Bizango-Figuren – Kult oder Kunst?

Abb. 1: Bizango-Gruppe „Die Nachtwache“ in der Sonderausstellung Voodoo, Roemer-Pelizaeus-Museum Hildesheim, 2020 (Foto LI).

Es ist eine unheimliche Versammlung. Stumm und reglos stehen die dreizehn Gestalten da, eng zusammengedrängt hinter der Glasscheibe. Zwei von ihnen besitzen Flügel, ein anderer mit nur einem Fuß stützt sich auf Krücken. Die lederhaften Gesichter haben teils etwas Affenartiges, sie erinnern an Mumien – tot und zugleich unangenehm lebendig, wenn sich das Licht in ihren Augen spiegelt. Was mag sich unter dem abgenutzten Stoff verbergen?
Bei dem Wort Voodoo denken die meisten Leute wahrscheinlich als erstes an Nadelpuppen, Zombies und blutige Tieropfer – auch wenn diese mit dem realen Voodoo (auch Vodou) tatsächlich recht wenig zu tun haben. Bei diesem handelt es sich – oberflächlich zusammengefasst ‒ um eine vor allem in der Karibik verbreitete synkretistische Religion. Sie basiert ursprünglich auf religiösen Vorstellungen aus Westafrika, welche vor dem Hintergrund der Sklaverei in der Neuen Welt modifiziert und mit christlichen Elementen angereichert wurden. Hierzulande vor allem aus der Popkultur bekannt, stellt Vodou vor allem auf Haiti bis heute eine gelebte Religion dar.  
In den letzten Jahren jedoch hat eine neue Gruselgestalt das Theater des Exotischen erobert, zumindest soweit es die Szene ethnologischer Ausstellungen betrifft – die Bizango-Figuren. Dahinter steckt eine faszinierende, doch zweifelhafte Geschichte.

Geschichte der Bizango-Ausstellungen

Zum ersten Mal sah ich die verstörenden Figuren Anfang 2020 in der Sonderausstellung Voodoo im Roemer-Pelizaeus-Museum Hildesheim. In einem engen, dunklen Raum versammelt, stellte die „Bizango-Armee“ einen der Höhepunkt der umfangreichen Präsentation dar.           
Vier Jahre später bildeten sieben Figuren derselben Gruppe den Mittelpunkt der Sonderausstellung Magie ‒ Das Schicksal zwingen im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale). Diesmal hatte man besondere Vorkehrungen getroffen: Um jedes Entkommen zu unterbinden, waren die Gestalten in einem Käfig platziert, durch den man sie aus sicherer Entfernung betrachten konnte. Das sei auch bitter nötig, glaubt man der Beschreibung in Texttafel und Begleitband der Ausstellung:

„Geflügelt, bekrönt und bewaffnet, verstümmelt, aber auch dem Trinken nicht abgeneigt, verkörpern die Figuren Widerstand und Kampf ohne jede Beschönigung. Sie tragen Schwarz und Rot, die Farben der haitianischen Geheimgesellschaften, teilweise enthalten sie menschliche Schädel. Seile bändigen ihre Stärke, die Spiegel werfen die Kraft des Gegners zurück. Eine Figur trägt ein ‚Paket‘ mit magischer Substanz. Im Zorn können sie furchtbar sein, heilen aber auch Krankheiten und geben Ratschläge bei wichtigen Entscheidungen.“[1]

Abb. 2: Präsentation von Bizango-Figuren in der Sonderausstellung Magie ‒ Das Schicksal zwingen, Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale) (Foto LI).

Dabei sind die Figuren in Hildesheim und Halle nicht die einzigen ihrer Art.      
Eine erste Ausstellung von „Bizango-Figuren“ fand 1995 am Fowler Museum in Los Angeles statt, doch unterschied sich deren Gestalt noch deutlich von den späteren Exemplaren. Diese traten erst 2007 mit der spektakulären Ausstellung Le vodou, un art de vivre (Vodou, a way of life) am Musée d’ethnographie de Genève (Genf) in das Blickfeld der weltweiten Öffentlichkeit, bei welcher nicht weniger als 50 Figuren gezeigt wurden.           
Zugrunde lag dieser die Sammlung der aus der Schweiz stammenden, seit 1957 in Port-au-Prince auf Haiti lebenden Sammlerin Marianne Lehmann. In den folgenden Jahren wurde die Ausstellung noch in mehreren anderen europäischen Museen gezeigt, so unter dem Titel Vodou – Kunst und Kult aus Haiti im Ethnologischen Museum Berlin sowie dem Übersee-Museum Bremen, bevor sie ab 2012 in Ottawa und Chicago jenseits des Atlantiks gastierte. Texte der Berliner Ausstellung 2010 erklären den dunklen Hintergrund der Figuren:

„Außer den Gesellschaften, die zu gewöhnlichen Vodou-Tempeln gehören, gibt es in Haiti auch Geheimgesellschaften. Diese verfügen über eine straffe Struktur und militärische Organisation und eigneten sich daher perfekt für die Maroon-Gemeinschaften – kleine Gruppen von Sklaven, die von den Plantagen geflohen waren. Von 1791 bis 1804 spielten diese Gesellschaften eine zentrale Rolle im Widerstand der Sklaven gegen die Franzosen. Der Kampf wurde sowohl mit handfesten, als auch mit magischen Waffen geführt, denn die Priester beschworen die aggressivsten, heißesten Mächte herauf. […]    
Wesentlicher Bestandteil der Bizango-Gesellschaften ist ihre militärische Struktur. Die Mitglieder bekunden ihre Bereitschaft zu Kampf und Krieg. Fast alle hier ausgestellten Figuren stammen aus einem einzigen Tempel und verkörpern die Kraft der Bizango-Kämpfer. Ihr Furcht einflößendes Äußeres gemahnt noch heute an den Sklavenaufstand zu der Zeit, als diese Gesellschaften sich erstmals bildeten. Einige Bizango tragen Narben von Verletzungen.   
Ihre Köpfe sind über echte Menschenschädel modelliert. Stricke und Ketten bändigen ihre Kraft. Spiegelfragmente in ihren Augenhöhlen und auf ihrer Kleidung versinnbildlichen die Geisterwelt und schützen vor bösen Mächten. Trotz ihrer unbeweglichen Haltung kann man das Blutvergießen, an dem sie teilhatten, und die Flammen, die einst um sie gelodert haben, greifbar spüren.“[2]

Parallel mit dem durchschlagenden Erfolg der Lehmann-Bizangos tauchten weitere Figuren dieser Art auf dem Kunstmarkt auf: Zwei Galerien aus Port-au-Prince belieferten Sammler, Museen und andere Galerien mit Bizango-Figuren als zeitgenössischer Vodou-Kunst. Die Pariser Galerie Vibrations präsentierte 2009 etwa dreißig Bizango-Figuren, die aus dem Nachlass einer 1998 verstorbenen, seit den 1960ern in New York ansässigen mambo (Vodou-Priesterin) stammen sollen.      
Ebenfalls 2009 wurde eine weitere Figur, der sogenannte Bizango Emperor, vom Quai Branly Museum (Paris) erworben. Mit ihrer rot-schwarzen Lederhaut und ihrer martialischen Ausstattung, bestehend aus einer großen Schere, einem Gehstock und einem phallisch umgeschnallten Säbel, entspricht die nur 1,28 m große Figur dem bekannten Erscheinungsbild. Ihr Kopf enthält einen echten menschlichen Schädel. Dem Kunsthändler zufolge, welcher die Skulptur von zwei Mitgliedern des Tempels Na-Ri-Véh 777 in Port-au-Prince erworben habe, handle es sich dabei um die Gestalt von „Bakala Bizango Bazin“, einem Zauberer und Widerstandskämpfer aus der Zeit der Sklaverei im 18. Jahrhundert. Als Cousin von Makandal stellt dieser eine bedeutende Figur in der Gründung der Republik Haiti dar. Um die wirkmächtige Figur zu veräußern, habe man eigens zwei Rituale durchführen müssen, um diese zu entsakralisieren und im Tempel durch drei niederrangige Statuen zu ersetzen. Ein Jahr später bot derselbe Händler dem Museum mit der Bizango Empress eine zweite Skulptur an.  
Das Afrika Museum in Berg en Dal, welches 2014 mit anderen Museen zum Wereldmuseum Amsterdam fusionierte, erwarb eine weitere Gruppe von dreizehn Bizangos, welche mit den Ausstellungen in Hildesheim und Halle auch wiederholt prominent in Deutschland zu sehen waren. In Anlehnung an das berühmte Gemälde Rembrandts werden sie unter dem Namen „Die Nachtwache“ (The Night Watch) geführt.          
Es fällt auf, dass die Figuren in den Ausstellungen oft allzu spektakulär inszeniert werden: Von einem inmitten von Blitzen erscheinenden Bizango im Werbetrailer für die Ausstellung des Afrika Museums 2009 bis hin zur Inszenierung im Käfig in Halle 2024. Allzu ungewöhnlich für ein haitianisches Kulturgut mit solch dramatischer Geschichte, sollte man meinen.

Abb. 3: Die „Nachtwache“ im Käfig, Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale) (Foto LI).

Eine „Menagerie von Außerirdischen“?

Während die Vodou-Ausstellungen mit Bizango-Beteiligung bei Kunstszene und Publikum offenbar sehr positiv aufgenommen wurden, stießen sie bei manchen Fachwissenschaftlern auf weniger Begeisterung. Deutlich äußerte sich der Kunsthistoriker Donald Cosentino (2009) in einer Rezension zu der Ausstellung und dem dazugehörigen Katalog Vodou: A Way of Life des Musée d’ethnographie de Genève:

„Für einen afrikanischen Kunsthistoriker könnten sie jenen gigantischen ausgestopften Begräbnisstatuen ähneln, die die BaKongo niambo nennen. Wenn dem so ist, würde das Robert Farris Thompsons Argumenten bezüglich des Einflusses des Kongo auf die sakrale Kunst des Vodou mehr Gewicht verleihen. Aber für mich ähneln diese Kreaturen nichts mehr als der Menagerie von Außerirdischen, die Lucas für seine intergalaktische Barszene in „Star Wars“ kreierte. Ob Kongo oder Hollywood, in der Vodou-Kunst ist alles überbestimmt.
Was ist also von der Lehman-Sammlung zu halten? Als Gelehrter der haitianischen sakralen Kunst bin ich davon irritiert. Die Provenienz dieser Stücke fehlt fast völlig. Nichts wurde in situ dokumentiert oder fotografiert. Die meisten Gelehrten und Vodouisants haben so etwas wie diese Bizango-Stücke noch nie in irgendeinem Tempel gesehen. Es ist, als ob eine ganze Parallelwelt christlicher sakraler Kunst, eine visuelle Entsprechung zu den Schriftrollen vom Toten Meer, plötzlich auf jemandes Dachboden aufgetaucht wäre. Eine Melange aus Schätzen und von „Fälschungen“? Vielleicht, aber welche Bedeutung hat das Wort „Fälschung“ für eine so eklektische und alles-absorbierende Tradition wie den Vodou?          
[…] Dies ist eine Kunstausstellung über Vodou, so wie Mel Gibsons Passion Christi ein Kunstfilm über Jesus ist. Sie hätte nicht in einem ethnografischen Museum gezeigt werden sollen. Sie gehört in eine hippe Galerie in Chelsea, neben die Werke von Robert Mapplethorpe, Andres Serrano oder Chris Ofili.“[3]

Die allzu drastischen Worte eines Wissenschaftlers lassen aufhorchen. Kann es wirklich sein, dass eine ganze Kunsttradition, noch dazu eine solch markante, den mit der Kultur des Vodou befassten Forschern jahrzehntelang entgangen ist?           
Tatsächlich machen die Ausstellungen um die konkrete Herkunft der Objekte ein gewisses Geheimnis. Obwohl prominent darin dargestellt, bleibt etwa der Katalog der Berliner Ausstellung (inhaltsgleich jenem der Ausstellung in Genf) bei der Beschreibung der Figuren aus der Lehmann-Sammlung erstaunlich vage:

„Es ist das Beste nicht viel zu sagen. Die soldatenhaften Bizango schweigen sich aus über die Schlachten, die sie geschlagen, die Geister, die sie besucht haben, über die Magie der Zeit und darüber, wie man die Zeit nutzt. Eine Armee, die uns weniger über die Verschwiegenheit der Vodou-Anhänger verrät als über die Verblendung, die Worten innewohnt. Mit ihren menschlichen Schädeln, den Arm- und Beinstümpfen und den gezückten Waffen legen sie Zeugnis vom Unabhängigkeitskampf Haitis ab, der auf dem Schlachtfeld geführt wurde. Man spricht nicht über die Bizango, man demaskiert sie ‒ in der Gewissheit, dass sie weniger zu verbergen als preiszugeben haben.“[4]

Nur dass die Figuren aus den gleichnamigen haitianischen Geheimgesellschaften stammen sollen, wird von der Sammlerin Marianne Lehmann angedeutet:

„Wir wissen, dass über die Bizango nach wie vor nur sehr wenig bekannt ist. Alfred Métraux erwähnt sie kaum. Selbst Leute, die im Vodou sehr bewandert sind, konnten die Geheimgesellschaften nicht ergründen. Es ist reiner Zufall, dass ich die Figuren habe. Ein houngan hatte einen Autounfall; er war sofort tot. Seine Familie bekam daraufhin Angst vor ihren eigenen Objekten. Sie beschloss, sich von ihnen zu trennen, und wandte sich an mich.“ […]   
„Sie befinden sich in Tempeln und werden dort hinter verschlossenen Türen aufbewahrt. Nur zu bestimmten Vodou-Zeremonien holt man sie heraus. Wir haben diese Art Figuren nur an zwei oder drei Orten gesehen. Und alle hiesigen houngan haben ihre Stücke vom selben Künstler erworben. Die houngan tauschten ihre Figuren bisweilen untereinander aus. Sie kommen aus der Gegend um Artibonite.“[5]

Ähnlich nebulös drückt es auch der Begleitband zur Hallenser Ausstellung aus:

„Seit den 1990er Jahren sind etwa 200 solcher Figuren bekannt geworden. Wie weit diese Tradition zurückreicht, muss offenbleiben. Dienten sie den Zeremonien der Bizango-Geheimgesellschaften? Handelt es sich womöglich um zeitgenössische haitianische Kunst, vom Voudou inspiriert? Dazu gibt es unterschiedliche Meinungen, die Grenzen zwischen sakraler und profaner Kunst sind oftmals fließend.“[6]

Die Herstellungszeit der Figuren wird dort mit „modern, vor 2009“ angegeben.

Abb. 4: Bizango-Gruppe „Die Nachtwache“ (Foto: Nationaal Museum van Wereldculturen, Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0).

Woher stammen die Figuren?

Etwa zweihundert Figuren sollen zurzeit in Sammlungen, Ausstellungen und Museen zwischen Haiti, Nordamerika und Europa zirkulieren. Doch woher stammen die Stücke genau, wie alt sind sie wirklich?          
Zwei andere Forscher wollten es genauer wissen: Catherine Benoȋt, Professorin für Anthropologie am Connecticut College, and André Delpuech, geschäftsführender Direktor am renommierten Musée de L’Homme in Paris, gingen der Spur der Bizango-Figuren nach und veröffentlichten ihre Ergebnisse 2015 in einem französischen, 2018 in einem englischen Artikel.
Wie sie bei den Beschreibungen der verschiedenen Sammler bemerkten, folge die Erwerbsgeschichte der Figuren stets einem ähnlichen Schema. „Diese Geschichten umfassen sechs Etappen: die allererste Begegnung mit Bizango-Statuen, ihre Entstehung, ihre emotionale Wirkung, das dringende Bedürfnis, sie zu kaufen, der Entsakralisierungsprozess und schließlich der Wunsch, mehr davon zu erwerben.“[7]        
Die ursprüngliche Provenienz der Figuren bleibe dabei meist erstaunlich nebulös. Meist sollen sie aus abgelegenen Regionen von Haiti stammen, in denen viele Geheimgesellschaften aktiv seien. Aus Respekt für das kulturelle Erbe Haitis fühlten sich die Sammler und Kunsthändler jedoch verpflichtet, diese zu erwerben und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei wurden die Figuren meist nicht allein, sondern nur in ganzen Gruppen – etwa der Bizango-Armee der Lehmann-Sammlung – verkauft.
Dem pathetischen Narrativ der Sammler steht hier die pragmatische Einstellung der Verkäufer gegenüber, wie das Angebot eines Kunsthändlers an das QBM illustriert, zusätzlich zum Bizango Emperor noch weitere Exemplare zu erwerben: „Wenn Branly 20 Stück will, warum bestellen Sie dann nicht bei mir? Ich kann Ihnen 20 Stück für 50.000,00 Euro inklusive Transport nach Paris verkaufen. Es wird 12 bis 18 Monate dauern. Ich glaube wirklich, sie wären eine große Bereicherung für Branlys Sammlung. Stellen Sie sie in einem dunklen Raum aus, mit Spotlights auf ihnen.“[8]

Bizango-Geheimgesellschaften?

Wie Benoȋt und Delpuech (2018, 11) ausführen, beschränke sich der einschlägige Diskurs um die Figuren weitgehend auf „einen sehr kleinen Kreis von Sammlern, Ausstellungskuratoren und Aktivisten im Kampf für Schutz und die Bewahrung von Vodou als Kulturgut“ ‒ außen vor blieben dagegen die einschlägigen Fachwissenschaftler. So werde in Verbindung mit den Bizango-Figuren immer wieder das gleiche Bild von haitianischen Geheimgesellschaften verbreitet, aus welchen diese angeblich stammen sollen.     
Nach populärer Wahrnehmung soll es sich bei den Bizango um Geheimbünde handeln, welche bereits im 18. Jahrhundert nach dem Vorbild afrikanischer Geheimbünde entstanden und den Sklavenaufstand von 1791 im Hintergrund orchestrierten; noch immer seien sie vor allem in ländlichen Gegenden Haitis sehr einflussreich. In diesem aktivistisch-romantischen Geschichtsbild, wie es von Sammlern und Ausstellungskuratoren verbreitet wird, setze sich der Befreiungskampf der Geheimgesellschaften bis heute fort, indem sie gegen die korrupte Regierung einstehen und in abgelegenen Gegenden für Recht und Ordnung sorgen. Ihr Ursprung im Kampf gegen die Sklaverei spiegle sich bis heute in der martialischen Symbolik der Bizango-Figuren. Mit dem Stand der Wissenschaft sowie der tatsächlichen Wahrnehmung der Geheimgesellschaften in Haiti hat dieses Bild nach Benoȋt und Delpuech jedoch eher wenig zu tun: Tatsächlich sei, was in der Natur der Sache liegt, über die Geheimgesellschaften nur wenig bekannt. Vor allem aber würden diese von der haitianischen Bevölkerung gefürchtet.
Bei den Aussagen zur Provenienz in den einschlägigen Ausstellungen und Katalogen fällt dagegen auf, dass hier oft nicht klar zwischen Vodou-Tempeln und Geheimgesellschaften unterschieden wird. Dafür, dass die Bizango-Figuren tatsächlich aus den gleichnamigen Geheimgesellschaften stammen und die Praxis ihrer Anfertigung bis ins 18. Jahrhundert zurückdatiert, gibt es jedenfalls keine konkreten Belege. Ihr wahrer Ursprung ist deutlich prosaischer.

Der Künstler

Ohne individuellen Künstler erscheinen die Bizangos in den Ausstellungen als Produkte einer anonymen „Volkskunst“, geboren aus den kollektiven historischen Erfahrungen des Kampfes gegen die Sklaverei. „Urheberschaft unbekannt“ gibt noch 2024 der Hallenser Begleitband für die Bizango-Gruppe an – in Übereinstimmung mit Publikationen zu früheren Ausstellungen der „Nachtwache“. Lehmann zufolge seien die ihr bekannten Bizangos alle „vom selben Künstler erworben“. In allzu ahnungslosem Ton bemerkt immerhin der Autor Oliver Schinz in einem Begleitband zur Genfer Lehmann-Ausstellung: „Das Wiederauftauchen des Namens Lhérisson auf einer gewissen Anzahl von Beschriftungen auf den Etiketten könnte auf den Namen eines haitianischen Künstlers hinweisen.“[9]  
Tatsächlich handelt es sich dabei um den zeitgenössischen Künstler Dubréus Lhérisson, ansässig in Léogane, Haiti. Dessen Werkstatt entstammen nicht nur einige, wenn nicht alle Bizangos der Lehmann-Sammlung, sondern auch die „Nachtwache“ des Wereldmuseums und der Bizango Emperor des QBM. Als er das Foto der letztgenannten Figur in dem Ausstellungskatalog Le Louvre invite J.M.G. Le Clezio sah, habe Lhérisson bereits 2010 und 2012 gegenüber mehreren Kunsthändlern in Port-au-Prince erklärt, dass er selbst diese angefertigt und an den Na-Ri-Véh-Tempel verkauft habe. Zusammen mit zweien seiner Bizangos ließ sich Lhérisson 2016 von Catherine Benoȋt in seinem Atelier ablichten (Abb. 5).

Abb. 5: Dubréus Lhérisson mit zweien seiner Bizangos in seinem Atelier, Léogane (Foto: Catherine Benoît, zit. nach Benoȋt/Delpuech 2018, 17 Abb. 18).

Wie sein früherer Lehrer und houngan Ceus Saint-Louis, besser bekannt unter dem Künstlernamen Ti Bout, spezialisierte sich der am 14. April 1971 geborene Lhérisson zunächst auf Flaggen für die traditionellen haitianischen Rara-Umzüge. Die von Ti Bout übernommene Technik, bei der der Flaggenstoff beidseitig gepolstert wird, findet sich ebenso bei den Bizango-Figuren wieder. Zusammen mit dem Künstler David Boyer gründete Lhérisson 2008 das Atelier Kongo Lawouze in Port-au-Prince, nach dem großen Erdbeben von 2010 ein neues Studio in Léogane, wo sie vom Vodou inspirierte Kunst aus recycelten Materialien herstellten. Neben Flaggen und Bizango-Skulpturen gehören mit Muscheln und Perlen besetzte, oft reich mit Glitzer überzogene Schädel, Kreuze, Särge und Altarbilder zu seinen Kunstwerken. Auch in der internationalen Kunstszene ist Lhérisson kein Unbekannter; seine Werke wurden bereits in zahlreichen Ausstellungen rund um die Welt ausgestellt. Lhérissons 2006 angefertigter Bizango Mèt Bitasyon zierte das Cover des hochwertigen Kunstbandes Art contemporain de la Caraïbe („Zeitgenössische Kunst der Karibik“; Abb. 6). 2022 war er mit einer Auswahl von kunstvoll verzierten Schädeln sogar als Künstler bei der 12. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst vertreten. Kunstwerke von Dubréus Lhérissons mit Authentizitätszertifikat werden von einer New Yorker Galerie auf der Online-Auktionsplattform Artsy angeboten – so ist aktuell (April 2025) die lebensgroße Skulptur Chef Bizango für solide 14.000 $ zu erwerben.[10]     
Mit einem Kult in jahrhundertealten Geheimgesellschaften haben die Bizango-Figuren also wenig zu tun – vielmehr wurden sie erst um die Jahrtausendwende von einem zeitgenössischen haitianischen Künstler erfunden.

Abb. 6: Cover des Kunstbandes Art contemporain de la Caraïbe (hg. von R.-P. Yung-Hing, Paris 2012) mit Dubréus Lhérissons Bizango Mèt Bitasyon.

Alles Fake?

Sind die Bizango-Figuren also überhaupt „echt“, sind sie „originale“ Vodou-Objekte? Wie schon Cosentino betonen auch Benoȋt und Delpuech die Vielfalt zeitgenössischer Vodou-Kunst, welche keinesfalls nur kultisch im Vodou eingesetzte Objekte, sondern auch verschiedenste von dieser Weltsicht inspirierte Kunstwerke umfasst. Neue Produkte können ebenso authentisch sein wie solche mit langer Tradition; die Grenzen zwischen sakral und profan sind fließend. Auch wenn es sich faktisch um Schöpfungen moderner Künstler handelt, vielfach direkt für Ausstellungen und den internationalen Kunstmarkt bestimmt, so lassen sie sich doch nicht wirklich als „Fälschungen“ verstehen. So äußerte sich ein sèvitè (Geistlicher) des Na-Ri-Véh-Tempels gegenüber Catherine Benoȋt zu genau dieser Frage:

„Sind diese Objekte nun Bizango oder nicht? Ich habe eine Antwort. Meine Antwort? Sie sind Bizango. Was ist näher an Gott als ein Künstler, der ein Kunstwerk schafft? Wer ist Gott? Gott ist in erster Linie ein Schöpfer. Er ist ein Schöpfer, ob er nun durch Sprache oder durch Taten schafft. Es gibt nichts, was Gott näher steht als ein Künstler. Der Künstler, der ein Bizango erschafft, um es zu verkaufen oder etwas anderes, indem er dieses Bizango erschafft, wird er in diesem Moment zu Bizango. Sobald Sie anfangen, über Vodou und Geheimgesellschaften zu sprechen, werden Sie selbst zu einem Vodou-Gläubigen.     
Diese Objekte, aus welchen Gründen auch immer, werden geschaffen, um zu sein, was sie sind; Sie sind Bizango-Objekte.      
Bevor er etwas erschafft, verbringt der Künstler Zeit in den Tempeln, er stellt Fragen, er sieht, er wird inspiriert, er schläft ein, er wacht auf. Am nächsten Tag erschafft er dann etwas in einem veränderten Zustand. Es gibt keinen anderen Weg. Wir denken, dass die Energien der Welt nicht existieren, und doch sind sie da. So ist es auch bei diesen Künstlern, sie sind da, und sie befinden sich in einem veränderten Zustand. Sie erschaffen etwas, und dann packt sie selbst die Ehrfurcht.“[11]

Die Bizango-Figuren sind demnach „authentische“ Vodou-Objekte in dem Sinne, dass sie nach dem Selbstverständnis der Künstler in göttlicher Inspiration geschaffen wurden. Und auch Dubréus Lhérisson persönlich bestätigte gegenüber Benoȋt, dass seine Bizangos von einem sèvitè mit teils mehrere hundert Jahre alten Geistern beseelt würden – auch wenn sie anschließend als Kunstobjekte verkauft und rund um die Welt in Ausstellungen präsentiert werden. „Religiöse Kunst“ beschreibt sein farbenfrohes Werk demnach am besten.           
Doch klar bleibt, entgegen dem in zahlreichen Ausstellungen verbreiteten Narrativ: Weder sind die Bizango-Figuren ein sonderlich altes Phänomen, noch haben sie eine realhistorische Geschichte in den haitianischen Geheimgesellschaften. Den Sammlern und Kuratoren kommt dabei eine unrühmliche Rolle zu: Unter dem Deckmantel von Wissenschaft wurde und wird Kunst ausgestellt – aber anstatt den lebenden Künstler zu honorieren, lieber eine pseudohistorische Gruselgeschichte als Hintergrund verbreitet.

Literatur

Ausstellungsrundgang: Bizango-Raum & Altar. Vodou ‒ Kunst und Kult aus Haiti. 350 Objekte aus der Sammlung von Marianne Lehmann in Port-au-Prince. Großer Foto-Rundgang durch die Präsentation in Berlin, 2010.

Benoȋt, C. / Delpuech, A. 2015: Trois Capitaines Pour Un Empereur. Histoires De Bizango. Gradhiva 21, 130–155.

Benoȋt, C. / Delpuech, A. 2018: Producing, Collecting, and Exhibiting Bizango Sculptures from Haiti: Transatlantic Vodou on the International Art Scene. african arts 51/4, 8‒19.

Berlin Biennale: Dubréus Lhérisson

Cosentino, D. 2009: Vodou a way of life. Material Religion 5/2, 250–252.

Barbereau, C. 2012: Les guerriers bizango: L’art d’une société secrète vaudoue en Haïti, symbole de liberté et de justice, Paris.

Hainard, J. / Mathez, P. (Hg.) 2007: Le vodou, un art de vivre. Catalogue d’exposition, Genf.

Hainard, J. / Mathez, P. (Hg.) 2010: Vodou: Kunst und Kult aus Haiti. Ausstellung im Ethnologischen Museum, Berlin; 18.5.‒24.10.2010, Berlin.

Le centre d’art: DUBRÉUS Lhérisson

Reichenberger, A. / Meller, H. (Hg.) 2024: Magie. Das Schicksal zwingen. Begleithefte zu Sonderausstellungen im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle 10, Halle (Saale).

Schinz, O. 2008: Objet Vodou, couches de sens, in: J. Hainard / P. Mathez / O. Schinz (Hg.), Vodou, Genf, 365–385.

Yung-Hing, R.-P. 2012: Art contemporain de la Caraïbe. Mythes, croyances, religions et imaginaire, Paris.


[1] Reichenberger/Meller (Hg.) 2024, 224.

[2] Universes in Universe: Bizango-Raum & Altar. Ausstellungsrundgang „Vodou – Kunst und Kult aus Haiti. 350 Objekte aus der Sammlung von Marianne Lehmann in Port-au-Prince“. Großer Foto-Rundgang durch die Präsentation in Berlin, 2010.

[3] Cosentino 2009, 251 f, Üs. LI.

[4]  Hainard/Mathez (Hg.) 2010, 128.

[5] Hainard/Mathez (Hg.) 2010, 20.

[6] Reichenberger/Meller (Hg.) 2024, 224.

[7] Benoȋt/Delpuech 2018, 11 f; Üs.: DeepL/LI.

[8] Zit. nach Benoȋt/Delpuech 2018, 13; Üs.: DeepL/LI.

[9] Schinz 2008, 373; zit. nach Benoȋt/Delpuech 2018, 18; Üs.: DeepL/LI.

[10] Artsy.net: Lhérisson Dubréus.

[11] Zit. nach Benoȋt/Delpuech 2018, 18; Üs.: DeepL/LI.