 Jahren – demnach hätten moderne Menschen entweder weniger Verletzungen in jungem Alter erlitten oder diese mit höherer Wahrscheinlichkeit überlebt, auch wenn sich die Gesamt-Prävalenz über das Leben hinweg wieder anglich.
Zweifellos zeugen die vorliegenden Fossilien von einem Leben in der Altsteinzeit, das oft genug gefährlich und entbehrungsreich sein konnte – auch wenn sich aus verheilten Traumata erschließen lässt, dass beide Arten ihre Angehörigen pflegten und selbst schwere Verletzungen mitunter noch lange überleben konnten. Dass Neandertaler dabei nennenswert gewalttätiger oder risikofreudiger gewesen wären als ihre „modernen“ Cousins, geht aus den vorliegenden Daten aber nicht hervor: Die „Rodeo-Reiter“ der Altsteinzeit sind eher ein Mythos, ein solches Verhalten bleibt wohl doch auf unsere Art beschränkt.
Literatur
Beier, J. et al. 2018: Similar cranial trauma prevalence among Neanderthals and Upper Palaeolithic modern humans. Nature 563, 686–690. https://doi.org/10.1038/s41586-018-0696-8
Berger, T. D. / Trinkaus, E. 1995: Patterns of trauma among the Neandertals. Journal of Archaeological Science 22/6, 841–852. https://doi.org/10.1016/0305-4403(95)90013-6
Rijkhoek, K. G. 2018: Von wegen wild und gefährlich: Keine Häufung von Kopfverletzungen bei Neandertalern. Informationsdienst Wissenschaft, 14.11.2018 (Pressemitteilung zu Beier et al. 2018).
Underdown, S. A 2006: A comparative approach to understanding Neanderthal trauma. Periodicum Biologorum 108/4, 485–493.
[1] Berger/Trinkaus 1995, 850: „The anatomical distribution of traumatic lesions among the European and Near Eastern Neandertals documents an exceptionally high rate of head and neck injury among them. This is accompanied by a relatively high rate of shoulder and arm trauma and proportionately low amounts of lower limb injury, as well as by an absence of healed lower limb injuries serious enough to prevent moblity. Even though this pattern is approached probabilistically by two Recent human samples, it is most closely matched by the pattern seen in North American professional Rodeo athletes. Consequently, it is proposed that this overall pattern was the product of frequent close encounters of a dangerous kind with prey animals (promoted by a projectile technology which required proximity to those animals), combined with differential mobility and survival of individuals with severe lower limb injuries.“ (Üs.: DeepL/LI)
[2] Underdown 2006: „It is a peculiarity of the Neanderthal skeleton that a high frequency of trauma is commonly observed.” (Üs.: DeepL/LI)
[3] Beier et al. 2018, 689: “On the basis of our results, we reject the hypothesis that Neanderthals exhibit more cranial trauma than Upper Palaeolithic modern humans in western Eurasia ‒ rather, we show that the two taxa exhibited a similar overall prevalence of cranial injuries. Previously suggested values of 30–40% cranial trauma prevalence for Neanderthals represent the very limit of the predictions of our models for Neanderthals (mean prevalence of 3–17% for skeletal elements and 4–33% for individual specimens); these values are comparable to those found for Upper Palaeolithic modern humans (2–12% for skeletal elements and 2–34% for individual specimens) and that have been reported for Mesolithic hunter-gatherers, Neolithic agriculturalists and recent huntergatherers.” (Üs.: DeepL/LI)