Das „Buch Mormon“ und andere Schriften der Mormonen: Außerbiblische, altjüdische Quellen?

Joseph Smith erhält die goldenen Platten von dem Engel Moroni auf dem Hügel Cumorah.
Gemälde von C.C.A. Christensen (Wikipedia Commons).

Eine der erstaunlichsten Religionsgründungen der Neuzeit war die Schaffung des Mormonentums durch Joseph Smith. Er wollte zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine amerikanische Bibel entdeckt haben, ein von aus Israel zu alttestamentlichen Zeiten nach Amerika ausgewanderten Juden geschriebenes Geschichtsbuch. Daneben übersetzte er altägyptische Papyri und erhielt ‒ nach eigenen Angaben ‒ zahllose göttliche Eingaben und Visionen. Eine Religion ist aufgrund ihrer Definition nie überprüfbar, weil es sich um eine Angelegenheit des Glaubens handelt. Wie aber steht es mit der Behauptung von Autoren wie Erich von Däniken und Johannes Fiebag, die von Smith veröffentlichten „Heiligen Schriften“ seien ein Hinweis für vorgeschichtliche Besuche von fremden Astronauten?

Um die Geschichte des „Buches Mormon“ und Joseph Smiths zu begreifen, muss man tief in das mythologische Bild eindringen, das sich die europäischen Besiedler Amerikas von den dortigen Ureinwohnern machten. Als die Einwanderer auf die Indianer trafen, da entspann sich eine Debatte: Handelte es sich bei diesen Menschen um Nachfahren Adams, hatten sie also eine Seele, oder waren sie speziell für Amerika geschaffen worden, hatten sie also keine Seele und waren wie Tiere zu behandeln?     
Der Missionswille entschied zugunsten der indianischen Seele. Da damals noch an die wörtliche Korrektheit der Bibel geglaubt wurde, konnte man nur annehmen, dass die Indianer Nachfahren der Juden waren. Bereits 1535 vermutete Fernandez de Oviedo, die Indianer seien Nachfahren Noahs, 1567 schrieb der niederländische Theologe Johannes Fredericus Lumnius, die Indianer stammten von den 721 v. Chr. verbannten Juden ab.[1]     
Als Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts die großen Pyramidenstädte der Moundbuilders in Nordamerika entdeckt wurden, diktierte der Rassedünkel, dass diese nicht das Werk der „wilden Indianer“ sein könnten.[2] Weiße Siedler schrieben Romane und verfassten Traktate, in denen sie „bewiesen“, dass die Pyramiden des Ohio tatsächlich von Alexander dem Großen oder einem der verlorenen Stämme Israels errichtet worden seien. Der Indianerkenner Fagan[3] spricht von „Dutzenden literarischer Fantasieprodukte“.

Joseph Smith Jr., Gemälde um 1842 (Wikimedia Commons)

In diese Zeit fällt auch die Glaubenskrise des Joseph Smith. In seinen autobiographischen Notizen[4] spricht Smith davon, wie er ob der Religionsvielfalt in Amerika von tiefen Zweifeln erfasst worden sei, welche Konfession nun das „richtige Christentum“ darstelle. Da sei ihm der Engel Moroni erschienen. Dieser Engel habe ihn über irgendwo vergrabene Goldplatten informiert, in denen Berichte über die jüdischen Vorfahren der Indianer verzeichnet seien. Bei weiteren Erscheinungen habe ihm der Engel Moroni genaue Angaben über den Lageort dieses auf Goldplatten gravierten „Buches Mormon“ gemacht. Er habe die Goldplatten gefunden, mit göttlicher Hilfe übersetzt und den Inhalt mehreren Schreibern diktiert. 1830 veröffentlichte Smith die Übersetzung als „Buch Mormon“.    
Nach Smiths Angaben war das Buch in „reformierten altägyptischen Schriftzeichen“ auf große Goldplatten geschrieben. Glücklicherweise hat uns Joseph Smith ein Faksimile dieser Schriftzeichen überliefert, so dass seine Aussagen hier nachprüfbar sind. Ansonsten erzählt das „Buch Mormon“ von verschiedenen unabhängigen Auswandererwellen aus Israel nach Amerika, von denen eine 2280, eine andere 600 v. Chr. stattgefunden habe. Bereits 559 v. Chr. prophezeit der Prophet Jakob ‒ zumindest im 1830 gedruckten „Buch Mormon“ ‒ das Kommen Christi (2. Nephi 10:3); 575 werden, folgt man dem Buch, nach einem Streit Nephis mit seinen Brüdern die Rebellen mit „dunkler Hautfarbe“ gestraft. So seien die Indianer entstanden (2. Nephi 5). 33 n. Chr. sei Jesus der in Amerika bereits existierenden christlichen Kirche erschienen, später wären in einem großen Kampf die Christen Amerikas von den ungläubigen dunklen Indianern im Staate New York niedergemetzelt und das „Buch Mormon“ in einer Steinkiste versteckt worden. Im „Buch Mormon“ werden zahlreiche Wunder und Lichterscheinungen erwähnt, einmal wird davon berichtet, dass Gott den ausreisewilligen Juden den Plan eines U-Bootes überreicht und sie mit einem Kompass ausgestattet habe!
Wenn wir zusätzlich erfahren, Joseph Smith habe in einer weiteren Übersetzung, dem „Buch Abraham“, entdeckt, dass der Gott der Mormonen einmal ein Mensch war, der aufgrund seines enormen Wissens und Könnens erst in den Rang eines Gottes aufgestiegen sei, der heute auf dem Planeten Kolob im Planetensystem Kokaubeam lebe[5], dann verstehen wir, warum das „Buch Mormon“ und die Offenbarungen des Joseph Smith so attraktiv für die Prä-Astronautiker, die Anhänger Erich von Dänikens, sind.

Behauptungen der Prä-Astronautiker

Erich von Däniken[6] selbst hat das „Buch Mormon“ als Geschichtsquelle benutzt, um zu zeigen, dass die dort erwähnten jüdischen Amerikasiedler im Auftrag von Außerirdischen den Tempel von Chavín de Huantar erbaut hätten, zu dem später Hesekiel von den Extraterrestriern geflogen worden sei. Zwar macht es stutzig, dass das bereits die dritte Lokalisierung des „außerirdischen Tempels“ ist, denn Däniken will ihn auch in Kaschmir gefunden haben oder fasst ihn als extraterrestrische Tankstelle auf, doch sehen wir über solche für ihn nicht untypischen Widersprüche erst einmal hinweg. Däniken schreibt über das „Buch Mormon“: „Der Inhalt der Übersetzung spricht dafür … daß Smith tatsächlich eine Zeitlang im Besitz der gravierten Platten gewesen ist. … Er schließt eine totale Fälschung aus, während mir eine teilweise Fälschung sicher zu sein scheint“. Seiner Ansicht nach wurden die Übersetzungen ergänzt „um Hinzufügungen von Prophezeiungen auf Jesus (die sicherlich im Urtext nicht standen) und um eine Art von Fortsetzung der biblischen Geschichte, angepasst dem christlichen Glauben der amerikanischen Gesellschaft um die Mitte des vorigen Jahrhunderts“. Däniken[7] weist auch darauf hin, dass immerhin 11 Zeugen beschworen, die Goldplatten des „Buches Mormon“ gesehen zu haben. Nach Dänikens Buch „Falsch informiert!“[8] stimmen die Erzählungen des Buches sogar mit sumerischen und babylonischen Mythen überein, die Smith noch nicht kennen konnte.
Johannes Fiebag[9] ist weniger skeptisch und vermutet keine Verfälschung des Urtextes. Er geht davon aus, dass der Engel Moroni in Wirklichkeit ein Außerirdischer gewesen sei. Und das „Buch Mormon“ ist für ihn „ein Rätsel“: „Es ist nahezu unmöglich, daß ein ungebildeter Farmerssohn ein so umfangreiches, in sich logisches, konzeptionell einwandfreies und zudem dem biblischen Weltverständnis kongruentes Werk einfach ‚erfindet‘“ [10]. Den letzten Punkt können wir gleich aus dem Weg räumen: Smith hatte wenig Ahnung vom Judentum, und so weicht das „Buch Mormon“ entgegen Fiebags kühner Behauptung „völlig von der Bibel ab“[11]. Jüdische Bräuche und Sitten, wie sie im Alten Testament beschrieben werden, tauchen im „Buch Mormon“ erst gar nicht auf. Die Juden Amerikas warteten ‒ glaubt man dem Text ‒ schon gleich nach ihrer Ankunft in den USA auf das Kommen Christi.        
Thomas Ritter[12], ein weiterer Prä-Astronautiker, geht wiederum einen Schritt weiter: Da man zu Smiths Zeit weder ägyptische Hieroglyphen noch „sumerische Keilschrift“ lesen konnte, müsse Smith für seine Übersetzung tatsächlich außerirdische Hilfe gehabt haben ‒ wir wundern uns nur, denn mit sumerischer Keilschrift haben die „reformierten ägyptischen Schriftzeichen“ nicht das mindeste zu tun!       
Thomas Riemer[13] kümmert sich um die Debatte dann letztlich überhaupt nicht. In einem Buch, in dem er antike Überlieferungen so zurechtdeutet, dass sie plötzlich von Fluggeräten erzählen, nimmt er das „Buch Mormon“ einfach als authentische Quelle für, hebräische Wörter! Ein Wörterbuch wäre vielleicht exakter gewesen. Zudem soll das „Buch Mormon“ ja in ägyptischer Sprache mit ägyptischen Schriftzeichen verfasst gewesen sein ‒ kaum eine Quelle für Hebräisch.       
Und Ulrich Dopatka[14] beruft sich nicht einmal auf die von Joseph Smith „übersetzten“ alten Schriften, sondern gleich auf eine Vision, die Smith 1830 als „Buch Mose“ niederschrieb. Dopatka behauptet, Moses habe von vielen bewohnten Planeten berichtet! Es war jedoch nicht Moses, sondern Smith, der den Text geschrieben hat.

Das „Buch Mormon“

Was ist nun dran an der Behauptung, das „Buch Mormon“ sei eine authentische Quelle altjüdischer Kultur im präkolumbianischen Amerika? Zum ersten muss festgestellt werden, dass die Behauptungen, Smith habe die Romane von Ethan Smith („View of the Hebrews“, 1823) oder von Salomon Spaulding (1809‒1816) plagiiert, unbewiesen sind.[15] Doch auch ohne ein direktes Plagiat war, wie Fagan[16] gezeigt hat, die Idee, die Indianer seien jüdische Auswanderer gewesen, gerade zu der Zeit in aller Munde, als Smith das „Buch Mormon“ (vermutlich in Trance) diktierte.      
Zum anderen enthält das „Buch Mormon“ zahlreiche zeittypische Ideen, die im Judentum nicht zu finden waren, unter anderem das rassistische Ressentiment, die Indianer seien minderwertig (2. Nephi 5:21) oder die zahllosen Ankündigungen der Wiederkehr Christi Hunderte von Jahren vor dessen Geburt. Erstaunen muss auch die Behauptung des „Buchs Mormon“ (1. Nephi 18:25; Enos 21; Alma 18:9‘; Alma 20: 6; Ether 9:19), die Indianer hätten ab 589 v. Chr. Pferde gezüchtet und Pferdekutschen besessen!

Goldene Platten, Urim und Thummim, Schwert des Laban und Liahoma – die heiligen Gegenstände der Mormonen. Künstlerische Rekonstruktion, 21. Jh. (Wikimedia Commons).

Im Gegensatz zur Bibel gibt es im „Buch Mormon“ nur Chroniken, keine Poesie, keine Epik, und der Stil ist höchstens mittelmäßig. „Einige tausend Mal“ allein kommt im Text die Redewendung „and it came to pass“ vor, die die deutsche Übersetzung gnädigerweise auslässt.[17] (die neue Version von 1981 enthält die Redewendung wieder). Die Bibel wurde von brillanten Autoren verfasst, das „Buch Mormon“ ist, so der Spötter Mark Twain, im Gegensatz dazu „gedrucktes Morphium“. 
Manchmal (ging da Smith die göttliche Inspiration aus?) werden ganze Passagen der Bibel einfach übernommen ‒ so Jesaja 2-14 in 2. Nephi 12‒24; Jesaja 48 und 49 in 1. Nephi 20 und 21; Maleachi 3 und 4 in 3. Nephi 24‒25; Jesaja 54 in 3. Nephi 22 und Matthäus 5‒7 in 3. Nephi 12‒14. Diese Auswahl ist unglücklich: Maleachi entstand um 465 v. Chr.[18], Jesaja 49 in der Exilszeit (590‒540 v. Chr) und Jesaja 48 in der nachexilischen Zeit (540‒400 v. Chr.) ‒ alle lange nach dem an-geblichen Exodus der Juden nach Amerika[19]. Vom Matthäus-Evangelium ganz zu schweigen.       
Die Zeugen, die schriftlich bestätigten, sie hätten die Goldplatten „gesehen“, sind kein wirklicher Beweis. Gefragt danach, ob die Goldplatten so ausgesehen hätten, wie Smith sie beschrieb, erklärte einer der Zeugen, er habe sie nicht mit den Augen gesehen, sondern mit der Kraft seines Glaubens![20]        
Zudem sind die „reformierten bzw. verbesserten ägyptischen Shriftzeichen“, die Smith (abgedruckt in[21] als Faksimile abbildet und die mehrmals im „Buch Mormon“ (Mosiah 1:4; 1. Nephi 1:2; Mormon 9:32) erwähnt werden, eine Erfindung. Sie ähneln keiner der drei bekannten altägyptischen Schriftarten ‒ und keiner anderen antiken Schrift der Welt. Smiths Behauptung, (ungenannte) Wissenschaftler hätten die Schriftzeichen positiv als ägyptisch identifiziert, kann die moderne Ägyptologie nicht bestätigen. Trotzdem führt Däniken[22] diese unbewiesene Behauptung von Smith als Beweis für die Echtheit des „Buches Mormon“ auf! Es sollte auch festgestellt werden, dass entgegen den Aussagen des „Buchs Mormon“, die Juden hätten in ägyptischen Schriftzeichen und ägyptischer Sprache geschrieben, die Bücher der Bibel alle entweder in Hebräisch, Aramäisch oder Griechisch verfasst wurden.[23]       
Merkwürdigerweise enthält das „Buch Mormon“ immer wieder Voraussagen für die Zeit um 1830, so über gestohlene Seiten der Übersetzung (siehe unten) sowie über Verpflichtungen der Anhänger Smiths. Für Mormonen sind diese Hinweise auf 1830 (Ether 5: 2-4; Worte Mor-mons 3-10; 2. Nephi 11: 3; 27: 12; 28: 19-23) ein Beleg dafür, dass Smith im „Buch Mormon“ vorhergesehen wurde, einen nüchternen Beobachter aber müssen sie nachdenklich stimmen. Die „Übersetzung“ diktierte Smith ‒ wie viele Medien ‒ aus einem durch Vorhang abgeteilten Kämmerchen seinen Schreibern, während er die angeblichen Goldplatten durch zwei Steine betrachtete, die von Gott stammen sollten und als eine Art Übersetzerbrille gewirkt hätten. Diese Übersetzersteine hatte er ‒ entgegen seinem eigenen Bericht ‒ nach-weislich schon vor der ersten Vision. In seinem Leben vor der „Entdeckung“ des „Buchs Mormon“ war Smith bereits von einem Ortsgericht als „Betrüger“ verurteilt worden, weil er behauptet hatte, „er könne vergrabenes Gold durch ,Sehersteine‘ finden“.[24] Er war zudem vor seiner Prophetenlaufbahn als „Geisterbeschwörer und Wünschelrutengänger“ aufgetreten [12, S. 289], so dass seine späteren archäologischen und visionären „Großtaten“ bereits vor der Glaubenskrise vorhanden waren. Das bedeutet nicht, dass Smith seine Visionen nicht selbst als real erlebt hätte ‒ aber es lässt die Version der Prä-Astronautiker bezweifeln, dass hier ein durch und durch glaubwürdiger Zeuge vorliege. Sollte es noch eines weiteren Belegs dafür bedürfen, dass weder ein Gott noch ein Außerirdischer bei der Erstellung des „Buches Mormon“ im Spiel war, spricht folgende Episode Bände: 1828 diktierte Smith seinem Vertrauten Martin Harris das „Buch Mormon“. Harris war offenbar ein kritischer Freund, denn er entwendete 116 Seiten Diktat und bat Smith, sie erneut zu übersetzen. Das war ein simpler Test, der ‒ bei Übereinstimmung beider Versionen ‒ die Echtheit der „amerikanischen Bibel“ bewiesen hätte. Doch offenbar waren weder Smith noch sein Gott dazu fähig, die gleichen 116 Seiten ein zweites Mal aus dem Altägyptischen zu übersetzen. In einer Vision habe Gott ihm mitgeteilt, so Smith, die fehlenden 116 Seiten seien von Harris und anderen im Auftrag des Teufels verfälscht worden, so dass auch eine zweite Übersetzung nicht zum Beweis tauge. „Siehe, ich sage dir: Du sollst die Worte, die dir abhanden gekommen sind, nicht noch einmal übersetzen“, gibt Smith als Gottes Wort während einer Vision im Sommer 1828 an (die Offenbarung ist als Abschnitt 10 ‒ hier gebe ich Vers 30 wieder ‒ in den „Lehren und Bündnissen“, einem heiligen Buch der Mormonen, abgedruckt. Abschnitt 3 der „Lehre und Bündnisse“ bezieht sich ebenfalls auf diesen Raub). Ohnehin, so Gott laut Smith, seien die fehlenden 116 Seiten in einer noch unübersetzen Goldtafel zusammengefasst, von dort solle der Text dann ins fertige „Buch Mormon“ aufgenommen werden. Smith suchte sich einen anderen Schreiber, Oliver Cowdery, der ihn dann nicht mehr auf die Probe stellte [25]. Es sollte aber festgestellt werden, dass Harris nach wie vor zu den „drei Zeugen“ gehört, die in jedem „Buch Mormon“ als Zeugen für die Echtheit der Goldtafeln aufgeführt werden. Harris hat übrigens Smiths Erklärung akzeptiert.

Das „Buch Abraham“

Hätte Joseph Smith nur das „Buch Mormon“ übersetzt, wären wir auf Indizienbeweise angewiesen. Doch Smith (der sich wohl nicht vorstellen konnte, dass Wissenschaftler die Hieroglyphen entziffern würden) hat noch weitere Übersetzungsarbeit geleistet. In dem mormonischen Buch „Die Köstliche Perle“ finden wir das „Buch Abraham“. Smith hat es aus einem ägyptischen Papyrus übersetzt, den er von Michael H. Chandler erhielt. Dieser hatte die Blätter in einer Mumie gefunden. Als er erfuhr, dass Smith die „göttliche Gabe“ besaß, solche Schriften zu übersetzen, verkaufte er sie ihm 1835 für 2400 Dollar. 1842 veröffentlichte Smith seine Übersetzung der zwei Blätter zusammen mit drei Faksimile-Abbildungen mit der Einleitung „Die Schriften Abrahams aus der Zeit, in der er in Ägypten war, von ihm mit eigener Hand auf Papyrus geschrieben“. Aus den 46 Hieroglyphen des Urtextes machte Smith das 1125 englische Worte in fünf Kapiteln umfassende „Buch Abraham“, das über Gottes Leben auf dem Planeten Kohob und biblische Erlebnisse berichtete. Allein das Schriftzeichen „Khon = Mondgott“ diente Smith als Grundlage für vier Verse (1, 16-19). Andere Passagen schrieb Smith, wie schon im „Buch Mormon“, einfach aus der Bibel ab (2:9, 11, 14-16, 18, 19-23, 25 stammen aus 1. Mose 12, 1-13).       
Im Gegensatz zum Urtext des „Buchs Mormon“, den der Engel Moroni wieder zu sich genommen haben soll, hat sich der Papyrus des „Buches Abraham“ erhalten. Nach mehreren Besitzerwechseln und einer abenteuerlichen Geschichte wurde der Papyrus 1966 von dem Orientalisten Dr. Aziz S. Atiya im New Yorker Metropolitan Museum entdeckt und am 27. 11. 1967 den Mormonen zurückgegeben. Die Freude der Mormonen währte kurz. 1968 veröffentlichten die Ägyptologen John A. Wilson und Prof. Klaus Baer (Universität Chicago) ihre korrekte Übersetzung des Textes. Da war dann nicht mehr die Rede von Abraham, es handelte sich in Wirklichkeit um die Niederschrift eines Begräbnisrituals aus dem ägyptischen Totenbuch ‒ darum waren die Blätter wohl auch in eine Mumie eingewickelt gewesen.[26] 
Ein Teil des Textes lautete: „Osiris soll dem Großen Becken des Khons übergeben werden ‒ und ebenso Osiris Hor, gerechtfertigt, geboren dem Tikhebyt, gerechtfertigt ‒ nachdem seine Arme auf sein Herz und das Buch der Atemzüge, das innere und äußere Beschriftung trägt, in königliches Leinen gepackt und unter seinen linken Arm nahe des Herzens gelegt worden sind, soll der Rest der Bandagen über ihn gewickelt werden. Der Mann, für den dieses Buch abgeschrieben wurde, wird in Ewigkeit atmen, wie es die Seelen der Götter tun“[27].
Der mormonische Ägyptologe Rhodes[28] übersetzte weitere Stellen. Auch hier gibt es keine Übereinstimmung mit einem der fünf Kapitel des „Buches Abraham“, sondern nur mit dem Totenbuch. Auch Rhodes Übersetzungen weiterer Papyrusstellen sind Hymnen an Osiris.
Dass es sich um einen Text aus dem Totenbuch handelt, wird heute also auch von den Mormonen akzeptiert, allerdings im eigenen Sinne umgedeutet[29]: Schließlich handele es sich sowohl beim „Buch Abraham“ als auch beim Totenbuch um eine Diskussion von Auferstehung und ewigem Leben.

Eine Stellungnahme der Mormonen

Eine Religion basiert immer auf intuitiven Erkenntnissen, auf Offenbarungen und nicht überprüfbaren Gewissheiten der Gläubigen. Einen gläubigen Mormonen müssen die Kritikpunkte am „Buch Mormon“ und am „Buch Abraham“ nicht zum Umdenken bringen: Wenn Gott es wollte, konnte er Smith in Trance das „Buch Mormon“ eingeben, auch wenn es nie ein Original gab, die Übersetzung des Papyrus war dann nur eine Konzentrationsübung, die Gottes wahre Absichten vermittelte. Im Gegensatz dazu nutzen Astronautiker die Prä-Astronautiker das „Buch Mormon“ als „authentische Quelle“ für die präkolumbianische Geschichte Amerikas.                          
Ich bat die deutsche Führung der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“, wie sich die Mormonen selbst nennen, um eine Stellungnahme zu folgenden drei Punkten:

  1. Haben archäologische Forschungen die Wahrheit einzelner Passagen des „Buchs Mormon“ bestätigt?
  2. Wie steht man zu der Fest-stellung, dass die von Smith übersetzten ägyptischen Schriftzeichen nirgends sonst im archäologischen Befund auftauchen?
  3. Wie erklärt man sich die Diskrepanz zwischen Joseph Smiths Übersetzung des Papyrus „Buch Abraham“ und der der Ägyptologen?

Auf diese Fragen antwortete mir freundlicherweise Marianne Dannenberg von der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit mit einem Brief und einem großen Stapel Material, aus dem ich versuche, die Antworten der Kirche auf diese Probleme her auszufiltern. „Die Kirchenautoritäten nehmen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Echtheit des Buches Mormon offiziell keine Stellung“, schreibt Frau Dannenberg. Solche Forschungen seien Privatleuten überlas-sen. Das „Buch Mormon“ müsse als offenbartes Wort Gottes nicht bewiesen werden.

  1. Zur archäologischen Stimmigkeit des „Buchs Mormons“ gibt es eine Schriftenreihe, die „Micro Testators“. Mehrere dieser Blätter liegen mir vor. Als Argument für die Echtheit gilt die Tatsache, dass „sonderbare Namen aus dem Buch Mormon altägyptischen Ursprungs“ sind, unter anderem Zusammensetzungen mit dem Gottesnamen Ammon [15, Blatt 48]. Doch der Name Ammon war bereits vor der Entzifferung der Hieroglyphen bekannt. Weiter gelten die Sagen über den „weißen Gott“ Quetzalcoatl als Beleg für die Wiederkehr Christi in Amerika [15, Blatt 44].
  2. Über die „reformierte ägyptische Schrift“ gibt es unterschiedliche Meinungen. Die „Glaubensartikel“[30] vertreten Smiths Ansicht, es habe sich um ägyptische Hieroglyphen gehandelt. „Micro Testator“ [15, Blatt 37] nimmt an, es seien Maya-Hieroglyphen gewesen, die ja den ägyptischen ähnelten und aus ihnen entstanden seien. Das ist nun eine Meinung, die spätestens seit der Entzifferung der Maya-Schrift nicht mehr haltbar ist. Nibley[31] sagt, die „reformierten Schriftzeichen“ seien demotische ägyptische Schrift gewesen. Das erklärt dennoch nicht die von Smith gezeichneten Schriftzeichen, die nichts mit demotisch gemein haben. Berrett[32] weist darauf hin, dass sich ja laut „Buch Mormon“ sowohl Sprache wie Schrift der in Amerika lebenden Juden aus dem ägyptischen weiterentwickelt hätten, man beide heute wohl gar nicht mehr ‒ ohne göttliche Hilfe ‒ verstünde. Kein mormonischer Autor kann aber erklären, warum die Schriftzeichen, die Smith als Altägyptisch ausgab, bis heute nirgendwo gefunden wurden. Die vielen Versionen, Smiths falsche Schriftzeichen zu erklären, zeugen eigentlich nur von der Verwirrung der Mormonen.
  3. Das „Buch Abraham“ ist ein komplexes Problem. Auch hier haben mormonische Forscher verschiedene, voneinander abweichende Rechtfertigungen gefunden. Nach Berrett[33] waren unter den von Dr. Aziz Atiya wiederentdeckten Papyri jene, „von denen das Buch Abraham übersetzt worden war, … nicht dabei“. Nach Michael D. Rhodes von der mormonischen Forschungsgesellschaft „Foundation for Ancient Research & Mormon Studies“ entsprechen Smiths Interpretationen der Abbildungen des Papyrus dessen Inhalt ‒ beide sprechen von Themen der Wiedergeburt (das ägyptische Totenbuch wie Smiths Konversation zwischen Gott und Abraham). Rhodes führt zudem die Bibelstellen an, die von Abrahams Aufenthalt in Ägypten sprechen. Diese können kaum als unabhängiger Beleg gelten, denn sie waren Smith natürlich vertraut. Auf die Diskrepanz zwischen Smiths Übersetzung des Textes und der tatsächlichen Bedeutung geht er leider nicht ein. Und die Bilder, die Osiris zeigen, sind ‒ trotz Rhodes Optimismus ‒ nur schwer in Deckung zu bringen mit Smiths Behauptung, sie zeigten Abraham und den Pharao.

Schlussfolgerungen

Die Belege für die historische Echtheit des „Buches Mormon“ sind weitaus weniger überzeugend als die Beweise für seine Entstehung durch spiritistische Techniken zu Anfang des 1.9. Jahrhunderts. Wären die von den Mormonen vorgelegten Belege überzeugend, würden die Archäologen das „Buch Mormon“ sicher als Quelle für die präkolumbianische Geschichte Amerikas nutzen. Die Behauptungen der Prä-Astronautik, das „Buch Mormon“ stünde in Übereinstimmung mit dem Weltbild der Bibel und berichte von dem Kontakt von Indianern mit Außerirdischen, sind überhaupt nicht haltbar.          
Ich habe Respekt vor jeder Religion. Dieser Artikel soll weder den Glauben der Mormonen noch die Person Joseph Smith angreifen. Wer glaubt, dass Gott von 1827 bis 1830 Joseph Smith seine Wahrheit gleichnishaft offenbart und das „Buch Mormon“ diktiert habe, kann trotz gegenteiliger archäologischer Belege an diese Wahrheit glauben. Die meisten Historiker akzeptieren, dass Smith tatsächlich der Überzeugung war, er habe Visionen und geistige Kontakte mit Gott[34]. Der Glaube der Mormonen kann und soll nicht wissenschaftlich widerlegt werden. Aber als „authentische Quelle“ kann das „Buch Mormon“ nur mit dem festen Glauben der Mitglieder der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ gesehen werden.

Literatur

Berrett, W. E. 1972: Seine Kirche, Frankfurt.

Dannenberg, M. 1996: Brief an den Autor, 16. Januar 1996

Däniken, E. von 1994: Strategie der Götter, Bergisch Gladbach.

Däniken, E. von 2007: Falsch informiert!, Rottenburg.

Dopatka, U. 1979: Lexikon der Prä-Astronautik, Düsseldorf.

Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage: Buch Mormon. 19. deutsche Auflage.

Fagan, B. M. 1990: Die ersten Indianer, München.

Fiebag, J. 1993: Die Anderen, München.

Fohrer, G. 1988: Erzähler und Propheten im Alten Testament, Heidelberg.

Haack, F.-W. 1976: Mormonen. 2. Aufl., Gütersloh.

 o. A. 1993: Handbuch Religiöser Gemeinschaften. 4. Aufl., Gütersloh.

 Hauth, R. 1985: Tempelkult und Totentaufe. Die geheimen Rituale der Mormonen, Gütersloh.

Kennedy, R. G. 1996: Die vergessenen Vorfahren, München.

Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage 1978: Köstliche Perle, Frankfurt am Main. (enthält das „Buch Mose“ und das „Buch Abraham“)

Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage 1978: Lehre und Bündnisse, Frankfurt am Main.

Micro Testators. (Blattreihe zu archäologischen Fragen des „Buches Mormon“) Blätter 1, 33, 37, 44, 48

Mössmer, A. 1995: Die Mormonen. Die Heiligen der Letzten Tage, Düsseldorf.

Nibley, H. 1992: Temple and Cosmos, Salt Lake City.

Rhodes, M. D. 1994: The Joseph Smith Hypocephalus… Seventeen Years Later, Provo/Utah.

Riemer, T. / Helm, R. 1987: Von Heiligen Linien und Heiligen Orten, Halver/Dortmund.

Ritter, T. 1995: Das Rätsel der Marienerscheinungen, Suhl.

Schmidt, A. 1987: Das Buch Mormon, in: Aus julianischen Tagen, Frankfurt.

Smith, J.: Wie das Buch Mormon hervorkam, in: Buch Mormon, v-viii.

Talmage, J. E. 1961: Die Glaubensartikel, Frankfurt am Main.

Dieser Artikel erschien bereits im Skeptiker 19/1997, 12‒16 (leicht überarbeitet).

Ulrich Magin lebt nahe Bonn und ist Autor des Buchs „Runen: Geschichte und Mythos einer rätselhaften Schrift“ (Nikol).


[1] Fagan 1990, 21.

[2] Kennedy 1996.

[3] Fagan 1990, 27.

[4] Smith, v-viii.

[5] Hauth 1985; Köstliche Perle.

[6] Däniken 1994, 18.

[7] Däniken 1994, 18.

[8] Däniken 2007, 125‒130.

[9] Fiebag 1993, 120.

[10] Fiebag 1993, 124.

[11] Hauth 1985, 21.

[12] Ritter 1995.

[13] Riemer/Helm 1987, 57.

[14] Dopatka 1979, 348.

[15] Hauth 1985, 18.

[16] Fagan 1990, 21.

[17] Schmidt 1987, 77.

[18] Fohrer 1988, 159.

[19] Fohrer 1988, 146.

[20] Mössmer 1995.

[21] Däniken 1994, 18.

[22] Däniken 1994, 16‒18.

[23] Fohrer 1988.

[24] Kennedy 1996, 423.

[25] Haack 1976, 16.
o. A. 1993, 391.

[26] Hauth 1985, 24‒26.

[27] Hauth 1985, 27.

[28] Rhodes 1994, 4.

[29] Nibley 1992.

[30] Talmage 1961, 289.

[31] Nibley 1992, 217.

[32] Berrett 1972.

[33] Berrett 1972, 97.

[34] Kennedy 1996, 423.