Über Charles Fort
Charles Hoy Fort (6. August 1874–3. Mai 1932) verbrachte über 25 Jahre seines Lebens in den großen Bibliotheken in New York und London, um in alten Zeitungen und wissenschaftlichen Magazinen Meldungen über ungewöhnliche Ereignisse aufzuspüren, die die Wissenschaft nicht zu erklären vermochte. Aus Berichten über seltsame Lichter am Himmel und auf anderen Planeten unseres Sonnensystems schloss er, dass uns Außerirdische besuchen, aus scheinbar mysteriösen archäologischen Funden, dass diese Außerirdischen auch in der Frühgeschichte der Menschheit anwesend gewesen waren – und das alles 30 Jahre vor dem ersten Auftauchen der UFOs. So schuf er die modernen Parawissenschaften der Ufologie und Prä-Astronautik fast im Alleingang.
Bereits Anfang des letzten Jahrhunderts gab es zahllose pseudowissenschaftlichen Bücher, die sich mit Spiritismus, außerirdischem Leben oder atlantischen Vorfahren beschäftigten. In diese Reihe ließe sich Fort mühelos einfügen, hätten nicht die bedeutendsten Dichter der Welt, darunter auch der Lyriker Ezra Pound oder der Romancier Henri Miller, seine Bücher zu Kunstwerken erklärt.
Irgendetwas unterscheidet Fort von Ignatius Donnelly oder seinen modernen Nachfahren wie Erich von Däniken, das zum Beispiel den großen amerikanischen Schriftsteller Theodor Dreiser erklären ließ, Forts Bücher seinen „so wunderbar wie die ägyptischen Tempel von Karnak“.
The Book of the Damned
The Book of the Damned, 1919 veröffentlicht, war Forts erstes Sachbuch (zuvor hatte er einen humoristisch-realistischen Roman, The Outcast Manufacturer, und zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht, die höchstens literaturgeschichtlich von Bedeutung sind). Das Buch beginnt mit einer Lumpenprozession. Am Leser marschieren all die Fakten vorbei, die von der Wissenschaft ignoriert werden. Aus all den unerklärlichen „Daten“, die Fort gesammelt hat, entwickelt er die Vorstellung, dass es keine Erkenntnis der Welt geben kann: Jedes Weltbild kann nur konstruiert werden, wenn die ihm widersprechenden „Daten“ aussortiert, also verdammt werden.
Weil, so Fort, daher jeder wissenschaftlichen Erkenntnis nicht nur etwas Vorläufiges anhängt, sondern sie ganz und gar unmöglich ist, gilt ihm jedes Weltbild als gleichwertig. Versuchsweise erklärt er Sichtungen von Lichtobjekten im Himmel damit, Besucher von fremden Sternen könnten uns besuchen. Wichtig dabei ist: Weil Fort nicht an objektive Erkenntnis glaubt (die Welt an sich muss sich immer unserer Erkenntnis entziehen), ist diese ufologische These genauso ernst zu nehmen wie ihre wissenschaftlichen Alternativen, nämlich gar nicht.
New Lands
In New Lands nimmt Fort diese zuvor spielerisch und ironisch geäußerten Gedanken wörtlich – aus seiner Korrespondenz (u.a. Leserbriefen) geht hervor, dass er begann, an sie zu glauben. Vielleicht ist deshalb New Lands sein schwächstes, aber auch am einfachsten zu verstehendes Buch.
Hier findet sich schon all das, was später in der Ufologie und Prä-Astronautik gang und gebe sein wird. In New Lands (mit diesem Neuland sind fremde Planeten, aber auch Welten, die sich in der Erdatmosphäre befinden, gemeint, die wir noch entdecken müssen) präsentiert Fort ein völlig neues Konzept des Kosmos, komplett mit „Beweisen“ für dessen Richtigkeit. Das Universum ist winzig, die Sterne sind nah, die Erde befindet sich innerhalb einer Schale.
Forts Angriff auf die konventionelle Astronomie erfolgt in zwei Teilen: Im ersten Teil zeigt er, dass das wissenschaftliche Weltbild falsch ist: Weder sind die Sterne weit von uns entfernt, noch haben Kometen feste Umlaufbahnen, Berechnungen der Planetenorbits sind willkürlich und fehlerhaft. Er berichtet vom Planeten Vulcan, der zwischen Erde und Sonne entdeckt und nie verifiziert wurde. Er spricht von Sonnenfinsternissen, die trotz Vorhersage nicht stattfanden.
Diese fehlerhafte Astronomie ersetzt er im zweiten Teil durch das Konzept des winzigen Kosmos: Das Universum ist klein, zu den Sternen ist es nicht weit. Wir sind, sagt Fort, in der Lage der Indianer im Jahre 1492: Wir sehen Lichter von Kolumbusschiffen, aber wir begreifen nicht, was auf uns zukommt. Charles Fort schildert fremde Welten, exotische Städte am Himmel, Besucher aus dem Kosmos.
So schrieb er mit New Lands fünfundzwanzig Jahre vor dem Auftauchen der fliegenden Untertassen das erste Buch zum Thema. Jeder der zitierten Berichte ist genau dokumentiert und mit Quellenangabe versehen. Fort führte die Astronomie seiner Zeit mit ihren eigenen Waffen ad absurdum – all seine Zitate stammen aus astronomischen Fachveröffentlichungen.
Als New Lands 1923 erschien, fand es wenig Leser. Forts Bücher wurden in Minimalauflagen von höchstens ein paar tausend Stück gedruckt. Sie beeinflussten aber die Avantgarde seiner Zeit beträchtlich. Der Romanautor Booth Tarkington schrieb beeindruckt: „Selbst die wildesten Erdbeben dieser Welt sind nur ein Sturm im Wasserglas verglichen mit den Visionen, die Charles Fort vor unseren Augen erschafft.“
Und, so ernst sich Fort zu nehmen scheint, man darf nie vergessen, dass er die Wirklichkeit als letztlich unerforschlich ansah und jede Erklärung als so gut wie die nächste. Wer das vergisst, kann leicht davon überzeugt werden, dass die Erde tatsächlich frei in einer riesigen Eierschale schwebt, deren Risse und Löcher uns wie Sterne und Milchstraße erscheinen. Oder er verfällt dem naiven Glauben, es gebe tatsächlich Beweise für extraterrestrische Besucher in unserer und in vergangenen Zeiten.
Ben Hecht, einer der bedeutendsten Literaten der Zeit (er war nicht nur ein brillanter Essayist, sondern einer der am höchsten bezahlten Drehbuchautoren Hollywoods, der die Bücher zu zahlreichen Hitchcock-Filmen schrieb) meinte genau dieses Missverständnis, als er zu Forts Werken anmerkte: „Fünf von sechs Menschen, die dieses Buch lesen, werden den Verstand verlieren.“
Lo!
Lo! war Forts dritter Streich. Jahrelang hatte er keinen Verleger gefunden, das Manuskript wieder und wieder umgeschrieben, bis ein ihm treu ergebener Fan nicht nur seine Bücher herausbrachte, sondern gar eine Fortean Society gründete, die Fort übrigens nicht guthieß, weil er Furcht hatte, dass sie Atlantis-Freaks, Spiritisten und Esoteriker anlocken könnte – mit denen wollte er nichts zu tun haben. In Lo! ersetzt Fort den kleinen Kosmos durch den Lebenden Kosmos: Es gebe eine Urkraft, die alles durchdringe, die Teleportation (das Wort stammt von Fort und ist seither fester Bestandteil fast jeder Science-Fiction-Geschichte von Star Trek bis Perry Rhodan); diese Teleportation sei der Metabolismus des Kosmos, sie sorge für die Verbreitung von Leben, für Regen und jedes Bedürfnis der lebenden Welt.
Nur sei die Welt mittlerweile müde und alt, die Teleportation längst verwirrt. Sie verteile nun nicht mehr Fische in Seen, sondern regne sie in Wüsten herab, lasse Schiffe im Bereich der Bermuda-Inseln verschwinden (schon wieder eine Idee, die von Fort stammte); schaffe also nur noch Chaos. Aber selbst diese verwirrten Produkte einer aus dem Ruder gelaufenen Naturkraft zeigten noch, dass die Welt eine Einheit bilde, dass alles mit jedem in Zusammenhang stünde (und damit hat Fort dann noch die Chaos-Theorie vorweggenommen!).
Beispiele für die Geschichten, die Fort versammelt hat (jetzt auch aus Zeitungen und Magazinen) sind etwa jene von Mrs. Guppy, die im Jahr 1871 aus einem Fenster in London schwebt und mehrere Meilen fliegt; der Fund eines Seeungeheuers im Eis eines arktischen Gletschers (ist es von irgendwo herabgeregnet?); ein Froschregen 1925 in Südafrika; spurlos verschwundene Menschen; Hagel aus Blut etc. Wie bei den anderen Büchern auch (es fällt auf, dass Fort in jedem Buch eine neue und allumfassende Erklärung für die von ihm gesammelten Absurditäten parat hat) muss man beachten, dass Fort hier mit Erklärungen spielt; dass er aufzeigen will, dass – sei eine These auch noch so absurd – es genug anekdotisches Material gibt, das die These stützt. Einmal fordert er gar seine Leser auf, ihm eine wilde These zu senden, an die sie selbst nicht glauben, er wolle sie dann beweisen! Das ist hintergründig genug, um simple Geister aufs Glatteis zu führen. Es ist auch heute noch eine Warnung für bestimmte Grenzwissenschaftler, die erst dann nach Belegen forschen, wenn sie bereits das Ergebnis ihrer Suche kennen. So schillernd und verwirrend wie Forts Bücher, so vielfältig war die Reaktion der professionellen Kritiker. „Lo! ist wie ein Ritt auf einem Kometen“, jubelte die New York Times. Das renommierte Nachrichtenmagazin Time stellte dagegen resigniert fest: „Dass so ein Buch heute möglich ist, zeigt nur, dass mittlerweile wirklich alles geht!“
Wild Talents
In seinem letzten Buch, 1932 erschienen (Fort erhielt sein Belegexemplar wenige Tage vor seinem Tode) widmet sich Fort der Parapsychologie: Poltergeister, unmögliche Erfindungen, Massenhysterien, Teleportationen, Erscheinungen, religiöse Wunder und Spuk.
Wild Talents ist Forts schönstes und persönlichstes Buch. War Fort zuvor schon recht experimentell mit dem englischen Wortschatz und der englischen Grammatik umgegangen (die Bücher stecken voller Neologismen und Neudefinitionen von Wortbedeutungen, ganze Passagen sind in englischer Sprache, aber mit deutscher Syntax geschrieben), so sprengt er nun die Grenzen der Konstruktion eines Buches selbst. Mitten in Datenaufzählungen unterbricht Fort und beschreibt, was er bei dem Schreiben der Zeilen tat; als Quelle gibt er seine Erinnerung an, etc. Das gibt es heute öfter, „postmodern“ hat es die Literaturwissenschaft getauft – und wieder war Fort seiner Zeit Jahrzehnte voraus.
Die Universalerklärung für alles Mysteriöse ist in diesem Buch das Wild Talents der paranormalen Fähigkeiten, die in uns allen stecken und die in Krisensituationen sich plötzlich Bahn brechen. Dabei macht Fort eine bedeutsame Entdeckung, die die moderne Soziologie bestätigt hat: dass nämlich Ausbrüche übernatürlicher Phänomene deutlich korrelieren mit gesellschaftlichen Krisen, dass sich Revolutionen im Geiste in der marginalisierten Form des übernatürlichen Ereignisses manifestieren können. So absurd Forts sich widersprechende Thesen sich auch anhören (in der Astronomie hat er sich so sehr geirrt, dass man heute glauben muss, er habe das alles nicht ernst gemeint!), so häufig hat er vieles vorausgeahnt, von der Kommerzialisierung des Alls bis zur Schmetterlingsmetapher der Chaos-Theorie, von Thomas S. Kuhns These vom Paradigmenwandel bis zur Religionssoziologie.
Charles Fort: Der radikale Skeptiker
Viele lesen Fort heute nur noch als Materialsammlung für ihre eigenen unbelegten Thesen: sei es der Besuch Außerirdischer heute und in grauer Vorzeit, sei es die Idee überlebender Dinosaurier oder paranormaler Kräfte. Eine solche Lesart vergisst, warum Fort zeit seines Lebens über 80.000 Notizen über unerklärliche Ereignisse gesammelt hat. Wichtig sind nicht die Phänomene, sondern die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird. Theodore Dreiser, der bedeutendste Naturalist Amerikas und ein enger Freund von Fort, erkannte, was Fort wirklich auszeichnet: „Er ist ein bedeutender Denker und ein Mann von großem und zynischem Humor. Er überragt sämtliche Literaten unseres Landes so sehr, dass jede Bewertung zum Scheitern verurteilt ist.“
Die Philosophie, die Fort aus seiner Sammlung von „Daten“ (das Wort Fakten lehnte er ab, weil es die eben nicht gebe) ableitete, war, dass jedes Wissen, jede Erkenntnis nur vorläufig sein kann, sein muss, und dass die letzte Wahrheit nicht erfasst werden kann. Die Vorstellung des Menschen ist zu begrenzt, um die Welt in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen. Um zu dem „Ding-an-sich“ vorzudringen, fehlt uns jede Möglichkeit. Aus der Gesamtheit unserer subjektiven Wahrnehmung einer möglicherweise objektiv vorhandenen Welt müssen wir stets jene „Daten“ betonen, die unsere Weltsicht stärken, und jene ignorieren, die gegen sie sprechen. So wird ein systematisches Sammeln und Klassifizieren von Erkenntnis unmöglich. Da die Welt ein organisches Ganzes ist, sind Grenzen immer willkürlich, bedeutet die Tatsache, dass wir etwas benennen, implizit, dass wir es nicht erkennen können, weil die Benennung und Isolierung den Gegenstand aus seinem ihn eigentlich definierenden Beziehungsgeflecht heraustrennt.
Charles Hoy Fort – ein verkannter Philosoph?
Denn um etwas zu erforschen, um ihm einen Namen zu geben, müssen wir es aus dem Geflecht seiner Beziehungen lösen; das Objekt unserer Betrachtung ist daher aber auch nicht mehr das, was es eigentlich ist: Viele seiner Eigenschaften werden ausgeklammert. Weil es eine Grundtatsache der Semantik ist, dass wir durch Verwendung von Sprache ein Objekt isolieren, wenn wir es beschreiben, verlieren wir es aus der Sicht.
Es ist uns nicht möglich, die Welt zu erkennen, deswegen ist jedes Weltbild so absurd wie das andere: Fort sieht nur graduelle Unterschiede zwischen den Mythen, die er mit leichter Hand erfindet (den UFOs, der Prä-Astronautik) und den gelehrten Büchern der Wissenschaft. Fort ist daher ein radikaler Skeptiker, der alles in Frage zieht: nicht nur seine eigenen Thesen (von denen er ausdrücklich schreibt, er glaube kein Wort davon), sondern das Konzept des Erkennens und Verstehens an sich. Das macht ihn, trotz der oberflächlichen Ähnlichkeiten mit Autoren wie Däniken oder Berlitz, zu etwas ganz anderem: zu einem Philosophen. Letztendlich hat Fort, obwohl er fast 1200 Seiten den UFOs, Seeschlangen und Spukgeschichten widmete, mit all diesen Phänomenen nichts am Hut. Sie sind nur eine Metapher für eine Welt, deren Erscheinungen so absurd sind, dass der Verstand sie nicht fassen kann.
Die hier vorgestellten Bücher von Charles Hoy Fort sind in 1990er Jahren in Deutschland im Verlag Zweitausendeins in Übersetzung veröffentlicht worden und können antiquarisch bezogen werden; die Texte der Bücher finden sich auch frei verfügbar im Internet.
- Book of the Damned. Horace Liveright, New York 1919
- Das Buch der Verdammten. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1995
- New Lands. Boni & Liveright, New York 1923
- Neuland. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1996
- Lo! Claude Rendall, New York 1931
- Da! Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1997
- Wild Talents. Claude Rendall, New York 1932
- Wilde Talente. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1997
Über Charles Fort erschien von Ulrich Magin ebenfalls bei Zweitausendeins die Fort-Biographie Der Ritt auf dem Kometen (1997). In Amerika haben Damon Knight, Charles Fort. Prophet of the Unexplained (Garden City, NY: Doubleday & Company 1970) und Jim Steinmeyer, Charles Fort: The Man Who Invented the Supernatural (TarcherPerigee 2008) ebenfalls lesenswerte Biografien vorgelegt. Die jüngste, etwas naive Studie zu Fort stammt von dem Religionswissenschaftler Jeffrey J. Kripal (Authors of the Impossible: The Paranormal and the Sacred, University of Chicago Press 2011).
Hallo Herr Magin, könnten Sie kurz erklären, warum sie Jeffrey Kripals Studie als “etwas naiv” empfinden? Vielen Dank!