Trieben Steinzeitjäger Pferde über Klippen?

Eine Horde von Steinzeitmenschen, in Felle gehüllt, setzt einer Herde Wildpferde nach. Mit Speeren, Fackeln und Geschrei treiben sie die panischen Tiere vorwärts, bis an den Rand einer Klippe. In ihrem Galopp vermögen sie nicht mehr innezuhalten und stürzen in die Tiefe, in den unvermeidlichen Tod. Für die Menschen ein Erfolg – die Mahlzeiten der nächsten Wochen sind gesichert.       
Diese Szene, hier emblematisch in Szene gesetzt durch ein Gemälde des großen Paläo-Künstlers Zdeněk Burian, wird fast ein jeder bereits gesehen haben – ob in bebilderten Sachbüchern, Urzeit-Dokus oder alten Steinzeit-Spielfilmen. Das Bild von Steinzeitmenschen, die Pferde jagen, indem sie diese über einen Abhang treiben, gehört zweifellos zu den wirkmächtigsten Narrativen der populären Steinzeit-Rezeption. Dabei müssen es nicht immer Pferde sein: So zeigt etwa die BBC-Dokumentation Erben der Saurier (Ep. 6: Ein Mammut-Unternehmen), wie eiszeitliche Jäger eine Herde von Mammuts über eine Klippe treiben. Doch hat es sich jemals so zugetragen? Basiert das Motiv der Abgrundjagd tatsächlich auf archäologischer Evidenz ‒ oder vielmehr auf der Fantasie der Filmemacher und Paläo-Künstler?

Der Ursprung

Der Ort, der den Mythos von der Pferdejagd inspirierte, ist der Roche de Solutré in Frankreich. Weithin sichtbar dominiert der langgezogene Fels die Landschaft nahe der Ortschaft Solutré-Pouilly im Département Saône-et-Loire. 
Bereits 1866 wurden durch den Historiker Adrien Arcelin und den Geologen Henry de Ferry erste steinzeitliche Funde am Roche de Solutré gemacht. Unter anderem kamen bei den Ausgrabungen in einer altsteinzeitlichen Schicht zahlreiche Knochen von Tieren zutage, die offenbar von den Menschen des Eiszeitalters erlegt worden waren. Pferde machen hierbei rund 94 % der Faunenreste aus. Nach einer Erhebung Stand 1989 handelte es sich um die Überreste von mindestens 83 Tieren, wobei nur ein Bruchteil der mutmaßlichen Ausdehnung der Fundstelle überhaupt ausgegraben wurde.

Der Roche de Solutré (Foto LI)

Als einer der bedeutendsten paläolithischen Fundplätze wurde der Roche de Solutré schon drei Jahre nach der Entdeckung namensgebend für die Kulturstufe des Solutréen. Diese Epoche, die etwa von 21.000‒15.000 v. Chr. dauerte, bildete als „letztes Kältemaximum“ den kältesten Abschnitt der letzten Eiszeit. Der Neandertaler war zu jener Zeit längst vom modernen Menschen (Homo sapiens) verdrängt worden, der zeitgleich mit einer typischen Kaltzeitfauna wie Mammuts und Rentieren lebte. Typisch für das Solutréen sind vor allem sehr große, flächig bearbeitete Feuersteinklingen, sogenannte Blattspitzen. Bis in die jüngste Vergangenheit fanden am Roche de Solutré immer wieder archäologische Ausgrabungen statt, die auch Funde aus weiteren Zeitstufen des Mittel- und Jungpaläolithikums vom Mousterién bis Magdalenién zutage förderten.       
Von einer Abgrundjagd war in den ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Fundplatz Solutrée-Pouilly zunächst noch keine Rede. Diese tauchte erstmals 1872 in dem Roman Solutré ou les chasseurs de rennes de la France centrale („Solutré oder die Rentierjäger Zentralfrankreichs“) auf, den der Ausgräber Arcelin unter dem Pseudonym Adrien Cranile verfasste. Die Rekonstruktion des Jagdgeschehens basierte hierbei maßgeblich auf dem ethnographischen Vergleich mit der Bisonjagd, wie sie von Ureinwohnern Nordamerikas bezeugt ist. Von jenem Roman aus verbreitete sich die Darstellung in populären Darstellungen der Altsteinzeit und wurde bereits im 19. Jahrhundert zu einem der beliebtesten Motive der Paläo-Kunst.

Die Pferde von Solutré stürzen in den Tod.
Illustration zum Buch L’Homme primitive von Louis Figuier, 1876 (Wikimedia Commons)

Stimmt es?

Pferdeknochen in Fundlage im Museum von Solutré-Pouilly (Foto LI).

Entgegen der ungebrochenen Beliebtheit des Sujets in der Kunst spielt die These der Abgrundjagd in der heutigen Forschung keine Rolle mehr. Tatsächlich entspricht sie weder dem bekannten Verhalten von Pferdeartigen, noch hält sie einem Abgleich mit den archäologischen Funden stand.      
Im Gegensatz zu nordamerikanischen Bisons, die große Herden bilden und sich über die Hänge flacher Plateaus treiben lassen, bilden Wildpferde deutlich kleinere Gruppen. Es scheint unrealistisch, eine solche Familiengruppe von Pferden aus dem flachen Land über den steinigen Abhang bis hinauf auf den schmalen Felsen von Solutré zu treiben – zumal Hengste dazu tendieren, ihre Harems gegen Raubtiere oder Jäger zu verteidigen.[1]  
Tatsächlich wurden trotz intensiver Untersuchungen keinerlei Pferdeknochen direkt unter der westlichen Felshang gefunden, wo die Tiere nach einem Sturz aus der Höhe hätten aufschlagen müssen.[2] Die eigentliche killing site befindet sich rund 100 m entfernt von der steilen Klippe an der Südseite des Felsmassivs.[3] Anhand der Vollständigkeit und Verteilung der Knochen ist davon auszugehen, dass die Tiere nicht über eine größere Strecke bewegt, sondern vor Ort getötet und geschlachtet worden sind. Ansonsten, sollte man meinen, hätten die Jäger die Tiere grob schon am Ort der Tötung zerteilt und die schwersten Knochen und fleischarme Stücke zurückgelassen, anstatt komplette Kadaver bis ins Jagdlager zu schleppen und erst dort auszunehmen.[4]            
Die südliche Seite des Felsens dagegen eignet sich nicht für eine Abgrundjagd, da diese weit weniger steil ist und die hypothetischen Jäger ihre Beute in einer scharfen Linkskurve zur Seite hätten treiben müssen, anstatt sie weiter geradeaus zum steilen westlichen Abhang zu hetzen.[5]

Pferdeskelett im Museum von Solutré-Pouilly (Foto LI).

Auch die Faunenreste selbst stützen die Hypothese einer Abgrundjagd nicht: In diesem Fall wären umfangreichen Knochenbrüche durch den tödlichen Sturz zu erwarten. Auch wenn sich solche nicht ganz sicher von postmortalen Frakturen (etwa durch Aasfresser oder das Aufbrechen zum Erreichen des Knochenmarks) unterscheiden lassen, so sind derartige Brüche unter den gefundenen Knochen doch insgesamt sehr selten.[6]     
Die These der Abgrundjagd ist vor diesem Hintergrund nicht mehr haltbar und wird in der modernen Forschung längst nicht mehr vertreten. Im Falle der Fundstelle Solutré-Pouilly wird mittlerweile vielmehr davon ausgegangen, dass saisonal vorbeiziehende Pferdegruppen in den engen Felsschluchten an den Seiten des Berges in die Enge getrieben und dort mit Speeren getötet wurden. Ob die Praxis einer Abgrundjagd für Pferde oder andere Tiere an anderen Orten in der Altsteinzeit jemals Anwendung fand, lässt sich zwar prinzipiell nicht ausschließen, aktuell aber ebenso wenig belegen. Das Bild von Pferdeherden, die von steinzeitlichen Jägern dramatisch über den Rand einer Felsklippe gehetzt werden, ist damit als wissenschaftlicher Mythos identifiziert, der auf einen Roman des 19. Jahrhunderts zurückgeht.

Der steile Westhang des Roche de Solutré (Foto LI) – hier wurden keine Überreste von Pferden gefunden.

Quellen

Hominides.com: Musée Départemental de Préhistoire de Solutré

Old Stone Age: Solutré (Überblick zu Funden und Forschungsgeschichte am Roche de Solutré)

Olsen, S. L. 1989: Solutré: A theoretical approach to the reconstruction of Upper Palaeolithic hunting strategies. Journal of Human Evolution 18, 295‒327.

Poplin, F. 1990: Le Grand saut des chevaux de Solutré. L’Homme CNRS 30/116,‎ 137–142.

Wikipedia (fr.): Cheval de Solutré (mit weiteren Literaturverweisen)


[1] Olsen 1989, 317.

[2] Olsen 1989, 318: „All of the artistic recreations of the event show the horses falling off the steep precipice at the western end of the Roche de Solutré. Despite intensive surveys of the area directly below, no horse remains or stone tools have been found at this location. Instead, the site is located quite some distance away on the southern talus, beneath a more gradual slope”.

[3] Poplin 1990, 139.

[4] Olsen 1989, 305.

[5] Olsen 1989, 319.

[6] Olsen 1989, 320: „If horses were repeatedly driven off the cliff to their death on the rocks below, it is expected that bone fractures would occur with great frequency. There is a problem, however, in distinguishing between fractures from trauma (Rooney, 1969) and post-mortem breakage resulting from processes such as trampling (Haynes, 1983),carnivore gnawing, or marrow extraction by humans. Green bone fractures appear to be fairly unusual at Solutré, regardless of their cause.”