Auferstanden aus Fragmenten: Ein Besuch bei den geretteten Göttern vom Tell Halaf
Titelbild: Fragmente der Stelen vom Djebelet el-Beda (links), Sphinx, Stier (Abguss), Sitzfigur vom Tell Halaf (Foto: Leif Inselmann).
Kaum betreten wir die Halle, begrüßen uns zwei tonnenschwere Löwen aus Stein – zusammengesetzt aus zahlreichen Fragmenten, verbunden durch moderne Ergänzungen. Dahinter ein geflügelter Sphinx mit verbissen zusammengekniffenem Mund, neben ihm die schweren Bruchstücke zweier Stelen aus noch viel älterer Zeit. Zwei weitere Mischwesen – ein gewaltiger Greif und ein Vogelmann mit dem Schwanz eines Skorpions – lauern am Ende der Reihe. In ihrer Mitte aber thront, eine Schale für Opfergaben in der Hand, mit seligem Lächeln eine menschliche Gestalt; das spitze, bartlose Gesicht und der würfelförmige Unterleib muten fast schon modern an. Doch unzählige Risse durchziehen ihren einst makellosen Körper, an vielen Stellen fehlen kleinere Stücke. Mehrere große Reliefplatten gegenüber, Sphingen und Götter aus dem Basalt gemeißelt, werden von wenig fotogenen Spanngurten gesichert – Zeugnisse vergangener Transporte.
Von außen deutet nichts darauf hin, dass in dem Komplex schmuckloser Zweckbauten eine bedeutende Sammlung altorientalischer Kunst ihre vorläufige Heimat gefunden hat. Hier in Friedrichshagen am südöstlichen Rand von Berlin, fast zwanzig Kilometer entfernt vom berühmten Pergamonmuseum, befindet sich dieses Depot der Staatlichen Museen.
Dr. Nadja Cholidis und Dr. Lutz Martin hätten eigentlich noch viel mehr zu erzählen gehabt, als sie am 9. Juli 2024 in der Ringvorlesung der Vorderasiatischen Archäologie an der Freien Universität Berlin ihr langjähriges Projekt vorstellten. Stattdessen ergab sich daraus eine spontane Einladung, die kaum einer der Besucher je vergessen wird: Am 17. Oktober hatten Doktoranden der Berlin Graduate School of Ancient Studies (BerGSAS), Studierende der Vorderasiatischen Archäologie und andere Interessierte die einmalige Möglichkeit, für bis zu drei Stunden das Depot mit den monumentalen Bildwerken zu besichtigen.
Bei den Statuen aus Basalt handelt es sich um die Funde vom Tell Halaf, herausragende Beispiele der späthethitisch-aramäischen Kunst im heutigen Syrien – und eine ebenso tragische wie ermutigende Episode deutscher Forschungsgeschichte.
Bereits in der Jungsteinzeit war der Ort im heutigen Nordsyrien besiedelt; die einzigartige Keramik sollte namengebend für diese frühe Ackerbau-Kultur werden. Zeugnisse der sogenannten Halaf-Kultur (ca. 5950–5300 v. Chr.) finden sich im gesamten nordmesopotamischen Raum. Seine Blütezeit aber erreichte der Tell Halaf in der frühen Eisenzeit als Sitz der Dynastie von Guzana – einem von mehreren aramäisch geprägten Kleinstaaten, welche aus den Resten des untergegangenen Hethiterreiches hervorgegangen waren. Die heute bekannten Bildwerke entstanden über einen längeren Zeitraum im 10. und 9. Jahrhundert v. Chr., unter anderem im Zuge des Ausbaus der Zitadelle unter dem Herrscher Kapara. Bereits 894 v. Chr. musste sich Guzana jedoch dem assyrischen König Adad-nirari II. unterwerfen. 808 wurde es endgültig zur Provinz des Assyrischen Reiches gemacht – ein fehlgeschlagener Aufstand führte sehr wahrscheinlich 758 v. Chr. zur Zerstörung des Palastes und seiner Statuen. Auch wenn Guzana bis in die Neubabylonische Zeit lokales Provinzzentrum blieb, so erlangte der Tell Halaf doch seine einstige Bedeutung nie zurück – bis zu seiner Wiederentdeckung.
1899 stieß der deutsche Bankierssohn und Diplomat Max Freiherr von Oppenheim (1860–1946) auf Reste gewaltiger Skulpturen, welche ihn das archäologische Potenzial der Stätte erkennen ließen. In den Jahren 1911‒1913 und 1929 konnte Oppenheim schließlich mehrere große Grabungskampagnen am Tell Halaf durchführen, welche mehr als vierzig monumentale Statuen und Steinreliefs zutage förderten. Mit Ausnahme jener Stücke, welcher gemäß damals üblicher Fundteilung bis heute im Museum von Aleppo verblieben, ließ er die Funde nach Berlin verschiffen.
Von Anfang an war es Oppenheims Wunsch, die monumentalen Denkmäler im Berliner Pergamonmuseum zu sehen. Doch ein Ankauf der Bildwerke scheiterte zunächst an der Geldnot beider Parteien – nur der berühmte Raubvogel und einige Relieforthostaten gelangten seinerzeit in das Vorderasiatische Museum, wo sie bis zur vorläufigen Schließung 2023 Teil der Dauerausstellung waren. Oppenheims Entscheidung, die übrigen Kunstwerke stattdessen bis auf weiteres im eigens gegründeten Tell Halaf-Museum in Berlin-Charlottenburg auszustellen, wurde diesen jedoch schon wenige Jahre später zum Verhängnis: 1943 traf eine Brandbombe das Museum und ließ es in Flammen aufgehen. Mochte auch das vulkanische Gestein der Hitze standhalten, so ließen doch spätestens die Löscharbeiten die glühenden Statuen in unzählige Splitter zerbersten. Walter Andrae, damals Direktor der Vorderasiatischen Abteilung im Pergamonmuseum, ließ die Bruchstücke im ausgebrannten Museumsgebäude bergen. Bis zuletzt glaubte Max von Oppenheim an eine Wiederherstellung der Bildwerke, die er doch nicht mehr erleben sollte. Er starb 1946, ohne die Überreste seiner Sammlung noch einmal gesehen zu haben.
Im Keller des Pergamonmuseums überdauerten die Fragmente – als Fremdbesitz der Oppenheim-Stiftung in der DDR – die folgenden Jahrzehnte. Erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands, inzwischen stand eine Grundsanierung der Museumsinsel an, nahm man sich dieses Fundkomplexes an – und entschloss sich zu einem wagemutigen Restaurierungsprojekt. Finanziert von der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft arbeitete das Tell Halaf-Restaurierungsprojekt unter Leitung von Dr. Nadja Cholidis und Dr. Lutz Martin von 2001 bis 2010 daran, die Statuen aus nicht weniger als 27.000 Bruchstücken wieder zusammenzusetzen. Eine Mammutaufgabe mit Höhen und Tiefen, wie die beiden zusammen mit den anwesenden Restauratoren Stefan Geismeier, Knut Zimmermann und Anna von Graevenitz zu berichten wissen. Immer wieder mussten schon zusammengefügte Stücke wieder gelöst werden, wenn abermals ein neues Fragment auftauchte. Die damals auf Veranlassung Oppenheims entstandenen Fotografien leisteten dabei unschätzbare Hilfe – anhand winziger Einschlüsse im Gestein ließen sich auch Stücke ohne andere Merkmale identifizieren und ähnlich wie bei einem Memory-Spiel wieder zusammenfügen.
Innerhalb von acht Jahren gelang das Unglaubliche: Mit sichtbaren Spuren der zweifachen – antiken wie modernen ‒ Zerstörung, doch weitgehend wieder in ihrer ursprünglichen Gestalt konnten die Statuen 2011 im Rahmen der Sonderausstellung „Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf“ zum ersten Mal seit fast siebzig Jahren wieder der Öffentlichkeit präsentiert werden. Später sollen sie Eingang in die neue Dauerausstellung des Pergamonmuseums finden.
Keines unter den Bildwerken bedeutete Oppenheim so viel wie die große Sitzstatue, welche er als seine „Thronende Göttin“ bezeichnete. Seine erste Frage, als er in Dresden von der Zerstörung des Museums erfuhr, soll gelautet haben, ob man sie wiederherstellen könne – nichtsahnend, dass dieser Wunsch erst sechzig Jahre nach seinem Tod Realität werden sollte. Um eine Göttin handelte es sich bei der Figur aber wahrscheinlich nicht – eher um das Ahnenbild eines Verstorbenen, bedeckte die Statue doch ursprünglich einen Grabschacht mit einer Brandbestattung. Tatsächlich wissen wir nicht einmal sicher, ob es sich wirklich um eine Frau handelt: Das wurde bislang nur aufgrund der langen Stirnlocken und der Bartlosigkeit vermutet, während eindeutige Geschlechtsmerkmale wie Brüste fehlen. Inzwischen ist die „Göttin“ weit gereist: Seit ihrer Wiederherstellung war sie in Sonderausstellungen in London, Paris und New York zu Gast; gerade ist sie im Gespräch für eine Ausstellung in Florenz und Washington.
Ein zweites Ahnenbildnis, das Doppelsitzbild eines Mannes und einer Frau, wurde in der Unterstadt gefunden. „Sie sehen aus wie ein altes Ehepaar, das schon fünfzig Jahre zusammen ist und sich um die Fernbedienung streitet“, meint Nadja Cholidis lachend, und als Betrachter kann man den Eindruck gut nachvollziehen. „Und schauen Sie sich nur die knubbeligen kleinen Füße an!“ Ihre erste gewaltsame Trennung seit fast dreitausend Jahren haben die beiden dabei verhältnismäßig gut überstanden, nach der Restaurierung fehlt kaum ein Splitter. Nur schwarze Schlieren auf dem Schoß der Figuren zeugen noch immer von der geschmolzenen Dachpappe des Tell Halaf-Museums, die damals auf die noch aufrechtstehenden Statuen getropft war.
Die übrigen Statuen – tonnenschwere Löwen, Götter und Mischwesen – standen einst am Eingang des Palastes und im ersten Durchgang. Bei den Löwen handelt es sich um ein Männchen und ein Weibchen, mögen die beiden auf den ersten Blick auch fast identisch erscheinen. Woran man das erkennt? Ein Besucher nach dem anderen bückt sich, um die feinen Reliefs am Bauche der steinernen Kolosse in Augenschein zu nehmen: Dort ist ein Löwenjunges eingemeißelt, das von der Löwin gesäugt wird – unter ihren Partner dagegen ein Hirsch, von der Kraft des Raubtieres niedergeworfen. Ein gewaltiger Stier dagegen, bereits von den Assyrern zerstört, wurde nur in einigen Fragmenten geborgen, welche in Syrien verblieben – an seiner Stelle steht nur ein Abguss in Friedrichshagen.
Oppenheims Rekonstruktion im Tell Halaf-Museum zeigte die drei Götterstatuen, auf Stier und Löwen stehend, als Säulen am Eingang des Hilani-Gebäudes. So wurden sie auch am Eingang des Nationalmuseums von Aleppo rekonstruiert; in gleicher Weise ist ihr Einbau im neuen Pergamonmuseum bisher geplant.
Doch dieses Modell sei nach Cholidis und Martin heute problematisch. Während bei Oppenheim die Übergänge von den Göttern und Tierbasen passgenau gearbeitet waren, zeigte sich nach der Restaurierung der Statuen: Plinthen und Kuben bilden keine harmonische Einheit, weder Zapfen und Zapfenloch noch die Kanten der flachen Sockelplatten und Kuben fügen sich zusammen. Die Götter standen also sicher nicht auf den Tieren, an ihrer Stelle seien eher Säulen aus Holz zu vermuten.
Die Restauratoren wie die Archäologen, die die Stücke sortiert und identifiziert haben, kennen ihre Statuen von innen und außen, haben jedes der vielen tausend Fragmente selbst in der Hand gehalten. Da entsteht eine innige Beziehung, die wir als Besucher nur erahnen können – das merkt man an der Begeisterung, mit der sie von ihrer Arbeit berichten und auf Details hinweisen. Umso dankbarer sind wir für die großartige Chance, die eindrucksvollen Funde im Original gesehen zu haben und Zeuge ihrer dramatischen Geschichte geworden zu sein.
Bei der Wiedereröffnung des Pergamonmuseums 2037 sollen die Bildwerke Teil der neuen Dauerausstellung werden, wie es sich Max von Oppenheim fast ein Jahrhundert zuvor erträumte. Für uns ist das noch eine lange Zeit. Doch was sind schon weitere zwanzig Jahre im Depot von Friedrichshagen verglichen mit den zweieinhalb Jahrtausenden, die die Statuen vom Tell Halaf im syrischen Sand auf ihre Wiederentdeckung warteten?
Literatur zum Thema
N. Cholidis: Eine Nacht im Vorderasiatischen Museum. Gespräch mit einem Fürstenpaar aus Guzana, in: J. Marzahn / F. Pedde (Hg.), Hauptsache Museum. Der Alte Orient im Fokus. Festschrift für Ralf-B. Wartke. marru 6 (Münster 2018), 365‒377.
N. Cholidis / L. Martin: Der Tell Halaf und sein Ausgräber Max Freiherr von Oppenheim: Kopf hoch! Mut hoch! Und Humor hoch! (Mainz 2002).
N. Cholidis / L. Martin: Tell Halaf – Im Krieg zerstörte Denkmäler und ihre Restaurierung. Tell Halaf 5 (Berlin 2010).
N. Cholidis / L. Martin: Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf. Begleitbuch zur Sonderausstellung des Vorderasiatischen Museums „Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf“, vom 28.01.–14.8.2011 im Pergamonmuseum (Regensburg 2011).
N. Cholidis / L. Martin: „Hoffentlich wird ihm bald eine bessere, würdigere Aufnahmestätte zuteil, …“ – Das Tell Halaf-Museum als Spielball privater und öffentlicher Interessen, in: J. Grabowski / P. Winter (Hg.), Zwischen Politik und Kunst. Die Staatlichen Museen zu Berlin in der Zeit des Nationalsozialismus (Köln/Weimar/Wien 2013), 331–349.
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn (Hg.): Abenteuer Orient. Max von Oppenheim und seine Entdeckung des Tell Halaf (Tübingen 2014).
Staatliche Museen zu Berlin (Hg.): Das Vorderasiatische Museum (Mainz 1992).
Weblinks
Staatliche Museen zu Berlin: Das Tell Halaf Projekt (DFG-Projekt)
Staatliche Museen zu Berlin: Vorderasiatisches Museum Berlin
Staatliche Museen zu Berlin: Online-Angebote des Vorderasiatischen Museums
Staatliche Museen zu Berlin: FAQ Pergamonmuseum: Alles über die große Sanierung des berühmten Museums
Blog der Staatlichen Museen zu Berlin: Pergamonmuseum
Dieser Beitrag erschien ursprünglich am 29.10.2024 auf dem Berliner Antike-Blog.