Die Jugend von heute – schon damals?

Ur-Nanše von Lagaš mit seinen Söhnen, ca. 2500 v. Chr. (Louvre, Wikimedia Common)

„Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte.“ (Keller, 1989, ca. 3000 v. Chr., Tontafel der Sumerer).

„Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten.“ (Watzlawick, 1992, ca. 1000 v. Chr., Babylonische Tontafel)

„Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.“ (Keilschrifttext, Chaldäa, um 2000 v. Chr.)

Wem kommen diese Worte nicht bekannt vor?       
Es ist ein alter Hut, dass eine jede alte Generation in ganz ähnlicher Weise über die zeitgenössische Jugend schimpft, die unmoralischer, fauler und nutzloser sei als je zuvor. Während die einen in die Tiraden einstimmen und den Untergang des Abendlandes beschwören, ist anderen längst aufgefallen, wie sehr sich solche Beschwerden doch seit jeher gleichen. Die Erzählung vom moralischen Verfall der Jugend kann nicht ganz hinkommen, wenn doch schon seit Jahrhunderten in immer gleicher Weise darüber geklagt wird. Ist nicht vielmehr jede Jugend genauso rebellisch wie die letzte und nächste, bevor sie selbst zu auf die Jugend schimpfenden Erwachsenen heranwächst?  
Vor diesem Hintergrund kursieren im Internet mittlerweile Sammlungen von historischen Zitaten, die das Klagen der Älteren über die Jugend in immer gleicher Weise über Jahrtausende hinweg dokumentieren. Wenn auch manch ein Seitenbesucher die eigentliche Aussage nicht versteht und die Zitate mit „Genau so ist es!“ kommentiert, so zeigen diese doch vor allem eines: Die vermeintlich seit Urzeiten unveränderte Wahrnehmungsverzerrung der älteren Generation. Neben angeblichen Zitaten von Sokrates und Aristoteles (die sich seltsamerweise in keiner historischen Quelle finden) kursieren dabei auch immer wieder die drei oben genannten Zitate, die von bis zu fünftausend Jahre alten sumerischen und babylonischen Tontafeln stammen sollen. Wurde also wirklich schon vor vielen tausend Jahren genauso über den Verfall der Jugend geschimpft wie heutzutage?         
Es erübrigt sich eigentlich, konkrete Links für die Zitatesammlungen anzugeben, die auf etlichen Internetseiten in gleichem Wortlaut und fast identischer Zusammenstellung kopiert werden – eine simple Google-Suche fördert leicht unzählige zu Tage. Beispiele finden sich etwa hier, hier, hier, hier und hier.          
Begeben wir uns also auf die Suche nach den wütenden alten Leuten des Alten Orients.

Erste Zweifel

In populären Büchern, mündlicher Überlieferung und vor allem im Internet kursieren zahlreiche Zitate berühmter historischer Personen, die nur allzu gut die Verhältnisse der Gegenwart beschreiben (oder zumindest den eigenen Standpunkt bestätigen). Allein – ein großer Teil dieser Zitate sind fälschlich zugeschrieben, werden gar unterschiedlichen Personen gleichzeitig zugeschrieben oder zumindest findet sich auch bei genauerer Recherche keine Primärquelle unter den dokumentierten Aussagen der Person.   
Dies gilt auch für die so beliebten Zitatsammlungen über den Verfall der Jugend – so tauchen etwa immer wieder angebliche Zitate von Sokrates, Aristoteles oder Hesiod auf, für die es in den antiken Schriften keinen Beleg gibt. Teils gehen diese Falschzuschreibungen bis ins 19. Jahrhundert zurück.[1] Gilt dies womöglich auch für die anonymen Zitate der Sumerer und Babylonier?       
Als Altorientalist interessierte mich unweigerlich die Primärquelle. Aus welchen antiken Texten stammen die Zitate, oder handelt es sich doch um ein weiteres Beispiel für Falschzuschreibungen?
Für die Zitate aus dem antiken Mesopotamien wird nie eine konkrete Quelle angegeben. Tontafeln der Sumerer und Babylonier gibt es viele – man müsste den konkreten Text benennen, um die Stelle wiederfinden zu können. Inhaltlich würden mehrere antike Textgattungen in Betracht kommen: Die Streitgespräche und Satiren über den Schulbetrieb („E-dub-ba-a-Literatur“), in denen Lehrer über faule Schüler schimpfen; Klagelieder wie etwa die Stadtklagen und Eršemas, die in dramatischer Weise die Zerstörung der Städte und damit der Zivilisation ausmalen; Weisheitstexte mit moralisierendem Inhalt und schließlich die umfangreichen Sammlungen sumerischer und akkadischer Sprichwörter.            
Doch schon auf den ersten Blick fallen mehrere problematische Stellen in den Zitaten und ihren knappen Herkunftsangaben auf, die zum Zweifel erregen:

  • Die Zeitangabe „3000 v. Chr.“ ist unrealistisch. Zu diesem Zeitpunkt war in Sumer zwar die Schrift schon erfunden (ca. 3500–3300), doch handelte es sich noch um ein recht primitives Schriftsystem, das vor allem einzelne Bedeutungen und Zahlen, aber noch keine gesprochene Sprache mit vollständiger Grammatik kodierte. Die einzigen Quellen, die uns aus jener sehr frühen Form der Schrift erhalten sind, sind Wirtschaftstexte (Urkunden, Abrechnungen etc.) und Wortlisten. Dem entgegen beginnt die schriftliche Aufzeichnung der Textgattungen, die für solche Passagen in Frage kommen – Sprichwörter, Weisheitstexte, Streitgespräche, Klagelieder, Epen – nicht vor der späten frühdynastischen Zeit (ca. 2500 v. Chr.). Die meisten erhaltenen Quellen datieren sogar deutlich nach 2000 v. Chr.
  • Auch die Angabe „Chaldäa, um 2000 v. Chr.“ widerspricht der altorientalischen Chronologie: Die Chaldäer sind ein historisch nur sehr schlecht fassbares Volk, das im 1. Jt. v. Chr. in Mesopotamien erscheint; vor allem aber wird das Wort in griechisch-römischen Quellen und der frühen Forschung als Synonym für die neubabylonische Königsdynastie (604–539 v. Chr.) sowie die Zunft der babylonischen Astrologen verwendet. Aufgrund dieser Unschärfe verwendet die heutige altorientalistische Forschung die Begriffe Chaldäer und Chaldäa kaum noch – vor allem aber haben Chaldäer in der Zeit um 2000 v. Chr. nichts zu suchen. (Manche Seiten geben das Zitat auch mit „Ur, 2000 v. Chr.“ an, was eher passen würde.)
  • Das „Ende der Welt“ ist eine gänzlich unmesopotamiche Vorstellung. Tatsächlich scheint es bei den antiken Sumerern, Babyloniern und Assyrern keinerlei apokalyptische Vorstellungen gegeben zu haben.
  • „es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten“ – Weder im Sumerischen noch Akkadischen (Babylonisch-Assyrischen) gibt es ein adäquates Wort für den abstrakten Begriff der „Kultur“. Es müssste sich dabei um eine sehr freie Übersetzung handeln.

Es besteht also mehr als genug Grund zum Misstrauen. In den mir bekannten Quellen der Sprichwörter, E-dub-ba-a-Texte und Klagelieder konnte ich keines der Zitate wiederfinden. Etwas mehr Aufschluss geben jedoch die kurzen Literaturangaben, die vermeintlich auf wissenschaftliche Publikationen verweisen.

Zitat 1

„Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte.“
Keller, 1989, ca. 3000 v. Chr., Tontafel der Sumerer).

Die Angabe „Keller, 1989“ deutet zunächst auf eine wissenschaftliche Publikation hin – doch findet sich kein Altorientalist dieses Namens mit einer Veröffentlichung aus diesem Jahr. Noch erstaunlicher: Auf der Seite Aphorismen.de wird dasselbe Zitat stattdessen mit „aus Ägypten – Aufzeichnung zu Generationenkonflikten um 1500 v. Chr.“ angegeben. Ebenso in einem neuen Pädagogik-Ratgeber von Wolfgang Lenhard: Dort wird als Herkunft schlicht „Altes Ägypten“ genannt.[2] Handelt es sich also überhaupt um eine mesopotamische Quelle?
Die Suche nach „Keller 1989“ führte schließlich zu einem dünnen, populärwissenschaftlichen Sachbuch: „Das Klagelied vom schlechten Schüler. Eine aufschlußreiche Geschichte der Schulprobleme“ von Gustav Keller. In zehn Kapiteln illustriert der Autor die Geschichte der Schule von der „steinzeitlichen Lebensschule“ bis hin zu den „Stadt- und Dorfschulen der Frühneuzeit“. Tatsächlich sind zwei Kapitel dem „Schulbeginn in Sumer“ und dem Unterricht „Im Tafelhaus zu Babylon“ gewidmet. Anhand etlicher Zitate aus der erhaltenen Schulliteratur werden die Wissenskultur und der Schulalltag im antiken Mesopotamien nachgezeichnet, allgegenwärtig natürlich der konfliktträchtige Umgang mit leistungsschwachen und lernunwilligen Schülern. Genau der Kontext, in dem man das Zitat erwarten sollte – doch zu meiner Überraschung fehlt es hier. Stattdessen findet es sich erst einige Seiten später, im Abschnitt über die Schule im alten Ägypten:

„Daß der Werdegang vom Schulanfänger zum erwachsenen Kulturbürger schon damals nicht leicht war, offenbaren uns die altägyptischen Quellen. Sei es, daß in erhalten gebliebenen Schulheften so mancher kritische Lehrerkommentar zu lesen ist. Etwa solchen Inhalts: “Verlier deine Zeit nicht mit Wünschen, sonst wirst Du zu einem bösen Ende kommen.” Sei es, daß in Erzieherfibeln Klagelieder über den Leistungsstand und das Verhalten der Schuljugend angestimmt werden: “Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewußt ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte.” An anderer Stelle wird jammernd zum Ausdruck gebracht, daß die Schüler Bier mehr lieben als Bücher.“[3]

Demnach stammt das Zitat also gar nicht aus Mesopotamien, sondern aus Ägypten.       
Jedoch wird auch dafür leider keine direkte Quelle angegeben. Das Literaturverzeichnis von Keller führt die Bücher „Die Literatur der Ägypter“ und „Ägypten und ägyptisches Leben im Altertum“ von Adolf Erman auf, beides umfangreiche Publikationen eines bekannten Ägyptologen. Ersteres umfasst die Übersetzungen zahlreicher ägyptischer Texte, darunter auch solche zum Schulalltag, die von Keller zitiert werden. Doch das fragliche Zitat findet sich in keinem der beiden Bücher.     
Woher das Zitat ursprünglich stammt, konnte ich nicht ermitteln. Alle Spuren jedoch führen nach Ägypten, wobei sich die Primärquelle auch hier nicht ausfindig machen lässt. Möglicherweise handelt es sich also um ein fälschlich zugeschriebenes Zitat ohne antike Quelle. Für einen Ursprung in Mesopotamien aber fehlt jegliche Grundlage. 

Zitat 2

„Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten“ (Watzlawick, 1992, ca. 1000 v. Chr., Babylonische Tontafel).

Auch bei Watzlawick 1992 handelt es sich nicht um eine altorientalistische Publikation, sondern um das populär-soziologische Sachbuch „Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels“ von Paul Watzlawick et al, das seit 1975 in zahlreichen Editionen aufgelegt wurde.
Im 3. Kapitel steht zu lesen:

„Das viel beklagte, moderne Pseudoproblem der Generationenlücke ist ein ähnliches Beispiel. Die unangenehmen und oft entmutigenden Reibungen zwischen der älteren und der jüngeren Generation bestehen seit längster Zeit und sind immer wieder der Gegenstand erstaunlich stereotyper Klagen2“ – mit Verweis auf die Fußnote: „Auf einer babylonischen Tontafel, deren Alter auf mindestens 3000 Jahre geschätzt wird, steht zu lesen: […]“

Eine Quellenangabe gibt es nicht. Es handelt sich nur um einen weiteren Fall der Rezeption eines Zitats zur Illustration eines modernen Sachverhalts. Abermals zeigt sich: Die zahlreichen Zitatezitierer zitieren eine Literaturangabe, die sie selbst nicht verstehen (geschweige denn nachgeprüft hätten) – offenbar als eine Art symbolisches Feigenblatt, um eine tiefere Beleglage vorzutäuschen.

Woher aber stammt das Zitat wirklich?        
Einen endgültigen Ursprung konnte ich auch hier nicht finden. Allerdings zeigt sich eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zu einem anderen Zitat, das im gleichen Kontext häufig Aristoteles (im englischen Sprachraum stattdessen Hesiod) zugeschrieben wird:

„Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen. Wenn ich die junge Generation anschaue, verzweifle ich an der Zukunft der Zivilisation.“

Auch für dieses gibt es keinen Beleg in den Schriften des Aristoteles, wie bereits bei Falschzitate / Zitatforschung bemerkt wurde.        
Die „Zivilisation“ des Pseudo-Aristoteles erinnert an die „Kultur“ im pseudo-babylonischen Zeit (für die es im Babylonischen gar kein Wort gibt), ähnlich ist auch die Aneinanderreihung von Beleidigungen. Möglicherweise könnte es sich – vielfach in der Zitiertrommel des Internets mutiert – um zwei Varianten desselben Ursprungszitats handeln. Ansonsten bleibt der Ursprung obskur.

Zitat 3

„Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe“ (Keilschrifttext, Chaldäa, um 2000 v. Chr.)

Nicht weniger zweifelhaft ist das dritte Zitat. Bereits der Bezug auf das „Ende der Welt“ deutet darauf hin, dass es sich bei diesem Zitat nicht um eine originale mesopotamische Quelle handeln dürfte. Hier jedoch können wir den Ursprung ein bisschen weiter zurückverfolgen.

Im englischen Sprachraum kursiert ein ähnliches Zitat, das dort als „assyrische Tontafel um 2800 v. Chr.“ angegeben wird:

“Our Earth is degenerate in these later days; there are signs that the world is speedily coming to an end; bribery and corruption are common; children no longer obey their parents; every man wants to write a book and the end of the world is evidently approaching.”

Auch hier besteht wieder ein chronologischer Fehler – um 2800 v. Chr. gab es noch keine vergleichbare Literatur und Assyrien spielte in jener frühen Zeit noch keine Rolle. Es bleibt auch rätselhaft, weshalb sich in einer Kultur, die auf Tontafeln schrieb, jemand darüber beschweren sollte, dass „jedermann ein Buch schreiben“ wolle. 
Mit diesem Zitat setzte setzte sich bereits die englische Zitatcheck-Website Quote Investigator auseinander und kam zu bemerkenswerten Ergebnissen. Die erste belegte Fassung des Zitats findet sich in der Radler-Zeitschrift Basset’s Scrap Book von 1908:

„The ”good old times” seemed as bad to the “good-old-timers” as the present times seem to the modern man, as shown by the following translation of an inscription on a tablet in the Imperial Museum at Constantinople, Turkey : — 
Naram Sin. 5000 B. C.          
We have fallen upon evil times, the world has waxed old and wicked. Politics are very corrupt. Children are no longer respectful to their elders. Each man wants to make himself conspicuous and write a book.“[4]

Hier fehlt der Teil mit dem Weltende noch. Dafür wird das Zitat auf eine Inschrift des Königs Naram-Sîn im Museum von Istanbul zurückgeführt. Tatsächlich lebte Naram-Sîn jedoch nicht „5000 v. Chr.“, wie im Text behauptet (damals gab es noch gar keine Schrift und somit auch keine historisch fassbaren Personen), sondern vielmehr im 23. Jh. v. Chr.   
Auch bei dieser handelt es sich wahrscheinlich nicht um die erste Quelle, denn schon im selben Jahr ist das Zitat auch in anderen Quellen belegt. Im Mai 1913 behauptete George Thomas White Patrick (1857–1949), ein Philosophie-Professor der State Universiry of Iowa, in einem Artikel, er habe die Inschrift 1911 im Museum in Istanbul gesehen:

„In the museum at Constantinople the writer saw an inscription upon an old stone. It was by King Naram Sin of Chaldea, 3800 years B.C., and it said,

We have fallen upon evil times        
and the world has waxed very old and wicked.       
Politics are very corrupt.       
Children are no longer respectful to their parents.“[5]

Einem autobiographischen Text zufolge habe Patrick Istanbul (damals Konstantinopel) im Jahr 1911 besucht[6], was verwunderlich ist, da der Museumsbesuch damit zeitlich nach dem ersten Beleg des Zitats in den USA läge. Tatsächlich war Patricks Schwester Mary Mills Patrick die Gründerin einer amerikanischen Mädchenschule in Konstantinopel, wo sie 35 Jahre lang arbeitete[7] – vor diesem Hintergrund ließe sich daran denken, dass G. T. W. Patrick die Stadt mehrmals und möglicherweise schon vor 1908 besuchte. Eine eventuelle frühere Publikation Patricks, die dann die Quelle für die bislang frühesten bekannten Wiedergaben des Zitats im Jahr 1908 wäre, ließ sich jedoch bislang nicht auffinden.                     
In seiner Introduction to Philosophy (1924) erwähnt Patrick das Zitat ebenfalls in einer Fußnote – dort jedoch scheint es eine Tontafel zu sein, der Verweis auf Naram-Sîn fehlt: „In the Museum at Constantinople the writer was shown an ancient tablet dating from 3800 B.C. Translated, it read. […]“[8]     
In seiner Fassung wird die Inschrift mit dem Alter 3800 v. Chr. angegeben, was immer noch viel zu alt ist. Der Satz über das Schreiben von Büchern fehlt bei dieser Variante. Bemerkenswerterweise wird Naram-Sîn bereits hier mit „Chaldäa“ verbunden, was der Ursprung der deutschen Version sein könnte.     
In dieser Form wurde das Zitat in den folgenden Jahrzehnten auch in zahlreichen anderen Büchern und Zeitungen aufgegriffen und immer wieder abgewandelt; Beispiele siehe bei Quote Investigator. Erstmals 1920 ist eine Version mit drohendem Weltende belegt. Spätestens 2001 wurde eine verkürzte Fassung dem römischen Autor Cicero zugeschrieben.[9]           
Eine Primärquelle ist damit immer noch nicht gefunden. Gab es jemals eine Inschrift des Naram-Sîn mit diesem Inhalt?

Stele des Naram-Sîn von Pir Hüssein, Archäologisches Museum Istanbul
(Wikimedia Commons)

Im Archäologischen Museum Istanbul befindet sich tatsächlich eine Inschrift des Naram-Sîn, die Siegesstele von Pir Hüssein. Ihre Inschrift berichtet jedoch nicht von katastrophalen sozialen Verhältnissen, sondern von seinem Sieg über einen unbekannten Gegner:

„Naram-Sîn, der Starke […] Ea gab ihm zwischen den vier Weltenden keinen Gegner. […] Er [zerstörte] und häufte einen Leichenberg auf. Was den angeht, der diese Inschrift entfernt –mögen Ištar, […] und […] ihn ausreißen und seine Nachkommenschaft zerstören. Mögen sie ihm Erbe und Nachkomme nehmen. [Möge er nicht vor seiner Schutzgottheit gehen.] […]“[10]

Alle bekannten Inschriften des Naram-Sîn sind in Band 2 der Reihe Royal Inscriptions of Mesopotamia – Early Periods (Frayne 1993) editiert – die gesuchte ist jedoch nicht darunter. Aus der altakkadischen Zeit sind nur wenige originäre Inschriften erhalten, jede einzelne von wissenschaftlichem Interesse. Dass es sich bei dem fraglichen Text um eine echte Inschrift Naram-Sîns handelt, ist ausgeschlossen – sonst wäre er in der einschlägigen Literatur zu finden. Allenfalls könnte man in Betracht ziehen, dass ein wesentlich später entstandener Text aus der Schul-, Weisheits- oder Sprichwortliteratur von einem Besucher des Museums fälschlich dem altakkadischen König zugeschrieben wurde.

Doch auch dagegen spricht einiges: In Mesopotamien gab es keine Bücher, sondern Tontafeln. Das Konzept der Autorenschaft spielte keine solche Rolle wie in späteren Zeiten – ein Buch zu schreiben war also kein Zeichen von sozialem Prestige, mit dem man die Hybris von Emporkömmlingen illustriert hätte. Was sollte außerdem mit „Politiker“ gemeint sein? Im antiken Mesopotamien gab es (göttlich legitimierte) Könige, Beamte, eine Oberschicht – aber keine Bevölkerungsgruppe, die man modern als „Politiker“ bezeichnen würde.           
Festzuhalten bleibt, dass das Zitat erstmals 1908 in einer abweichenden englischen Version (kein Weltuntergang, dafür Möchtegernautoren) belegt ist und sich angeblich im Museum von Istanbul befunden haben soll. Wenngleich auch hier die ursprüngliche Quelle nicht festgestellt werden konnte, so ist doch höchstwahrscheinlich davon auszugehen, dass es sich nicht um ein originales mesopotamisches Zitat handelt.

Ein ernüchterndes Fazit

Drei Zitate über eine verkommene Jugend werden alten mesopotamischen Quellen zugeschrieben und zusammen mit anderen. Zusammen mit anderen, teils falschen Zitaten selben Inhalts aus allen Epochen werden sie im Internet und populären Sachbüchern verbreitet – die Zahl der Kopien ist Legion. Doch obwohl so häufig zitiert, findet sich für keines der Zitate eine Primärquelle – mehr noch, es spricht einiges gegen eine mesopotamische Provenienz:

  • Zitat 1 wird in der häufig mitzitierten Publikation dem Alten Ägypten zugeschrieben – auch dort ohne Beleg. Die angebliche Zeitangabe ist haltlos.
  • Zitat 2 wird ebenfalls mit einer nicht aussagekräftigen Literaturangabe verbreitet, enthält einen Anachronismus („Kultur“) und zeigt Ähnlichkeit zu einem ebenfalls falschen Aristoteles-Zitat.
  • Zitat 3 lässt sich in diversen Varianten bis 1908 zurückverfolgen. Der Teil mit dem Ende der Welt kam erst später hinzu, dafür enthielt die frühe Fassung einen ebenso sinnfreien Hinweis auf Bücher. Der angebliche Ursprung (Inschrift Naram-Sîns in Konstantinopel) wie auch die verschiedenen Datierungen sind unhaltbar.

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dürfte keines der drei Zitate auf eine reale Primärquelle zurückgehen. Falls dem Leser doch eine solche – ob aus dem antiken Mesopotamien oder anderswo – bekannt sein sollte, so bitte ich um Benachrichtigung (Kontakt: horasia@inselmann.net).

Freilich sind die drei untersuchten Zitate kein Einzelfall – falsch zugeschriebene Zitate haben sich längst zu einem etablierten Teil der Internetkultur entwickelt. Doch weshalb gerade Mesopotamien?        
Bibel, antike Historiographie, Forschungsgeschichte, Lehrpläne und modernes Lehrbuchwissen haben eine „kanonische“ Abfolge der Kulturen der (westlichen) Weltgeschichte geprägt, in der die Völker des Zweistromlandes (Sumerer, Babylonier und Assyrer) traditionell den ersten Platz einnehmen. Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, eine Sammlung von Zitaten „der“ Weltgeschichte mit Mesopotamien zu beginnen und anschließend mit den Griechen und Römern fortzufahren, bevor man sich mit dem christlichen Europa Richtung Neuzeit begibt.

In der Kommentarspalte einer der Zitatsammlungen wurde auf die Falschheit mehrerer Zitate aufmerksam gemacht – was der Autor mit der bezeichnenden Offenbarung beantwortete:

„Unerheblich dessen, das [sic!] mehrere Quellen das Zitat anführen (ob nun richtig oder falsch bzw. erfunden) und es deswegen in meinen Beitrag aufgenommen wurde, bearbeitet mein Beitrag beispielhaft eine Grundhaltung zu Jugendlichen. So bedeuten „mir“ die Zitate nicht wirklich viel, sie sind aber eben Ausdruck einer Haltung.“[11]

Oder kurzgefasst: Die Wahrheit einer Aussage sei irrelevant, solange diese die eigene Position bestätigt.         
Sicher ist etwas Wahres daran, dass manche Narrative und Verhaltensweisen sich in jeder Generation aufs Neue wiederholen. Und was könnte besser den scheinbar (und wahrscheinlich tatsächlich) ewigen Konflikt zwischen Jung und Alt illustrieren als eine Zitatesammlung quer durch die Jahrtausende?  
So ist es nur umso trauriger, dass, um dies auf anschauliche Weise zu verdeutlichen, ausgerechnet gefälschte Zitate verwendet werden müssen. Dabei bieten die tatsächlichen Quellen doch durchaus einen reichen Fundus an unterhaltsamen Texten.

Die echten Quellen

Der Konflikt zwischen Jung und Alt war auch den alten Mesopotamiern nicht fremd. Mehrere Texte der sogenannten E-dub-ba-a-Literatur thematisieren die hohen Erwartungen, die an Schreiberschüler gestellt wurden: Fleiß, Moral und Gewissenhaftigkeit werden eingefordert und gerne auch mit guten Vorbildern illustriert – was ebenso darauf schließen lässt, dass diese Tugenden nicht allen Schülern im gewünschten Maße zu eigen waren. Selbst die junge Ehefrau des Kronprinzen und späteren assyrischen Königs Assurbanipal musste in einem erhaltenen Brief von ihrer Schwägerin ermahnt werden: „Warum schreibst du deine Tafel nicht und rezitierst nicht deine Schultafel?“[12]      
Immerhin in einem Fall kann der bösartige Lehrer, der mit den Leistungen des Schülers nie zufrieden ist, auf pragmatische Weise besänftigt werden: Nachdem er vom Vater des Jungen zum Essen eingeladen und reich beschenkt wurde, vermag er plötzlich nur noch Positives über den Jungen zu berichten.[13] Obwohl ansonsten eine zutiefst hierarchische und konservative Gesellschaft, scheinen auch die alten Mesopotamier gelegentlich mit Spott und Ironie auf die Verächter der Jugend geblickt zu haben.       
Ein ganz anderer Fall dagegen ist jener Text, der in der Forschung konventionell als Der Vater und sein missratener Sohn bezeichnet wird. In drastischen Worten schimpft hier der Vater über die Faulheit seines Sohnes und hält ihm vor, er habe nie hart arbeiten müssen und sei ja auch nicht (genug) geschlagen worden. Zum Schluss gar eskalisiert die Tirade in einem Crescendo der Beleidigungen:

139 Du bist auf immer ein Faulpelz,
140 Vorzüglich hast du deine Erklärungen reichlich gemacht!      
141 Weil ich nicht immer wieder . . . geschlagen habe, 142 weil ich nicht immer wieder . . . verprügelt habe, 143 warum werde ich wegen der Tatsache, daß du (jetzt deine Sache) schlecht gemacht hast, dich dafür verantwortlich rechnen?          
144 Was ist jetzt zu tun? 145 Wenn ich dich (auch noch so sehr) gerne habe, 146 siehst du (trotzdem) keineswegs ein, was ich in dieser Beziehung (für dich alles) getan habe!«
147 »Verrückter, Lügner, .. ., falscher Mensch, 148 Lügner, Räuber, der in Häuser einbricht, 149 Gehässiger, stinkender Mensch, 150 dummer Barbar, Ekstatiker, 151 der dauernd auf das Kinn sabbert, Verkommener, 152 . . ., Krüppel, 153 der bösen Geruch hervorbringt, bösen Stank produziert, 154 stinkendes Öl, stinkender Mensch, 155 der bösen Geruch hervorbringt, Beschmutzter, 156 . . ., . . ., er stinkt, 157 stinkende Milch, stinkender Arsch – er stinkt, er kann stinken, 158 Hund, der, mit dem Kopf an den Boden gedrückt, schnüffelt, Lügner!     
159 Ein Gendarm, der (es) so wie du macht, läuft (wenigstens noch) wegen seiner Verköstigung in den Straßen herum!          
160 Mensch, der nicht essen kann, schlechter Mensch, 161 Hund, der sein Glied mit der Zunge ableckt, 162 Esel, der selbst sein Lager(stroh) immer wieder auffrißt […]“[14]

Auch die alten Babylonier waren offensichtlich alles andere als nachsichtig bei der Beurteilung ihres Nachwuchses (auch wenn es sich in diesem Fall um einen eher satirischen Text handelt). Allein: Die Kritik in den Originaltexten zielt stets auf einzelne Personen. Eine Verdammung der ganzen Jugend ohne Unterschied, wie sie in den falschen Zitatesammlungen zu Tage tritt und allzu gut zum heutigen Stammtischpopulismus passt, ist den antiken Quellen, soweit sie erhalten sind, fremd.

Quellen

Goodstein, L. D. 1991: The Iowa Department of Psychology and the American Psychological Association: A Historical Analysis, in: J. H. Cantor (Hg.), Psychology at Iowa: Centennial Essays, Hillsdale, 51–60.

Erman, A. 1923: Die Literatur der Ägypter, Leipzig.

Erman, A. 1923a. Ägypten und ägyptisches Leben im Altertum, Tübingen.

Frayne, D. 1993: Sargonic and Gutian Periods (2334–2113 BC). The Royal Inscriptions of Mesopotamia – Early Periods 2, Toronto.

Keller, G. 1989: Das Klagelied vom schlechten Schüler. Eine aufschlußreiche Geschichte der Schulprobleme, Heidelberg.

Lenhard, W. 2022: Erleben, Lernen und Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Wie Schule mit Auffälligkeiten umgehen kann, Stuttgart.

Patrick, G. T. W. 1913: The New Optimism. The Popular Science Monthly 82, New York, 492–503.

Patrick, G. T. W. 1924: Introduction to Philosophy, London.

Römer, W. P. 1990: »Weisheitstexte« und Texte mit Bezug auf den Schulbetrieb in sumerischer Sprache, in: O. Kaiser (Hg.), Weisheitstexte, Mythen und Epen. Weisheitstexte I. Texte aus der Umwelt des Alten Testaments Band III, Gütersloh, 17–109.

Quote Investigator: Ancient Tablet: The World is Speedily Coming to an End. Everyone Wants to Write a Book

Watzlawick, P. / Weakland, J. H. / Fisch, R. 20138 (11974): Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels, Bern.


[1] Zitatforschung 2017: “Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.” Aristoteles (angeblich)
ebd.: “Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren …” Sokrates (angeblich)

[2] Lenhard 2022, 16.

[3] Keller 1989, 24.

[4] League of American Wheelmen 1908: August, Bassett’s Scrap Book: Scraps of History, Fact and Humor 6/6, 84: „The ”good old times” seemed as bad to the “good-old-timers” as the present times seem to the modern man, as shown by the following translation of an inscription on a tablet in the Imperial Museum at Constantinople, Turkey : —
Naram Sin. 5000 B. C.
We have fallen upon evil times, the world has waxed old and wicked. Politics are very corrupt. Children are no longer respectful to their elders. Each man wants to make himself conspicuous and write a book.“

[5] Patrick 1913, 493.

[6] Zitiert bei Quote Investigator, Nr. 7.

[7] Goodstein 1991, 51.

[8] Patrick 1924, 417.

[9] Quote Investigator 2012: Ancient Tablet: The World is Speedily Coming to an End. Everyone Wants to Write a Book.

Siehe auch Diskussion bei skeptics.stackexchange.com: Was this quote on a clay tablet about unruly kids written by an Assyrian?

[10] Übersetzung LI nach RIME 2.1.4.24 (Frayne 1993, 128 f).

[11] https://bildungswissenschaftler.de/5000-jahre-kritik-an-jugendlichen-eine-sichere-konstante-in-der-gesellschaft-und-arbeitswelt/ (aufgeruf. 20.04.2022)

[12] SAA 16 028, 3 f (Üs. LI).

[13] Sog. E-dub-ba-a A / „Sohn des Tafelhauses“. Übersetzung siehe z.B. bei Volk, K. 2015: Aus dem Leben eines Schülers der altbabylonischen Zeit, in: ders. (Hg.), Erzählungen aus dem Land Sumer, Wiesbaden, 101–107.

[14] Römer 1990, 87–89.