Die Reise nach Xibalba oder: Die Grabplatte von Palenque
Der Tempel der Inschriften in Palenque (Foto: Leif Inselmann)
Erst vor wenigen Jahrzehnten sind die Hieroglyphen der Maya nach langwierigen Versuchen entschlüsselt worden. Heute wissen wir – dank der Überzeugung der Maya, dass jedes historische Ereignis auf Stelen und in Tempelinschriften verewigt werden müsse – weit mehr über die Maya als noch vor einem halben Jahrhundert. Tatsächlich haben die Archäologen jetzt eine praktisch komplette Geschichte der Maya, sie kennen die Namen und Lebensdaten der wichtigsten Fürsten und Könige, die Ursachen, Schlachten und Siege der Kriege zwischen den einzelnen Stadtstaaten. Die allgemeine Chronik der miteinander rivalisierenden Staaten und die sie alle verbindende gemeinsame Mythologie und Religion haben Linda Schele und David Freidel in einem exzellenten Buch beschreiben.
Wir kennen aber nicht nur ihre „weltliche“ Geschichte, auch ihre „mythologischen“ Konzepte von Geschichte sind uns wohl vertraut. Dabei ist der Ausdruck „weltlich“ bei den Maya eigentlich verfehlt, denn eine Trennung zwischen den mythologischen und den rationalen Elementen der Geschichte kennt ihre Kultur nicht. Die Zeit ist ein zyklisches, fließendes Ereignis, das erst durch die mythologisch bedingten Handlungen der Akteure entsteht. Zeit wird dadurch erzeugt bzw. hergestellt, dass Tempel gebaut, Kriege geführt werden.
Wie alle amerikanischen Kulturen hatten auch die Maya eine schamanische Religion, die aus den Wurzeln der aus Asien mitgebrachten Mythologie entstand und den Bedürfnissen einer städtischen Hochkultur angepasst wurde. Nicht mehr der durch die Götter mittels epileptischer Anfälle oder Visionen zum Priester bestimmte Schamane regelte die Geschäfte zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, der Priesterkönig (ahau auf Maya) selbst, der Beherrscher des Staates, nahm diese Rolle ein. Seine Visionen, seine Astralreisen ins Land der Götter und Ahnen, sicherten das Wohlergehen des Staatsgebildes.
Der Kosmos der Maya
Das Weltbild der Maya war streng schamanisch. Sie glaubten, dass der Kosmos in drei Sphären geteilt war: Die Oberwelt, die Mittelwelt (Erde) und die Unterwelt (Xibalba) mit dem schwarzen Urmeer. Diese drei Welten, oder Daseinsebenen, wurden durch die Weltachse, den Weltenbaum, miteinander verknüpft. Der Weltenbaum, von den Maya Wacah Chan, „der sechste Himmel“ oder „aufgerichtete Himmel“ genannt, war der Weg, an dem entlang sich der König in Trance zu den Göttern und Ahnen begab.
Auf der Erde legte der Weltenbaum als Mittelpunkt die vier Himmelsrichtungen fest. Der Osten wurde mit der Farbe Rot assoziiert, der Norden mit Weiß, der Süden mit Gelb und der Westen mit Schwarz. So, wie bei uns Norden „oben“ auf der Landkarte liegt, war das bei den Maya der Osten.
Die Erde selbst galt als flach und rechteckig. In ihrem Mittelpunkt stand der Weltenbaum, dessen Standort jedoch nicht geographisch fixiert war. Die Verbindung zwischen Erde, Unter- und Oberwelt konnte überall da errichtet werden, wo bestimmte symbolische Handlungen vollzogen wurde. Das bei diesem Ritus benutzte Sakrament war Blut.[1]
In der felsigen Mittelwelt lebten die Maya. Diese Einöde wurde durch das Blut fruchtbar gemacht, das während der heiligen Riten floss. Die Mittelwelt galt nur dann als vollständig und harmonisch, wenn die natürliche Markierungspunkte, die Savannen, Berge, Höhlen, Wälder, Seen, Sümpfe und Cenotes (Karstbrunnen), durch menschliche Bauwerke ergänzt wurden, durch Häuser, Tempel, Paläste und Ballspielplätze.
Als die Götter die Erde schufen, reicherten sie bestimmte Plätze besonders mit der heiligen Kraft an, mit der die ganze Mittelwelt durchdrungen ist. Bestimmte Berggipfel, Quellen und Höhlen wiesen hohe Konzentrationen von heiliger Kraft auf und wurden daher bevorzugt als Bauplatz für Gebäude genutzt.[2]
Dabei galt die Vorschrift, dass die menschlichen Siedlungen die natürliche, von den Göttern geschaffene Topologie zu wiederholen hatten. So stellten die mit Hieroglyphen beschrifteten Stelen, Baum-Stein genannt, einen Wald dar, der sich am Fuße des Gebirges, einer Gruppe von Tempelpyramiden auf einer gemeinsamen Plattform, ausbreitete.[3] Die Tempel hießen heiliger Berg, ihre Tore stellten den Eingang in die Unterwelt dar. Die Gruft eines Tempels war gleichbedeutend mit dem unterirdischen Reich Xibalba. Der König eines Maya-Zeremonialzentrums hatte also mit seinem Tempel einen Eingang, eine Passage in die Unterwelt der Ahnen geschaffen.[4] Diese Passage musste allerdings noch aktiviert werden ‒ der Weltenbaum, der die Weltebenen verbindet, war mit dem Bau eines symbolischen Tempels an heiliger Stätte noch nicht errichtet.
Die Stadt reproduzierte die „Heilige Landschaft“ der gesamten Welt. Da der Standort der Weltsäule nicht geographisch festgelegt war, musste sie auf jedem Tempel, in jeder Stadt rituell errichtet werden. Im Schamanismus kann eine Gemeinschaft nur dann mit fruchtbarem Ackerbau und Kriegsgeschick rechnen, wenn die Aktion von den Ahnen und Göttern abgesegnet wird. Zu diesem Zweck begibt sich der Schamane in Trance entlang der Weltachse ins Reich der Ahnen, um dort mit den Vorfahren und göttlichen Kräften zu verhandeln.
In der Welt der Maya war der König der Schamane. Mit der Pyramide und dem Tor zur Unterwelt hatte er die Voraussetzungen geschaffen, um die Reise zu Göttern und Ahnen anzutreten. Da die Tempel an natürlichen heiligen Punkten in der Landschaft standen, konnte der König sicher sein, dass am Ort seiner Zeremonien die Trennwand oder Grenze zwischen Diesseits und Jenseits besonders dünn war.
Der asiatische Schamane nimmt Pilze und andere Halluzinogene Stoffe ein, um die Trancereise zum Totenreich anzutreten. Der Maya-König wählt einen anderen Weg. Er durchstieß Zunge oder Penis mit einem Rochenstachel und ließ sein Blut fließen. Der dieser Tortur folgende Schmerz führte zu Halluzinationen – in der Mayakunst symbolisiert durch die zweiköpfige Visionsschlange, aus deren Rachen die Ahnen blicken. Dadurch, dass er sein eigenes Blut vergoss, bis er halluzinierte, öffnete der König das Tor zur Unterwelt, er errichtete den Weltenbaum, der die Daseinsebenen verbindet. Man sah sogar den König als identisch mit der Weltachse an. Schele und Freidel nannten ihr Buch über die Geschichte der Mayafürsten Ein Wald aus Königen[5].
Das Blutvergießen durch den König, oder – nach Kriegen – des Blutes von geopferten Gefangenen ermöglichte das Betreten der anderen Seinsebenen, es errichtete den Weltbaum, öffnete die Grenze zwischen der Welt der Menschen und dem Reich der Götter und Ahnen. Nachdem diese Tür zwischen den Dimensionen aufgestoßen war, übernahmen Dämonen, Götter oder Geister den Körper des Königs, er wurde „besessen“. Der König kommunizierte in Ekstase mit der „anderen Welt“, die andere Welt beriet ihn über die richtige Form seiner Entscheidungen. Während dieses Vorgangs wurden auch die natürlichen und von Menschen gemachten geographischen Fixierungen in der Landschaft „besessen“ und luden sich erneut mit heiliger Energie auf. Bei dem Blutritual wurde also quasi die Schöpfung der Welt durch die Götter nachvollzogen, die Schöpfung der Welt wurde bestätigt und erneut. Daher mussten diese Rituale auch verstärkt zu den kalendarischen Daten stattfinden, an denen man die zyklische Zerstörung der Welt erwartete.[6]
Da sich bei jedem Ritual mehr heilige Kraft an einem Ort ansammelte, wurden die Tempel und Stelen mit jedem Opfer heiliger, kraftvoller. Je öfter ein Ritual an einem bestimmten Platz vollzogen wurde, desto stärker wurde dieses „Energiefeld“ (das man freilich nicht physikalisch sehen darf). Deshalb wurden Pyramiden immer wieder an den gleichen Orten gebaut, deshalb musste, wurde eine Pyramide aufgegeben, diese erst „getötet“ werden, damit ihre Energie gebannt war.[7]
Bei Tempelneubauten hielt man sich sklavisch genau an die Vorgaben des älteren überbauten Tempels, um ja nicht die einmal etablierte Verbindung zwischen den Welten zu versiegeln. Eroberer zerstörten in den besiegten Staaten historische Daten und fügten ihre Glyphen in die Tempel ein, um so selbst mit den Ahnen der Besiegten zu verhandeln und die Besiegten von dieser für sie lebensnotwendigen Verbindung auszuschließen. Anderseits konnten die Besiegten, hatten sie einmal die Eroberer vertrieben, deren Stelen nicht zerstören, war ihr Tun doch offenbar von den Göttern gebilligt. Man erhielt die Monumente, setzte aber die Inschriften so um, dass sie keinen fortlaufenden Text mehr ergaben. So wurde der Fluss der Kraft zumindest unterbrochen.
Die Geschichte der Maya währte fast 1000 Jahre. In dieser Zeit mussten neue Städte gegründet, neue Tempel errichtet werden. Da der König als Weltachse selbst einen Kraftpunkt darstellte, setzte man ihn in den Tempeln bei, um deren Energie noch zu verstärken. Gleichermaßen konnte durch die Beisetzung eines Königs ein nicht heiliger Punkt zum Kraftort werden. Die heilige Landschaft verlor immer mehr den Urzustand, aus dem Netzwerk natürlicher Kraftorte wurde eine komplexe Landschaft aus menschlichen und natürlichen Kraftorten. In dieses Gleichgewicht der Kraft konnte durch Rituale eingegriffen werden.
Da dieses Gleichgewicht der Landschaft auch von dem komplizierten Kalender geregelt wurde, der den richtigen Zeitpunkt für Heirat, Krieg und Thronbesteigung vorgab, war die Astrologie die am weitesten entwickelte Wissenschaft der Maya. Für die Maya erhielt sich die Welt nur, wenn ständig und zyklisch durch das Blutopfer die Schöpfung erneuert wurde. Manchmal musste es dabei zu Misserfolgen kommen. Trotz des Opfers vieler Gefangener wurde ein Krieg nicht gewonnen, trotz elendiger Schmerzen konnte der König die Visionsschlangen nicht wachrufen, die Grenze zur jenseitigen Welt blieb geschlossen. Die Maya schlossen daraus, dass die heilige Kraft aus ihrem König und aus ihrer Stadt gewichen war. Manchmal genügte es, den Tempel zu erneuern oder ein neues Haus zu bauen – aber manchmal wurden auch ganze große Stadtanlagen vollständig verlassen, eine Siedlung an einem neuen Ort errichtet![8]
Spuren dieses Weltbilds findet man bei den heute noch lebenden Maya, in deren Welt der Dorfschamane und die von ihm vollzogenen magischen Handlungen die Rolle des Königs und des Blutopfers einnehmen. Es ist allerdings zu vermuten, dass heutige Maya-Schamanen nicht die Rituale der Großstädte und Stadtstaaten überliefern, sondern die daran angelehnten Rituale der dörflichen Bevölkerung. Schele und Freidel[9] haben bemerkt, dass Dorfschamanen in Yucatan noch heute den Weltenbaum mit Baumsamen und Maiskolben an magischen Orten wie Berghöhlen „pflanzen“.
Fürst Pacal von Palenque
Eine der gelungensten bildhaften Darstellungen des schamanischen Kosmos der Maya zeigt die Grabplatte von Palenque. Sie liegt auf dem Sarg, in dem Pacal, ein König von Palenque, beigesetzt wurde. Pacal selbst trug ein Stirnband mit dem Symbol für König sowie ein Amulett mit dem Bildzeichen für Baum. In eben dieser Doppelfunktion als Herrscher und Weltenbaum ist er auch auf der Grabplatte abgebildet (s.o.).
Das Relief auf der Grabplatte zeigt Pacal, der im weit aufgerissenen Rachen der Unterwelt Xibalba liegt. Die Grabkammer selbst gilt dabei als Teil der Unterwelt ‒ da die Grabpyramide ja ein heiliger Berg ist, befindet sich Pacals Sarg sozusagen „unter der Erde“, in Xibalba. Unter Pacal liegt ein Totenschädel, auf dem sich eine Opferschale mit dem Sonnensymbol befindet – der symbolhafte Ausdruck der Hoffnung, Pacal möge, wie die Sonne, die Finsternis des Todes überwinden. Über Pacal richtet sich kreuzförmig der Weltenbaum auf, auf dem der Himmelsvogel sitzt. Um den Weltenbaum ringelt sich die Visionsschlange in ihrer Darstellung als doppelköpfiger Schlangenstab. Diesen Schlangenstab, eines der Symbole für das Königtum, halten Mayakönige auf den Reliefdarstellungen stets als Legitimation in der Hand: Sie sind es, die in Trance fallen und mit den Göttern reden. Auf diese Weise zeigt die Grabplatte also Pacal zum Zeitpunkt der Kommunikation mit den drei Ebenen des Daseins auf seinem Weg zu den Ahnen nach dem Tode. Offenbar erwartet man, dass Pacal die Götter der Unterwelt überlisten wird, um von ihnen neues Leben zu erzwingen.[10] Am Rande der Platte sind Pacals Ahnen mit ihren Namensglyphen aufgeführt, an den Seitenteilen des Sarges als bildliche Ahnengalerie, die zeigt, wie die Vorfahren aus der Unterwelt, aus Xibalba, heraussteigen.[11]
Über Pacal reckt sich der Weltenbaum nach oben. Dieser Weltenbaum[12] ist die Zentralachse der drei Welten, und wird gemeinhin, wie auch auf Pacals Grabplatte, als Kreuz mit den integrierten Schriftzeichen für „göttlich“ oder „heilig“ dargestellt. Die Arme des Baumes enden in kaum erkennbaren stilisierten Schlangenköpfen, die das Blutopfer symbolisieren.
Die Darstellung des Weltenbaums im Kreuztempel von Palenque, von Pacals Sohn in Auftrag gegeben, wiederholt die Darstellung auf der Grabplatte bis ins Detail. Da der Weltenbaum dem König entspricht, stellt er sowohl Pacals Kommunikation mit den Ahnen als auch seinen eigenen Abstieg ins Totenreich dar. Pacal selbst wurde ein Amulett mit dem Symbol für Baum umgehängt, bevor man ihn ins Grab legte. Oben auf dem Weltenbaum sitzt der Himmelsvogel mit seinem langen Federschwanz.[13]
Um den Weltenbaum ringelt sich zwischen den Zweigen der doppelköpfige Schlangenstab. Er ist – als eine Art Szepter ‒ das Maya-Symbol für Königtum, gleichzeitig auch die Repräsentation der Visionsschlange, also der Kommunikation mit Ahnen und Göttern in der Trance.[14] Wieder einmal wird ein Symbol verwendet, das gleichzeitig Pacals weltliche wie geistliche Funktion ausdrückt.
Sämtliche auf dem Sargdeckel und Sarg Pacals verwendeten Symbole deuten also auf die Funktion des Maya-Herrschers als Bindeglied zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen dem Hier und der Unterwelt der Ahnen hin. Damit verbunden ist auch die Hoffnung, dass Pacal – wie die Urzwillinge im Maya-Mythos – die Herrscher von Xibalba überlisten und ihnen ewiges Leben abluchsen kann, damit er seinen Nachkommen in Palenque stets zur Seite stehen kann. Um diese Botschaft auszudrücken, haben die Maya-Bildhauer auf der Grabplatte bevorzugte Zeichen verwendet, die sowohl den Herrschaftsanspruch des Königs wie seine Rolle als Vermittler zwischen den Welten betonen. Zusätzlich wurde Pacals Sarg in der Unterwelt durch einen kunstvollen „Seelenkanal“, der vom Sarg bis zum Pyramidenausgang führt, mit der Oberwelt, wo seine Nachkommen lebten, verbunden.[15] So war Pacal nach seiner Wiedergeburt stets unter seinen Nachkommen präsent.
Die prä-astronautische Interpretation
Im Gegensatz zu dieser Deutung der Grabplatte von Palenque, die nicht nur jedes einzelne Detail der Grabplatte erklären kann, sondern auch die Darstellungen am Rande der Platte und auf dem Sarkophag, und die zudem in Übereinstimmung mit allen anderen Darstellungen, Inschriften und kosmologischen Konzepten der Maya steht, bestehen Prä-Astronautiker auf der Deutung, die Grabplatte zeige in Wirklichkeit eine stilisierte Rakete. Dabei werden natürlich sämtliche Darstellungen der Visionsschlange oder des Weltenbaums oder der Unterwelt Xibalba, die nicht oberflächlich einer Rakete gleichen, aber identisch sind mit der Darstellung auf der Grabplatte von Palenque, einfach ignoriert.
Zum ersten Mal wurde die Raumschiffdeutung in dem italienischen Magazin Clypeus 1966 von Guy Tarade und Andre Millou vorgeschlagen.[16] Erich von Däniken hat sie in seinem Erstlingswerk Erinnerungen an die Zukunft übernommen[17]; in Pacal erkennt er den Gott „Kukulkan“, der unzweifelhaft in Raumfahrerpose in einer „Rakete“ sitzt. In seinem Kinderroman Das Erbe von Kukulkan wiederholt er diese Identifizierung des Toten mit Kukulkan ‒ einem Herrscher, der rund 300 Jahre nach Pacals Tod geboren wurde! Vermutlich waren die Maya Hellseher! Aber Däniken kümmert die Wahrheit ohnehin nicht: So wiederholt er immer wieder die vollkommen falschen Angaben, Pacal sei „der letzte Maya-Herrscher“ gewesen, obwohl Pacals Nachkommen weiter in Palenque regierten und andere Maya-Staaten auch nach dem Untergang von Palenque weiterbestanden.
Spätere Theoretiker fanden für jedes piktografisches Element, für jedes Schriftzeichen eine technische Interpretation. Bei dem Ingenieur Toth werden die Köpfe der Visionsschlange zu Radarantennen, aus dem Schriftzeichen für Sonne wird ein Sessel in der Raumkapsel, die Ahnengalerie Pacals zur Darstellung der „Bewegungsabläufe des Raumschiffes“ bei der „Richtungsänderung … durch Verschiebung des Massenmittelpunktes aus der Drehachse“![18]
Zwei Dinge wurden bei der Interpretation von Pacals Grabplatte von prä-astronautischen Interpretatoren stets missachtet:
- Es gibt auf dem Bild keine Verbindung zwischen „Oberteil“ und „Unterteil“ der Rakete. Das Ding würde auseinanderfallen. Die einzige Verbindung zwischen beiden Elementen stellt Pacal dar – ganz so, wie es die Kosmologie der Maya verlangt.
- Es gibt unter den Abertausenden von Maya-Bildern kein einziges, das einen Gegenstand – so wie es auf der Grabplattenrakete der Fall sein soll – im Querschnitt zeigt: Alle Mayabilder sind entweder in Draufsicht, von der Seite als Halbrelief oder als Statue gesehen. Daher müssten Prä-Astronautiker ‒ wenn Palenque als Querschnittsdarstellung betrachtet werden soll – zumindest weitere Beispiele für diese Darstellungsweise aus der Welt der Maya zitieren können. Die gibt es aber nicht.
Ohnehin hat sich gezeigt, dass Menschen, die mit der Prä-Astronautik nicht vertraut sind, Probleme haben, auf der Grabplatte ein Raumschiff zu erkennen: Ohne Erklärung und ohne Einweisung können Laien die angeblich so „offensichtliche“ Rakete gar nicht erkennen.[19]
Heute kann man sich nicht mehr, wie noch vor wenigen Jahren (vor der Entzifferung der Maya-Schrift), mit der Entschuldigung herausreden, man wisse zu wenig von den Maya, die Raumschiff-Interpretation sei zumindest denkbar. Peter Fiebag hat daher jüngst versucht, die abgesicherte wissenschaftliche Erkenntnis mit der prä-astronautischen Spekulation zu verbinden. Er räumt ein, dass die Grabplatte den Weltenbaum zeigt, doch dessen Maya–Bezeichnung „heiliger, heller Baum“ soll nun auf eine Rakete hindeuten. Zudem gehe die Reise des toten Pacal nach Xibalba, dem Jenseits, das man mit dem Weltall gleichsetzen könne.[20] Es gebe daher zwischen der Darstellung der Reise des toten Pacal entlang des Weltenbaums nach Xibalba und der Deutung als „stilisiert dargestelltes Raumschiff“ „keine Widersprüche“.
Zählen wir, Fiebag zum Trotz, hier nur einmal die gröbsten Widersprüche auf. Zwar kann Xibalba auch mit der Milchstraße gleichgesetzt werden, doch ist die Milchstraße der Maya nicht identisch mit der Milchstraße unserer Astronomen. Xibalba ist – auch als Sternenhimmel – die „jenseitige Parallelwelt“, „in die Könige und andere Schamanen in der ekstatischen Trance überwechselten“[21]. Xibalba ist tagsüber die Unterwelt, die sich nachts in den Sternenhimmel verwandelt.[22] Xibalba ist eine außergeographische Welt, keine physikalische Region, sondern ein Bewusstseinszustand, der in Symbolen wie dem „schwarzen Meer“ der Unterwelt oder der Milchstraße der Nacht ausgedrückt wird. Die Reise dorthin ist keine physikalische Fahrt, für die man eine Rakete braucht, es ist eine Trancereise.[23]
Um den Unterschied noch einmal klarzumachen: Nach Xibalba kommt man, indem man sich die Zunge oder den Penis mit dem Stachel eines Rochens durchbohrt oder indem man stirbt. Zur Milchstraße kommt man, indem man ein Raumschiff baut. Beide Konzepte haben nichts miteinander zu tun. Falls doch – ein bisschen Piercing und die NASA kann sich die Produktionskosten für das Space Shuttle sparen.
Fiebags „widerspruchslose“ Deutung ist Unsinn. Gerade so, als würde man den Spruch „Liebe Kinder kommen in den Himmel“ übersetzen mit „Wer brav ist, darf kostenlos in einer Rakete zum Mond mitfliegen“.
Literatur
Däniken, E. von 1971: Erinnerungen an die Zukunft, München.
Däniken, E. von 1993: Das Erbe von Kukulkan, München.
Dopotka, U. 1979: Lexikon der Prä-Astronautik, Düsseldorf.
Fiebag, P. 1994: Die Grabplatte von Palenque (Mexiko) und ihre symbolische Aussage. Scientic Ancient Skies 1, 8‒13.
Schele, L. / Freidel, D. 1994: Die unbekannte Welt der Maya, Augsburg.
Toth, L. 1995: Die technische Interpretation des Palenque – Reliefs, in: P. / J. Fiebag (Hg.), Aus den Tiefen des Alls, Berlin, 179‒198.
[1] Schele/Freidel 1994, 54.
[2] Ebd., 55f.
[3] Ebd., 60.
[4] Ebd., 59f.
[5] Ebd., 57.
[6] Ebd.
[7] Vgl. ebd., Kap. 4.
[8] Ebd., 61f.
[9] Ebd., 60.
[10] Ebd., 255.
[11] Ebd., 252.
[12] Ebd., 489.
[13] Ebd., 480.
[14] Ebd., 485, 488.
[15] Ebd., 258.
[16] Nach Dopatka 1979, 267.
[17] Däniken 1971, 99f.
[18] Toth 1995, 197, 189, 191.
[19] vgl. Discover 3/1994, 30.
[20] Fiebag 1994, 11-12.
[21] Schele/Freidel 1994, 66
[22] Ebd., 66.
[23] Ebd., 504