Wie authentisch sind Mythen? ‒ Das Beispiel Loch Ness

Viele alternative Historiker und Archäologen, selbst Kryptozoologen, verwenden Mythen und Sagen als eine Art unzuverlässigeren Augenzeugenbericht. Was da erzählt wird, so wird argumentiert, müsse wohl einen realen Kern haben.    
Erich von Däniken und mit ihm viele andere Grenzwissenschaftler gehen davon aus, dass Mythen Reportagen seien, Erinnerungen an die Vergangenheit, die authentischer seien als wissenschaftliche Erkenntnisse. Diese Ansicht hat mittlerweile einen schweren Schlag erhalten ‒ mit der Entdeckung, dass gewichtige Teile der Mythen der Maori Neuseelands in Wirklichkeit eine Erfindung der Europäer sind.

S. Percy Smith und die Mythen der Maori

Allan Hansson ist Professor für Anthropologie an der University of Kansas. In einer Untersuchung zeigte er, wie die Mythen, die die Maori heute für die ihren halten, vor knapp 100 Jahren zusammengestellt wurden.      
Die Kolonisatoren früherer Jahrhunderte hatten häufig Skrupel, sich ein entdecktes Land anzueignen, und suchten daher nach Rechtfertigungen. Die Spanier, die die altamerikanischen Kulturen unterwarfen, erfanden den „weißen Gott“, der in dieser Form weder bei den Mayas noch den Azteken vorkam (vgl. Reece 2001; Townsend 2004). Die ersten Weißen in Neuseeland nahmen an, bei den Maori handle es sich um einen der Stämme Israels ‒ somit wären sie mit den Maori verwandt und nähmen das Land als „Brüder“ rechtmäßig in Besitz. Bereits der erste Missionar, der Neuseeland betrat, vertrat 1819 diese Ansicht.   
Der britische Gelehrte S. Percy Smith erfand Anfang des 20. Jahrhunderts eine eigene Version dieser Legende. Danach waren die Maori zwar keine verstreuten Juden mehr, doch hatten sie, wie in der früheren Version, das Land nach langer Seereise voller heroischen Taten kolonisiert. Percy Smith sammelte Maori-Legenden, Kunstwerke und Manuskripte früherer Entdecker und Missionare. Aus diesen Bruchstücken bastelte er den „Maori-Mythos“ zusammen ‒ der zwar authentische Fragmente enthält, in seiner Gesamtheit aber ein europäisches Konstrukt ist.   
Nach Percy Smith kamen die Maori im Jahre +1350 in sieben riesigen Kanus in einer heldenhaften Reise von den fernen Inseln Polynesiens in Neuseeland an. Sie glaubten damals an einen einzigen Gott, Io genannt. Heute akzeptieren die Maori dieses knapp 80 Jahre alte Konstrukt als ihre authentische Tradition.       
Bereits 1950 bemerkte der Halb-Maori und Anthropologe Te Rangi Hiroa, dass die Maori-Schöpfungsgeschichte, nach der der Gott Io Licht ins Chaos gebracht hätte, das Wasser teilte und die Erde schuf, mit der Genesis der Bibel übereinstimmte ‒ offenbar hatte Percy Smith Fragmente echter Tradition in die Reihenfolge der biblischen Schöpfungsgeschichte gebracht und den Rest ergänzt. Das war ‒ um diesen Verdacht gleich abzuwehren ‒ zumindest aus damaliger Perspektive kein bewusster Betrug, sondern übliche Praxis.
Viele indianische Mythen z.B. sind bis heute nur in der Form überliefert, in der sie frühe Missionare niederschrieben ‒ allzu oft mit biblischen Fragmenten vermischt und in europäischen Reim- und Versformen. Allan Hansson urteilt hart über den „Maori-Mythos“: Ihre Traditionen seien eine „erfundene Kultur der Europäer. Sie stellen grundsätzliche Fragen über den Charakter kultureller Wirklichkeit. Wir müssen uns fragen, inwieweit die von Anthropologen veröffentlichten Informationen überhaupt Wissen über diese (kulturelle) Wirklichkeit vermitteln.“           
Warum war die Geschichtsklitterung so erfolgreich? Hansson: „Den Europäern gefiel es, dass die Maori eine komplexe Philosophie hatten, mit dem Kult des Gottes Io. Und sie hatten eine heroische Vergangenheit mit heidenhaften Taten und die Wanderung mit der ‚großen Flotte‘.“ Das verband Europäer und Maori und ließ die Europäer verdrängen, dass sie das Land eigentlich okkupiert hatten ‒ bei der Verwandtschaft kann man ja wohnen.         
Aber auch die Maori, so Hansson, halten an der „Echtheit“ ihrer „Tradition“ fest: „Sie haben ihre erfundenen Traditionen akzeptiert, allerdings nicht als ein Schritt hin zu der Assimilierung mit den Europäern, sondern als ein Zeichen für ihre ethnische Eigenständigkeit und ihren Wert.“ Das führt so weit, dass die Anthropologen, die die Falschheit der Tradition anerkennen, von Maori angegriffen werden.       
Diese vorgeblich mündlichen Traditionen, so Allan Hanson 1989 in einer Analyse, seien „in Abgrenzung zu den Pekaha (den Weißen) kreiert“ worden (so Khazaleh). Das Thema ist, wie vieles in der Geisteswissenschaft, komplexer (Levine) und verdiente, Thema einer eigenen Betrachtung zu werden.
Das geschriebene Wort ist stärker als das gesprochene: War erst einmal der „authentische“ Mythos der Maori von den Weißen erfunden und niedergeschrieben worden, wurde er von Gelehrten weltweit akzeptiert. Die Maori lernten in der Schule den erfundenen Mythos, und heute glauben sie selbst an ihn.

Erfundene Traditionen

Dies ist nicht das einzige Beispiel für die Problematik von „Traditionen“ und „Mythen“. Ein interessantes Beispiel kommt aus Deutschland selbst: die Märchen der Gebrüder Grimm.
Die Gebrüder Grimm sind ‒ wohl bis heute ‒ die bedeutendsten Volkskundler Deutschlands. Sie sammelten deutsche Märchen, Legenden und Sagen (und sind somit Begründer der wissenschaftlichen Folkloristik) und sammelten die deutsche Sprache in ihrem Wörterbuch. Deutschland war damals zersplittert und uneins, und die glühenden Nationalisten wollten den Deutschen so etwas wie kulturelle Identität geben. So sammelten sie in kleinen Dörfern „authentische“ deutsche Märchen und gaben sie als Bücher heraus. Die Früchte ihrer Arbeit kennen wir alle.         
Ihre Hauptinformantin, die sie als Tradentin echter deutscher Volkskunst sahen, war allerdings gar keine Deutsche. Sie war (was die Grimms offenbar nicht wussten oder ignorierten) eine hugenottische Frau, die aus Frankreich geflohen war. Einige ihrer „deutschen Hausmärchen“, das konnte inzwischen nachgewiesen werden, wurden ein Jahrhundert vor den Grimms von einem französischen Dichter erfunden. Auch hier stammen also „authentische Informationen“ aus fremder Feder und ‒ Hand aufs Herz ‒ wer hat denn nicht geglaubt, dass „unser“ Dornröschen, „unser“ Schneewittchen, „unser“ Rapunzel echte deutsche Märchen sind?          
So wie uns geht es heute den Maori, und so ging es den altamerikanischen Kulturen, als sie den Kunstmythos vom weißen bärtigen Gott von den spanischen Eroberern übernahmen. Ohne Illusionen spricht denn auch Richard Handler, ein Anthropologe der University of Virginia, in Anspielung auf die falsche Maori-Tradition: „Wir müssen feststellen, dass das überall so gegangen ist.” Weitere Bespiele für erworbene und dann für echt gehaltene Traditionen sind das alte Landrecht der Fidschi-Inseln (von Europäern erfunden, gilt es heute als authentische Überlieferung) und zahlreiche indianische „Legenden”.       
Es trifft also, grob vereinfacht gesagt, zu: Nicht alles, was als uralte Tradition verkündet wird, ist tatsächlich alt – jede Tradition entsteht in Auseinandersetzung mit den jeweils modernen Zeiten, und mancher vorgeblich uralte Mythos wird aktiv als Reaktion auf jeweils moderne Herausforderungen geschaffen. Man denke nur an den zu Beginn des 19. Jahrhunderts so geschätzten schottischen Dichter Ossian, dessen Epen tatsächlich von dem Autor James Macpherson (1736–1796) stammten, der die schottische Identität zu stärken suchte.  
Wie ein Mythos in Wechselwirkung zu seiner Zeit entsteht, zeigt sehr schön die Legende vom schottischen See Loch Ness, ganz unabhängig davon, ob dort heute ein Ungeheuer lebt oder nicht. Die Behauptung, über das Ungeheuer habe man dort schon seit Jahrhunderten gemunkelt, ist eine moderne Erfindung.      
Ich selbst konnte feststellen, dass 1934 (ein Jahr nach seinem ersten Auftreten) englische Journalisten den Mythos eines seit Jahrhunderten im Loch Ness lebenden Monsters erfanden. 1933 glaubten die Anwohner noch, das Ungeheuer sei ein zufällig in den See gekommenes Meerestier, und wussten nichts von ihren angeblichen Traditionen. Heute gibt es kaum noch einen Schotten, der nicht glaubt, dass die Anrainer des Loch Ness schon seit Jahrhunderten von ihrem Monster gemunkelt haben.   
Die Sagen der Inka, Maya, Osterinsulaner etc., die seltsames über Ruinen und Monumente berichten, müssen also nicht unbedingt authentisch sein, nur weil sie von den Einheimischen stammen. Häufig sind die genuinen Traditionen unter einer europäischen Systematisierung und Ausschmückung versteckt.

Wie das Ungeheuer von Loch Ness entstand – die Jahre 1933–1934

Das Ungeheuer von Loch Ness wurde nämlich zweimal geboren: zum ersten Mal 1930, nur um kurze Zeit später schon wieder in Vergessenheit zu geraten, das zweite Mal 1933, um seither nie mehr aus den Zeitungen und aus dem Bewusstsein der Menschen zu verschwinden.
Es hört sich kurios an, und fast alle Nessie-Bücher behaupten das Gegenteil: Aber vor 1933 wusste niemand, weder in der Welt noch am Loch Ness, dass es in dem See ein Ungeheuer gab. Als 1998 der Inverness Courier Father Andrew Mac Killop interviewte, der 90 Jahre alt geworden war und 78 davon direkt am Ufer des Loch Ness verbrachte, erzählte der Pater, ein Nessie-Gläubiger, „das Außergewöhnlichste von allem ist, dass, als ich noch ein kleiner Junge war [1920], niemand das Monster auch nur vermutet hätte, bis es dann ganz viele Leute in den frühen 30er-Jahren zu sehen begannen“ (Inverness Courier, 20. März 1998). Und Richard Frere (S. 167), früher Gläubiger, nun Nessie-Skeptiker, schrieb über seine 80 Jahre Leben am Loch Ness, „sollten die Einheimischen etwas über ein seltsames Tier gewusst haben, dann hüteten sie es bis 1933 wie das beste Geheimnis.“ Selbst Henry Bauer (S. 159), einer der profiliertesten akademischen Nessie-Anhänger, gibt zu, dass „nichts, was vor 1933 geschrieben wurde, … große, nicht-mythische Tiere im Loch Ness erwähnt.“          
Um zu verstehen, warum heute jeder von einer Monster-Tradition spricht, die es vor 1933 nicht gab, um zu sehen, wie das, was wir heute über Nessie zu wissen glauben, Gestalt annahm, müssen wir uns in den Sommer 1930 begeben.

Am 21. Juli 1930 saß Ian Milne, ein Seeanwohner, mit zwei Freunden in einem Boot bei Tor Point, als sie etwas Seltsames sahen. Er erzählte Alex Campbell davon, einem Freund, der für die Lokalzeitung Inverness Courier als Korrespondent tätig war. 
Der schrieb einen kleinen Artikel darüber: „Wir hörten ein furchtbares Geräusch auf dem Wasser, und als wir uns umblickten, sahen wir in einer Entfernung von etwa 600 Metern eine große Turbulenz. Der Schaum spritzte überall hoch. Dann kam der Fisch – oder was immer das war – auf uns zu … wir sahen eine schlängelnde Bewegung, aber das war schon alles.“ Alexander Campbell fügte hinzu, das sei nicht die erste kuriose Sichtung, die ihm berichtet worden sei: „Vor einigen Jahren sah ein Anrainer des Loch Ness ein ähnliches Phänomen. … Er sah den Fisch – was immer er ist – in der Mitte des Sees entlangkommen, und erklärte später, er sei von dunkler Farbe gewesen und habe in Form und Größe einem gekenterten Boot geglichen.“ Dass zwei Zeugen sich fast identischer Worte bedienen, lässt vermuten, dass Campbell die Berichte stark umgeschrieben hat. Zum Ende seines Artikels bat Campbell die Leser um weitere Sichtungen (Northern Chronicle, 27. August 1930, S. 5; Inverness Courier, 29. August 1930, S. 5; Mackal 1976, 224, Observations nr. 12 und 13; Costello 1974, 24; Witchell 1976, 46; Binns 1983, 12). Varianten dieser Zeitungsmeldungen erreichten sogar die Vereinigten Staaten und Neuseeland, wo zum ersten Mal das Wort Monster im Zusammenhang mit Loch Ness auftaucht. Die Reaktion war erstaunlich: Er erhielt eine größere Zahl an Zuschriften von Einheimischen, die vermuteten, Ian Milne habe einen Seehund oder einen Otter gesehen. Keiner der Schreiber verband Loch Ness mit einem Monster – außer offenbar Alex Campbell.   
Nur ein Leser – anonym zudem – meldete eine weitere Sichtung: Der Northern Chronicle (3. September 1930, S. 5) druckte seinen Brief ab, in dem behauptet wurde, dass „vor etwa 40 Jahren der Skipper und die Crew eines Dampfers im [Caledonian] Canal im Loch Ness ein Monstertier oder Fisch sahen. Es schwamm auf seinem Rücken und hatte Beine und einen pelzigen Körper. So jedenfalls hat man mir das erzählt“ (Binns 1983, 13). Da der Loch Ness nur von Fort Augustus vom Kanal aus einsehbar ist und Alex Campbell dort lebte, handelt es sich entweder um einen weiteren Bericht aus seiner Feder oder um einen Nachbarn, der Campbells Monsterspleen kannte und sich über ihn lustig machte.      
Denn schon 1930 glaubte Campbell an ein Monster, von dem sonst niemand wusste. In seinem zweiten Artikel über das Monster, der im Mai 1933 erschien, bezog sich Campbell ausdrücklich auf die Sichtung von Milne, um seine Behauptung zu stützen, es gebe am Loch Ness eine Tradition. Auch in seinem Bericht über Milne hatte er ja – wir sahen es – „frühere“ Sichtungen angeführt. Die Quelle all dieser Berichte ist aber immer nur er selbst. Niemand am Loch Ness wollte etwas von einem Ungeheuer wissen – und mittendrin saß Alex Campbell und lauerte darauf, dass seine Freunde ihm von einer Turbulenz im Wasser berichteten, die er zum Monster umdichten konnte!    
Zwischen 1930 und 1933 geschah viel am Loch Ness – die gesamte Infrastruktur änderte sich. Es ist die Zeit, in der der motorisierte Individualverkehr immer stärker an Bedeutung gewinnt: Zwar verkehren nach wie vor mehrere Dampfer auf dem See, die Eisenbahnlinie Glasgow-Fort Augustus aber wird stillgelegt und die seit 300 Jahren bestehende Straße am Nordufer des Sees wird verbreitert. Durch diese Baumaßnahmen ist der Uferwald teilweise abgeholzt, Öltonnen und Baumstämme treiben im Wasser.

Nachdem der erste Bericht von 1930 im Keim erstickt worden war, kam 1933 der Artikel, der alles endgültig starte: Am 2. Mai 1933 erschien im Inverness Courier (S. 5; und in der assoziierten Zeitung Northern Chronicle am 3. Mai, S. 5) der erste Artikel, der von einem Ungeheuer im Loch Ness sprach. Der Inverness Courier, Ende des 18. Jahrhunderts gegründet, war mehr als 130 Jahre lang erschienen, ohne eine Meldung über Nessie zu bringen. Verfasser war – wieder – Alex Campbell! Campbell berichtete in recht sensationellen Worten von einer Beobachtung, die Mr und Mrs Mackay, Hotelbesitzer in Drumnadrochit, gemacht hatten:

„Seltsames Schauspiel auf dem Loch Ness – Was war es? – (Von unserem Korrespondenten)

Seit Generationen gilt Loch Ness als Heim eines Furcht erregend aussehenden Ungeheuers, aber, so scheint es, galt dieser ‘Wasser-Kelpie’, wie das Fabeltier genannt wird, stets als Mythos, wenn nicht gar als Scherz. Nun kommt jedoch die Nachricht, dass das Ungeheuer erneut gesichtet wurde. Am letzten Freitag fuhr ein bekannter Geschäftsmann, der bei Inverness wohnt, mit seiner Frau (die einen Universitätsabschluss hat) mit dem Auto am Nordufer des Sees entlang, als beide verblüfft unweit von Abriachan eine gewaltige Aufwallung im Loch sahen, Dieser war nur kurz zuvor so still wie der sprichwörtliche Mühlteich gewesen. Die Frau sah die Turbulenz als erste, die ganze dreiviertel Meile vom Ufer geschah, und ihr plötzlicher Schrei, er solle anhalten, lenkte die Aufmerksamkeit ihres Gatten auf das Wasser. Dort zeigte sich das Tier, es rollte und platschte eine ganze Minute lang, und sein Körper glich dem eines Wals. Das Wasser sprudelte an ihm herunter wie ein Wasserfall, das Wasser kochte wie ein Kessel. Bald darauf verschwand das Tier in einer kochenden Masse aus Gischt. Beide Zuschauer gaben an, das ganze sei etwas unheimlich gewesen, denn sie waren sich sicher, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Seebewohner gehandelt hatte. Nicht nur aufgrund der gewaltigen Größe, das Tier sandte auch, als es endlich untertauchte, gewaltige Wellen aus, die denen eines Dampfers glichen. Die Betrachter warteten mindestens eine halbe Stunde in der Hoffnung, das Monster (wenn es ein solches gewesen sein sollte) könnte erneut auftauchen, aber sie sahen es nicht mehr. Als sie nach der Länge des Ungeheuers befragt wurde, meinte die Dame, nach dem Zustand des Wassers in dem betroffenen Gebiet zu schätzen, sei es wohl viele Fuß lang gewesen.
Man wird sich erinnern, dass vor einigen wenigen Jahren eine Gruppe von Anglern aus Inverness berichtete, [hier beruft sich Campbell auf seinen Bericht von 1930] sie hätte, als sie den See in einem Ruderboot überquerte, ein unbekanntes Tier gesichtet, dessen Masse, Bewegungen und die Menge von Wasser, die es verdrängte, darauf hindeuteten, dass es entweder ein sehr großer Seehund war, ein Tümmler, oder gar das Monster selbst! Aber damals erregte die Geschichte, als sie in der Presse erschien, kaum Aufmerksamkeit. Im Gegenteil, die meisten Leute, die sich dazu äußerten, taten es mit der äußersten Portion Skepsis.    
Es sollte noch angemerkt werden, dass, so weit man weiß, weder Seehunde noch Tümmler je im Loch Ness gesehen worden sind. Im Falle der letzteren wäre dies auch völlig unmöglich, und, was Seehunde angeht, so sind sie wohl in seltenen Fällen im Fluss Ness beobachtet worden, aber ihre Anwesenheit im Loch Ness wurde nie eindeutig bewiesen.“

Der Artikel von Campbell strotzt vor dem Wunsch, man möge das Ungeheuer endlich anerkennen, von dem eigentlich nur er berichtet. Die Mackays gaben später auf Befragung des Senders BBC (3. April 1983) an, Frau Mackay habe zuerst geglaubt, „die Wasserturbulenzen stammten von zwei miteinander kämpfenden Enten. Ihr Ehemann, der mit dem Auto entlang der Uferstraße fuhr, habe angehalten und lediglich bewegtes Wasser und Wellen gesehen, die ans Ufer schwappten“ (Dash 1997, 650; Harrison 1999, 126). Auch habe sich Campbell im Datum geirrt, die Sichtung sei im März, nicht im April 1933 erfolgt.   
Der Originalbericht der Mackays klingt also wesentlich nüchterner als Campbells aufgebauschte Version. Wie reagierten nun die Seeanrainer auf Campbells zweiten Versuch, über ein Ungeheuer im Loch Ness zu schreiben?           
Schon am 12. Mai brachte der Inverness Courier (S. 5) einen Leserbrief von Captain John Macdonald, der 50 Jahre lang die Aufsicht über alle Linien- und Touristendampfer im Loch Ness innegehabt hatte. Macdonald war der Ansicht, das Ehepaar hätte wahrscheinlich „springende Lachse“ gesehen, die – wie er aus eigener Anschauung wisse – für ziemliche Turbulenzen im sonst ruhigen Loch sorgen konnten. Und er fügte an: „Außerdem höre ich zum ersten Mal, dass – wie ihr Korrespondent schreibt – der Loch Ness ‘seit Generationen… als Heim eines Furcht erregend aussehenden Ungeheuers gilt.’ Ich habe 50 Jahre lang den Loch Ness befahren, und in all dieser Zeit nicht weniger als 20,000 Trips den See hoch und zurück gemacht. In diesem halben Jahrhundert, in dem ich fast täglich auf dem Loch Ness war, habe ich nie so ein ‚Monster‘ gesehen, wie Ihr Korrespondent es beschreibt.“          
Erst am 23. Mai (S. 4) erschien der nächste Bericht im Courier. In einer nur einen Absatz langen Notiz hieß es, alle befragten Seeanrainer stimmten mit Macdonalds Ansicht überein, dass es kein Monster im See gebe. „Einige denken, es sei ein großer Otter, andere ein großer Aal, und wieder andere sind der Ansicht, dass die beobachtete Turbulenz von seismoskopischer Natur gewesen sei. Viele denken auch, dass Captain John Macdonald Recht hat.“         
Auch in den folgenden Wochen bis etwa Juni lieferte Alex Campbell Monsterberichte an den Inverness Courier – darunter auch Augenzeugenberichte, die er anonym schrieb (Harrison 1999, 39) –, allein, jeder einzelne davon wurde von Leserbriefen entzaubert: 
Mit einer Ausnahme (ein Brief an den Courier, 30. Mai, S. 4, der auf den angeblichen Monsterbericht in der Heiligenvita von St. Columba hinwies) schilderten alle Leserbriefe, die nicht von Campbell stammten, keine weiteren Sichtungen, sondern nur „rationale“ Erklärungen. Im Northern Chronicle, 21. Juni, wurde u.a. ein Hai, ein Sonnenfisch, ein Stör (den ein F. Sutherland gerade bei Fort Augustus gesichtet hatte) vorgeschlagen – aber niemand dachte bei Berichten über ein Ungeheuer im Loch Ness an das Ungeheuer von Loch Ness. Einen Stör als Erklärung schlug auch ein weiterer Brief im Northern Chronicle, 16. August, S. 5, vor.

Doch die Zeit der rationalen Erklärungen war endgültig vorbei, als im August ein sensationeller Bericht von Touristen erschien. Es ist insgesamt – zählt man Milnes Sichtung mit – erst die vierte oder fünfte Sichtung eines „ungewöhnlichen Tieres“ im Loch Ness überhaupt. Der Inverness Courier druckte am 4. August 1933 einen Leserbrief von Mr. Spicer aus London, der kurze Zeit zuvor zwischen Dores und Foyers am Südufer des Sees entlanggefahren war:

„Da sah ich die stärkste Annährung an einen Drachen oder ein prä-historisches Tier, die ich je gesehen habe. Es überquerte etwa 50 Meter vor mir die Straße und schien ein kleines Lamm oder ähnliches Tier zu tragen. Es schien einen langen Hals zu haben, der sich auf und ab bewegte wie eine Achterbahn, und sein Körper war ziemlich dick, mit einem hohen Rücken; sollte es aber Füße gehabt haben, so sicher mit Schwimmhäuten, und ob es einen Schwanz hatte weiß ich nicht, da es sich so schnell bewegte, und als wir an dem Punkt angelangt waren, war es vermutlich bereits im See verschwunden. Es war zwischen 6 bis 8 Fuß (1,8 und 2,4 Meter) lang und sehr hässlich.      
Ich frage mich, ob Sie über dieses Tier etwas wissen, und ich lege einen frankierten Umschlag bei und erwarte Ihre Antwort.
Was immer es ist, und es könnte sowohl ein Land- wie ein Wassertier sein, ich denke, man sollte es töten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich, wäre ich ihm näher gewesen, mit ihm fertiggeworden wäre. Es ist schwierig, eine bessere Beschreibung zu liefern, da es sich so schnell bewegte, und alles so rasch vorbei war. Es existiert aber zweifellos.“

Die Reaktion der Einheimischen auf Spicers Bericht können wir uns schon vorstellen: Ein Leserbrief im IC befand kurz und bündig: „Von Mr Spicers Beschreibung des Tieres weiß jeder, der sich mit Ottern auskennt, dass es sich zweifellos um einen Otter gehandelt hat, der einen jungen Otter in seinem Maul trug.“ Aber – so skeptisch die Einheimischen blieben, die nach wie vor überzeugt waren, es gebe in ihrem See kein Monster, jetzt kamen die ersten Reporter der überregionalen schottischen und englischen Zeitungen und griffen die Meldung auf. „Ein ungeheuer großer Fisch“ habe sich ins Loch Ness verirrt, so die bescheidenen Kurzmeldungen der Glasgower Zeitungen. Campbell und Spicer waren natürlich die ersten Ansprechpartner.  
Spicer hat daraufhin seine Geschichte geändert. Gegenüber Constance Whyte beschwerte er sich 1957, man habe sich über ihn lustig gemacht: „Da gab es Berichte, dass das Ungeheuer mit ‚einem Lamm in seinem Maul‘ gesichtet worden sei; diese und andere verzerrte Berichte waren damals üblich und ärgerten Mr und Mrs Spicer außerordentlich“ (Binns 1983, 90). Gegenüber Mrs Whyte sagten sie nun, „es muss sich um das Ende des Schwanzes gehandelt haben.“          
Auch die Größe des Tieres blieb nicht mehr bei knappen zwei Metern. In einem Interview mit Tim Dinsdale gaben die Spicers 1960 die Länge des Ungeheuers mit 25 Fuß (7,5 Meter) an, Nick Witchell gibt Mitte der 1970er Jahre dann sogar 30 Fuß (9 Meter) an.        
Wenn es sich nicht um einen Schwindel handelte, der auf dem Gerücht vom Monster basierte, ist ein 1,8 Meter langes, sich in Sprüngen über die Straße bewegendes Tier natürlich schnell als Otter identifiziert. Spicer hat seine Geschichte stets verändert, die Größe des Tieres auf das 5-fache gestreckt und peinliche Details (das Lamm) anderen, bösen Menschen zugeschrieben. Aber sein erfundener oder aufgebauschter Bericht war über alle Maßen einflussreich; wir werden sehen, dass die zweite berühmte Landsichtung, die von Arthur Grant, völlig auf dem Bericht der Spicers beruht.   
Mittlerweile regte sich am Loch Ness wohl Kritik, dass der Inverness Courier Alex Campbells Monsterberichten so viel Beachtung schenkte. Zumindest druckte die Zeitung am 15. August 1933, S. 6, ein imaginäres „Interview mit dem Monster“:   
„Es ist sehr schön, sie zu treffen, sagte Mr. Otterschlangedrachenplesiosaurus und winkte mit einer seiner Flossen [genau das hatte ein von Campbell gelieferter anonymer Zeugenbericht in der Vorwoche beschrieben]. ‚Ich habe den Courier in mein Herz geschlossen, schließlich war es ja der Gentlemen, der ihre Berichte aus Fort Augustus schreibt, der mich aus meiner Höhle gezerrt und mich mitten ins Publikum gesetzt hat. Ich sehe, dass man sogar in London über mich spricht, ich bin jetzt reich.“ Der Courier lässt also Nessie selbst sagen, dass sie von Campbell „erschaffen“ wurde (Binns 1983, 22). Das Interview führte übrigens nur zu einem Leserbrief – am 18. August, S. 5, druckte die Zeitung den Brief eines Einheimischen, der meinte, es sei kein Plesiosaurus, sondern ein Otter oder eine Schildkröte.

Aber diese Versuche der Zeitung, das Monster bequem zu begraben, gelangen nicht. Englische Massenblätter druckten den Bericht der Spicers, Schaulustige begannen, an den See zu pilgern. Neben den Nachbarn und Freunden von Alex Campbell meldeten nun auch englische Touristen, die den See kaum kannten, Begegnungen mit dem Monster, die der Inverness Courier abdruckte.     
Im Herbst 1933 kamen die ersten Touristen nach Presseberichten in England an den See, und sprunghaft stieg die Zahl der Monstersichtungen. Man kann davon ausgehen, dass viele Beobachtungen auf im See treibende Öltonnen und Baumstämme vom Straßenbau zurückgingen, auch auf Stimuli, die den Einheimischen wohl bekannt waren: Otter, Lachse, das Kielwasser von Booten. Zudem hielten sich zu der Zeit (und im gesamten Winter 1933/34) Seehunde im See auf (Northern Chronicle, 6. September, 5) Einzelne Seeanrainer begannen nun, von Sichtungen zu erzählen, die sie vor 1930 gemacht haben wollten, aber jedes Mal reagierte die Gemeinschaft am Loch Ness mit Dementis. Die Anwesenheit eines Ungeheuers war mittlerweile zwar akzeptiert, aber es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass es erst seit April 1933 im See war (Inverness Courier, 3. Oktober 3, S. 5). 
Als ein Leserbrief im Courier am 10. Oktober, S. 4, behauptete, das Monster sei seit 50 Jahren bekannt, müssen diese Behauptungen die Einwohner am Loch Ness amüsiert, vielleicht sogar erbost haben. Sie wussten, dass es vor Alex Campbells Artikel im Mai 1933 (und seinem früheren Versuch 1930) am See kein Gerede um ein Monster gegeben hatte. Der Inverness Courier brachte am 20. Oktober 1933, S. 6, einen Leserbrief, in dem festgestellt wurde, die Nonnen im Kloster von Fort Augustus würden schon seit 50 Jahren von dem Ungeheuer sprechen. Natürlich war den Einheimischen klar, dass das eine Parodie auf die Leute sein sollte, die „frühere“ Monster meldeten, denn in Fort Augustus gibt es nur Mönche.

Endlich hatte auch Alex Campbell eine Sichtung: Am 17. Oktober 1933 berichtete The Scotsman, Campbell sei „ein Skeptiker“, der glaube, das Monster sei nur ein Seehund. „Nun berichtet er, er habe vor nicht langer Zeit eines Nachmittags ein Tier gesehen, das seinen Kopf und Körper aus dem See hob, dann stillhielt, dann seinen Kopf von der einen zur anderen Seite bewegte – einen kleinen Kopf auf einem langen Hals –, weil es offenbar dem Geräusch von zwei Kuttern lauschte, die von Kaledonischen Kanal herkamen. Dann erschrak es und tauchte unter. Das Tier war mindestens 9 m lang“ (Binns 1983, 77).         
Campbell schilderte seine Sichtung auch seinem Arbeitgeber, der Fischereibehörde des Loch Ness. Das Monster sei wenige Tage später noch einmal erschienen, doch „nun war das Licht besser, und in nur wenigen Sekunden konnte ich erkennen, dass das, was ich für das Monster gehalten hatte, nur ein paar Kormorane waren“ (Binns 1983, 77).      
Campbells Sichtung taucht dann auch in dem ersten Buch auf, das je über Nessie geschrieben wurde, Rupert Goulds The Loch Ness Monster – als ein typisches Beispiel dafür, wie sich Augenzeugen täuschen können!     
Doch Campbell, der keinesfalls ein Skeptiker war, sondern bis dahin einer der wenigen, wenn nicht gar der einzige, der überhaupt an ein Loch-Ness-Monster glaubte, änderte danach seine Geschichte und beeindruckte damit alle Monsterjäger. War seine Sichtung bislang auf den 7. September (in der Zeitung) oder auf den Oktober 1933 (bei Gould) oder gar auf den Oktober 1933 datiert, erzählte er Constance Whyte 1957, sie habe sich am 22. September ereignet. Das Monster sei 9 m lang gewesen, kein Zweifel.           
Tim Dinsdale erzählte er 1960, die Sichtung habe sich im Mai 1934 ereignet, das Monster sei „mindestens 9 m lang gewesen“ (Gould 1934, 97).     
Auch gegenüber Nicholas Witchell (S. 80) bekräftigte er das Datum Mai 1934 und die 9 m.
Noch im Sommer 1976 gab er gegenüber National Geographic an, er habe das Monster dutzende Male gesehen. Es gibt keinen Zweifel, dass Campbell – wenn nicht gleich der Erfinder – so doch der Motor der ganzen Sache in den Jahren 1933 und 1934 war.

Andererseits kamen nun, gegen Ende 1933, die ersten einheimischen Zeugen, die das Monster vor 1933 schon gesehen haben wollten. Eine Mrs. MacDonald erinnerte sich, sie habe im Februar 1932 ein seltsames Wesen im Fluss Ness bei Holme Mills gesehen (das ist fast noch im Stadtgebiet der am Meer liegenden Stadt Inverness). Voneinander abweichende Versionen ihrer spektakulären Sichtung erschienen in vielen Zeitungen (Glasgow Herald, 13. Dezember 1933; Inverness Courier, 12. Januar 1934, S. 5 und 13. September 1935, S. 5; London Times, 15. Dezember 1933, S. 14). Sowohl der Herald wie die Times berichten falsch, die Beobachtung sei erst 1933 gemacht worden und das Wesen sei 3,6 bis 4,5 m lang gewesen und habe Stoßzähne gehabt. Tatsächlich erinnerte sich Mrs. MacDonald an ein „Krokodil“, 1,8 bis 2,4 m lang, mit einem sehr kurzen Hals und langen, mit Zähnen bewehrten Kiefern, wie sie der Daily Mail (29. Dezember 1933) und Gould (S. 38–39) versicherte. Dieses Wesen, was immer es war, hat offensichtlich wenig mit der langhalsigen Nessie zu tun.     
Am 12. November 1933 wurde auch das erste Foto von Nessie aufgenommen, das Bild zeigt einen unförmigen grauen Blubb vor Wellenrippeln. Kein Nessie-Experte stimmt mit einem anderen darüber überein, was es zeigt – eine Flosse, den Rücken, den Hals? Da man durch das Monster hindurch die Wellen sehen kann, bin ich sicher, dass der Fotograf, Hugh Gray, eine Doppelbelichtung angefertigt hat.      
Am 9. Dezember beginnt die tägliche Berichterstattung über Nessie in der Londoner Times, der wichtigsten und seriösesten Zeitung des Landes. Ohne Ironie, aber mit viel Liebe zum Detail, werden die jeweils neu gemeldeten Sichtungen aufgeführt.         
Ganz besonders des Themas Nessie angenommen hatte sich die große Londoner Zeitung Daily Mail. Im Dezember schickte sie einen berühmten Großwildjäger, Marmaduke Wetherall, an den See. Wetherall befragte Zeugen, befuhr den See und fand schließlich innerhalb einer Woche den endgültigen Beweis für Nessies Realität: Fußspuren des Monsters am Ufer. 
„Das Ungeheuer von Loch Ness ist eine Tatsache, keine Legende“ lautete am 21. Dezember 1933 die Schlagzeile der Daily Mail. Einen Monat später aber verkündete das Britische Museum in London, dass eine Untersuchung der Tappser gezeigt hatte, dass sie alle vom rechten Hinterfuß eines Nilpferdes stammten – sie waren mit einem Schirmständer angefertigt worden. Obwohl immer wieder geäußert wurde, Wetherall habe die Spuren selbst angefertigt, gibt es dafür keinen Beweis.      
Dass die Spuren gefälscht waren, war allerdings längst noch nicht bekannt, als der nächste klassischen Bericht gemeldet wurde, der wie eine Kombination aus dem Schwindel der Daily Mail und dem zweifelhaften Spicer-Bericht erscheint. Beide Male ist angeblich ein Lamm das Opfer der Exkursion, beide Male werden die Fußstapfen am Ufer berichtet.          
Am 5. Januar 1934 fuhr Arthur Grant um 2 Uhr morgens auf der Uferstraße bei Abriachan, als er ein großes Etwas von der Nordseite der Straße herkommend sehen konnte. Es sei so mondhell gewesen, dass man „eine Zeitung hätte lesen können“. In mehreren Sätzen überquert das Monster die Straße und verschwindet im Loch Ness. Grant schildert es als Tier mit langem Hals, langem Schwanz, zwei Höckern, den Vorderfüßen einer Robbe und Krokodilbeinen, 4,5 bis 6 Meter lang. Es sei „gewatschelt wie ein Seelöwe“ (Lange 1979, 98), „seine Kiefer könnten bequem ein Lamm fassen“. 
Mehrere Studenten aus Edinburgh untersuchten den Sichtungsort einen Tag nach der Begegnung und fanden zahlreiche „Abdrücke von Flossen“, sowie am Ufer „Schafswolle und das Skelett einer Ziege“ (Costello 1974, 50).     
Vielleicht war die ganze Angelegenheit ein Schwindel, der Elemente aus Spicer und den neuentdeckten Spuren verband, vielleicht auch eine Fehldeutung, die von der Daily-Mail-Sensation beeinflusst war. Interessanterweise hielten sich damals eine oder mehrere Seehunde im Loch Ness auf – dass 1933 und 1934 alteingesessene Fischer von Seehunden im See berichteten, wird bis heute in den Nessie-Büchern verschwiegen! (Der Inverness Courier, 16.1.34, S. 4 & 5, berichtet, am 13.1.sei ein Seehund im River Ness, am 15.1. bei Fort Augustus gesichtet worden.)

Mittlerweile lassen sich die Ereignisse nicht mehr einfach schildern. Im Schnitt wurde spätestens jeden zweiten Tag eine Beobachtung gemeldet, von Einheimischen wie von Touristen. Zahlreiche dieser Sichtungen sind definitiv Fehldeutungen (so wurde während eines Schneetreibens ein mehrhöckeriges Monster gesichtet, dessen einzelne Höcker miteinander verschmolzen; eine vielhöckerige Nessie folgte einem Trawler, dessen Besatzung nichts merkte ‒ alles typische Kielwellensichtungen), häufig dauerten sie mehrere Minuten, manchmal Stunden. Eine solche Dauer ist seither nie mehr gemeldet worden.   
Die nächste klassische Sichtung erfolgte am 1. April 1934. Der Londoner Gynäkologe R. K. Wilson befand sich bei Invermorriston, als er etwas Seltsames sah, er nahm mehrere Fotos auf, von denen zwei deutlich genug waren: die berühmten „Surgeon’s pictures“ (Titelbild). Wilson weigerte sich stets, Details seiner Sichtung zu berichten (angeblich war er mit einer Geliebten am See gewesen und wollte sie nicht kompromittieren), er weigerte sich auch stets zuzugeben, dass seine Bilder Nessie zeigten.       
Er wusste, warum. Erst 1994 kam heraus, dass es ein Modell war, und dass der Drahtzieher hinter dem Schwindel Wetherall gewesen war, der sich an der Daily Mail rächen wollte. Obwohl es heute noch Hardliner gibt, die den Schwindel nicht akzeptieren, etwa Coleman, so steht er doch einwandfrei fest.      
Mit dem Bild des Chirurgen gab es ein Archetyp, wie Nessie aussehen musste – vorher wichen die Berichte oft voneinander ab. Nun war das Monster endgültig etabliert, der Mythos beeinflusste die Art und Weise, wie Augenzeugen Kielwellen, treibende Baumstämme, Seehunde, Otter und schwimmendes Wild wahrnahmen.    
… Und Nessie ist seither nicht mehr von unserer Seite gewichen.

Mythen und Schlussfolgerungen

Es zeigt sich durch diese Analyse der zeitgenössischen Quellen, dass viele lieb gewonnenen Klischees, die sich in praktisch jedem Buch über das Ungeheuer von Loch Ness finden lassen, nachweislich falsch sind.

1)         Es wurde 1933 keine neue Straße am Loch Ness gebaut.

2)         Das Ungeheuer wurde nicht „seit Jahrhunderten“ schon beobachtet. Wir haben bereits gesehen, dass sich 1933 alle Seeanrainer einig waren, dass sie noch nie etwas von einem Loch-Ness-Monster gehört hatten. Wohl meldeten bereits im Spätjahr 1933 manche Zeugen Sichtungen vor 1930, doch wurde das generell von der Bevölkerung bezweifelt. Erst Constance Whyte schuf die Legende von der Nessie-Tradition 1957 in ihrem Buch More Than A Legend. Natürlich erschien eine Besprechung auch im Inverness Courier (12. April 1957, S. 3) Das Buch habe nur einen schweren Fehler, meinte der Journalist von Loch Ness ‒ es sei falsch, dass es eine Monstertradition gebe.  
Bis 1957 war das eine anerkannte Tatsache, seither glauben selbst die Menschen am Loch Ness, man habe schon immer von dem Ungeheuer gemunkelt. Als Gould 1934 sein The Loch Ness Monster schrieb, hatte er keinen Zweifel: „Was immer X [sein Name für Nessie] ist, es kam ursprünglich aus dem Meer“ (S. 165). Um zu beurteilen, was die Augenzeugen gesehen hätten, sei es nötig, herauszufinden, ob „ein Meerestier den Loch erreichen könnte“ (S. 6). Er akzeptierte Berichte von 1871, 1903 und 1908 (S. 25; eine dieser Sichtungen beschreibt eindeutig einen Otter, andere sind sehr vage, keine wurde damals der Zeitung gemeldet), meint aber andererseits: „Es gibt kein Indiz dafür, dass es mehr als ein Tier im See gibt“ (S. 34).
Der große holländische Zoologe Dr. A. C. Oudemans, Autor des Klassikers The Great Sea-Serpent (1892) schrieb 1934 das Büchlein The Loch Ness Animal. In diesem Buch geht er davon aus, dass Nessie erst vor kurzer Zeit in den Loch Ness gekommen sei, wohl im Frühjahr 1933, als der River Ness Hochwasser hatte. Da Oudemans Goulds Buch kannte, in dem dieser Ende 1933 gesammelte frühere Sichtungen von Nessie erwähnte (etwa Mrs. MacDonalds Bericht und den Bericht von Ian Milne), meint er: „nicht zum ersten Mal hat Loch Ness die Ehre, Besuch von einer Seeschlange zu erhalten. … Jedes Mal blieb die Seeschlange nur kurze Zeit; sie verließ den Loch, vermutlich auf die gleiche Weise, wie sie hineingekommen war“ (S. 6). Oudemans wies darauf hin, dass „Commander Gould annimmt, dass das Tier während eines Hochwassers des River Ness in den Loch gekommen sei“ (S. 8). Oudemans war sich sicher, das sei im März 1933 gewesen. „Eines Tages wird es den See wieder verlassen wollen“ (S. 15).

3)         Es wird generell argumentiert, die Bevölkerung habe mit dem Ungeheuer so viel Aberglauben verbunden, dass die Schotten Sichtungen nicht gemeldet hätten. Doch waren einerseits die Zeitungen von Inverness voller Berichte über Seeschlangen, Seejungfrauen, Geistererscheinungen und überlebende Dinosaurier in anderen Teilen der Welt, andererseits berichteten sie über Begegnungen mit unerklärlichen Lichtern über dem Loch, die zumindest ähnlich abergläubisch konnotiert waren. Zudem war Loch Ness seit 1850 ein beliebtes Reiseziel, unter anderem verbrachten Charles Darwin, Königin Victoria, der englische Dichter Dr. Johnson sowie der bekannte Magier Aleister Crowley Zeit dort – und auch sie berichteten nichts von einem Ungeheuer. (Vgl. dazu meinen Aufsatz in Fortean Studies 7).

Literatur

Bauer, H. H. 1986: The Enigma of Loch Ness, Urbana.

Binns, R. 1983: The Loch Ness Mystery Solved, Shepton Mallet.

Costello, P. 1974: In Search of Lake Monsters, London.

Dash, M. 1997: X-Phänomene: Spurensuche im Reich des Übersinnlichen, München.

Dinsdale, T. 1982: Loch Ness Monster. Fourth Edition, London.

Dinsdale, T. 1976: The Leviathans, London.

Frere, R. 1988: Loch Ness, London.

Gould, R. T. 1934: Loch Ness Monster, London.

Hanson, A. 1985: Being Pakeha: An Encounter with New Zealand and the Maori Renaissance, Auckland.

Hanson, A. 1989: The Making of the Maori: Culture Invention and Its Logic. American Anthropologist 91/4, 890‒902.

Harrison, P. 1999: The Encyclopaedia of the Loch Ness Monster, London.

Khazaleh, L. o. J.: Wessen Kultur bewahren?

Lange, P. W. 1979: Seeungeheuer, Leipzig.

Levine, H. B. 1991: Comment on Hanson‘s „The Making of the Maori“. American Anthropologist 93/2, 444‒446.

Mackal, R. P. 1976: The Monsters of Loch Ness, London.

Magin, U. 2001: Waves without Wind – Historical accounts of the Loch Ness Monster. Fortean Studies 7, 95–115.

o.A. 1986: The Grimm’s Fairy Tales. Fortean Times 47, 15.

Oudemans, A. C. 1892: The Great Sea Serpent, Leyden.

Oudemans, A. C. 1934: The Loch Ness Animal, Leyden

Reece, K. 2001: The Spanish Imposition.

Thomas, C. 1988: The ‘Monster’ Episode in Adomnan’s Life of St. Columbus. Cryptozoology 7, 38–45.

Townsend, C. 2003 (online 2004): Burying the White Gods: New Perspectives on the Conquest of Mexico. American Historical Review 108/3.

Whyte, C. 1957: More Than A Legend, London.

Wilford, J. N. 1990: Of Legends: Whose Culture Is It Anyway? International Herald Tribune (Paris), 21.02.1990.

Williamson, G. R. 1988: Seals in Loch Ness. Scientific Report of the Whale Research Institute 39, 151–157.

Witchell, N. 1976: The Loch Ness Story, Lavenham.

Ulrich Magin lebt nahe Bonn und ist Autor des Buchs “Die Seeschlange vom Comer See: Geheimnisvollen Seeungeheuern im Gardasee, im Comer See und im Lago Maggiore auf der Spur”.

Siehe auch:
Megalithische Steinkreise im Loch Ness?