„Wunderbare Dinge!“ – Betrat Howard Carter das Grab des Tutanchamun schon zuvor?

Pl. XLI: Der verborgene Eingang in die Grabkammer (Wikimedia).

„Ich führte eine Kerze hindurch und spähte hinein, während Lord Carnarvon, Lady Evelyn und Callender neben mir standen, begierig, den Urteilsspruch zu hören.          
Zuerst konnte ich nichts sehen, da die aus der Kammer entweichende heiße Luft das Licht der Kerze zum Flackern brachte. Als meine Augen sich aber an das Licht gewöhnten, tauchten bald Einzelheiten im Innern der Kammer aus dem Nebel auf, seltsame Tiere, Statuen und Gold, überall glänzendes, schimmerndes Gold! Für einen Augenblick – den anderen, die neben mir standen, muß es wie eine Ewigkeit erschienen sein – war ich vor Verwunderung stumm. Als Lord Carnarvon die Ungewißheit nicht länger ertragen konnte und ängstlich fragte: ‚Können Sie etwas sehen?‘ war alles, was ich herausbringen konnte: ‚Ja, wunderbare Dinge!‘“[1]

So beschrieb Howard Carter im ersten Band seiner Publikation zum Grab des Tutanchamun die Ereignisse am 26. November 1922 – es sind die wohl berühmtesten Worte in der Geschichte der Archäologie. Doch was danach geschah, ist Gegenstand von Kontroversen.

1917 begann Carter, finanziert von seinem Mäzen Lord Carnarvon, die Ausgrabungen im Tal der Könige. Zwar galt die Nekropole der Pharaonen des Neuen Reiches spätestens seit dem Ende der Arbeiten von Theodore M. Davies als abschließend untersucht, doch vereinzelte Funde mit dem Namen des Tutanchamun, einem sonst kaum bekannten Herrscher, bestärkten Carter in der Überzeugung, dass noch ein weiteres, vergessenes Grab der Entdeckung harrte.
Nach mehreren Jahren fruchtloser Grabungen war der Mäzen Lord Carnarvon kurz davor, seine Unterstützung einzustellen, doch konnte Carter ihn zur Finanzierung einer letzten Grabungssaison überreden. Am 4. November 1922 dann die Sensation: Der junge Wasserträger Hussein Abdel Rasoul war unter dem Sand auf eine Treppenstufe gestoßen. Im Laufe des Monats wurde die Treppe freigeräumt, an deren Ende sich eine mehrfach versiegelte Tür verbarg. Inzwischen waren auch Carnarvon und seine Tochter Evelyn angereist, um der Öffnung des Grabes – nunmehr genannt KV 62 – beizuwohnen.         
Hinter der Tür entdeckte man einen Korridor, der deckenhoch mit Schutt gefüllt war. In der linksoberen Ecke bemerkte man einen Tunnel, der bis zu einer weiteren Tür führte und erst nachträglich wieder mit größeren Steinen verfüllt worden war. Offenbar hatten Grabräuber bereits in der Antike das Grab betreten, woraufhin dieses von der Nekropolenverwaltung erneut versiegelt wurde. Auch wenn bereits im Gang einige Objekte zutage traten, konnte man kaum hoffen, noch ein unversehrtes Grab vorzufinden. Umso größer war die Überraschung, als Carter am 26. November ein Loch in die steinerne Tür bohrte und vor sich die Pracht eines fast unberührten Grabschatzes erblickte: “Wunderbare Dinge!”

Plan von KV 62 (bearbeitet nach MesserWoland, Wikimedia Commons)

Danach, so die Darstellung der Ereignisse, verschloss man das Loch wieder und alle Beteiligten verließen das Tal. Erst am 29. November, nun in Anwesenheit von Vertretern der ägyptischen Altertümerverwaltung und Regierung sowie weiteren Amtsträgern, wurde die offizielle Öffnung des Grabes vollzogen.
Der Raum, in dem man die kostbaren Schätze erblickt hatte, war die Vorkammer eines Königsgrabes. Hier fanden sich neben den kostbaren Statuen auch drei vergoldete Totenbahren mit den Köpfen verschiedener Tiere, ein goldener Schrein sowie mehrere auseinandergebaute Streitwagen. Als vielleicht größtes Kunstwerk kann der goldene Thron gelten, auf dessen Lehne in lebendigen Farben der junge König mit seiner Gemahlin Anchesenamun dargestellt ist. An der nördlichen Wand (auf der rechten Seite) zeichnete sich bereits ein vermauerter Durchgang in eine weitere Kammer ab. Dort, so war sich Carter längst sicher, würde man zweifellos den Sarg des Königs in einem kostbaren Schrein aus Gold finden.

Repliken der Funde in der Vorkammer in der Ausstellung “Tutanchamun – Sein Grab und die Schätze”, Reiß-Engelhorn-Museen Mannheim (Foto LI).

Doch bis zur Öffnung des “Allerheiligsten” dauerte es weitere Zeit. Zunächst mussten die Vorkammer ausgeräumt und, was die Beteiligten vor ungekannte Schwierigkeiten stellte, sämtliche kostbaren Funde angemessen konserviert werden. Erst am 16. Februar 1923 war es soweit: In Anwesenheit von nicht weniger als vierzig Personen, die sich in der engen Vorkammer drängten, durchbrach man die Wand zur Grabkammer. Wie um die Funde in der Vorkammer noch zu übertreffen, stieß man direkt hinter dem Durchgang auf eine “Mauer aus massivem Gold”. Dabei handelte es sich um den äußersten von insgesamt vier ineinander geschachtelten Schreinen aus vergoldetem Holz, die in sich den Sarkophag des Königs bargen. Es sollte noch einmal zweieinhalb Jahre dauern und eine juristische Fehde mit der Altertümerverwaltung und dem ägyptischen Staat kosten, bis man unter größter Sorgfalt und äußerster Vorsicht sämtliche Schreine abgebaut, den Deckel des Steinsarkophags angehoben und drei ineinandergeschachtelte goldene Särge geöffnet hatte, sodass Carter am 10. November 1925 endlich in das Gesicht der Mumie blicken konnte.

Soweit die offizielle Version der Ereignisse, wie sie Howard Carter Zeit seines Lebens verbreitete. An dieser Darstellung sind jedoch Zweifel angebracht. Mehrere Forscher präsentierten Belege dafür, dass Carter die Vor- und sogar die Grabkammer bereits vor der jeweiligen offiziellen Öffnung betreten hat.

Alfred Lucas schöpft Verdacht

Carter beschreibt die Ereignisse wie folgt: Nachdem sie einen ersten Blick in die Vorkammer geworfen hatten, verschlossen er und seine Genossen das Loch am Ende des Eingangskorridors wieder, unterdrückten die kaum erträgliche Neugier und kehrten schweigend in ihre Unterkünfte zurück. Dort debattierten sie noch viele Stunden und konnten vor Ungewissheit kaum schlafen. Erst Tage später öffnete man das Grab endlich endgültig. Oder?
Bereits in den 1940er Jahren meldete Alfred Lucas Zweifel an dieser Darstellung an. Der frühere Leiter der staatlichen Abteilung für Chemie war ab Dezember 1922 und für die nächsten zehn Jahre selbst an den Arbeiten am Grab beteiligt, wo er für die aufwendige Konservierung der zahlreichen Grabbeigaben zuständig war. Seinerzeit der wohl bekannteste Konservator Ägyptens, gilt sein Werk Ancient Egyptian Materials and Industries (1926) bis heute als Standardwerk der ägyptischen Stoffkunde. Doch Lucas war auch ein brillanter Forensiker, der sich unter anderem mit Ballistik auseinandersetzte. Seine zahlreichen forensischen Publikationen und Gerichtsgutachten brachten ihm in der Egyptian Gazette die Bezeichnung als „Ägyptens Sherlock Holmes“ ein. So blieben dem leidenschaftlichen Ermittler auch inmitten der Arbeiten am Königsgrab gewisse Unstimmigkeiten nicht verborgen.

Alfred Lucas bei der Arbeit im Grab des Tutanchamun
(Illustrated London News, 17.02.1923, 17 nach Wikimedia Commons).

Erstmals 1942 – drei Jahre nach dem Tod Howard Carters – machte Lucas seine Erlebnisse öffentlich. In den Annales du Service des Antiquités de l’Egypte, einem Publikationsblatt der ägyptischen Altertümerverwaltung, veröffentlichte er einen Artikel mit Anmerkungen zu den Funden im Grab des Tutanchamun. Neben diversen Detailkorrekturen zu den offiziellen Publikationen Carters äußerte sich Lucas auch zur Frage nach der ersten Grabbesichtigung. Er bezieht sich auf das kleine Loch in der Nordwand der Vorkammer, das mutmaßlich von den antiken Grabräubern angelegt wurde und in die eigentliche Grabkammer führte:

„Eine ziemliches Maß an Geheimnistuerei wurde um dieses Räuberloch gemacht. Als ich es am 20. Dezember zum ersten Mal sah, war das Loch verborgen durch den Flechtkorb oder Deckel und einige Schilfbinsen vom Boden, die Mr. Carter davor platziert hatte, wie auf den Tafeln XVI, XVII, XXI und XLI zu sehen. Tafel XLII zeigt das Loch verschlossen, aber Lord Carnarvon, seine Tochter und Mr. Carter betraten zweifellos die Grabkammer und betraten auch die Schatzkammer, von denen letztere keine Tür hatte, vor der offiziellen Öffnung. Ob Mr. Callender, der zu der Zeit anwesend war, ebenfalls die Grabkammer betrat, bin ich nicht sicher, denn er war ein sehr großer Mann und ich hörte einmal eine Bemerkung, die mich denken ließ, dass das Loch zu klein war, um ihn durchzulassen.“[2]

Carter, Pl. XVI (Wikimedia): Die Vorkammer mit dem vermauerten Durchgang zur Gabkammer, das “Räuberloch” ist mit einem Korb und Schilfbinsen verdeckt.

Außerdem bemerkte Lucas zu einer Parfumschatulle, die Carter vorgeblich innerhalb des Sarkophages gefunden hatte:

„Diese Parfumbox wurde nicht im Sarkophag gefunden, wie von Mr. Carter behauptet, sondern vielmehr außerhalb oder innerhalb des äußersten Schreins, und ich denke innerhalb. Ich sah sie in Mr. Carters Haus vor der offiziellen Öffnung der Grabkammer, und offensichtlich wurde sie gefunden, als Lord Carnarvon und Mr. Carter das erste Mal in die Grabkammer eindrangen.“[3]

Pl. XLII (Wikimedia): Die Nordwand der Vorkammer mit dem wiederverschlossenen Loch.

In einer späteren Ausgabe der Zeitschrift – erschienen erst 1947, nach Lucas‘ Tod – präzisierte er seine These:

„[…] das Loch war im Gegensatz zu dem im äußeren Gang nicht durch die Friedhofsbeamten geschlossen und wiederversiegelt worden, sondern durch Mr. Carter. Kurz nachdem ich die Arbeit mit Mr. Carter begonnen hatte, wies er mir gegenüber auf Verschluss und Wiederversiegelung hin, und als ich sagte, dass es nicht wie eine alte Arbeit aussah, gab er zu, dass es keine war und er es getan hatte.“[4]

Pl. XVII (Wikimedia)

Hovings Enthüllungen

Die Behauptungen von Alfred Lucas fanden zunächst jedoch wenig Beachtung, was vor allem an der geringen Reichweite des Publikationsorgans gelegen haben dürfte. Erst 1978 drang das Thema erneut an die Öffentlichkeit.
Thomas Hoving, seinerzeit Direktor des Metropolitan Museum of Art in New York, war in den Archiven des Museums auf bislang unbekannte Dokumente gestoßen, die Lucas’ Thesen untermauerten. In seinem populärwissenschaftlichen und unbedingt empfehlenswerten Buch Tutankhamun: The Untold Story (dt. Der Goldene Pharao – Tut-ench-Amun) beschrieb er die gesamte Geschichte rund um die Ausgrabung des Grabes. Während viele Darstellungen der Entdeckung mit der Öffnung des Grabes enden, zeichnet dieses auch minutiös die zahllosen weiteren Verwicklungen nach, die darauf folgten, nicht zuletzt den jahrelangen Konflikt Carters mit der ägyptischen Altertümerverwaltung. Die vielleicht sensationellsten Neuigkeiten des Buches betreffen jedoch die inoffizielle erste “Besichtigung” des Grabes, die seiner Rekonstruktion zufolge in der Nacht vom 26. auf den 27. November 1922 stattgefunden habe:

“In Wirklichkeit hatte sich die Gruppe keineswegs so brav zurückgehalten, wie Carter uns glauben machen möchte. Die vier fanden nämlich nur deshalb so wenig Schlaf, weil sie den größten Teil der Nacht im Grab verbrachten und jede einzelne Kammerdurchsuchten. Sie drangen bis in die eigentliche Sargkammer vor – in das » Allerheiligste«, wie Carter sie zu nennen pflegte; sie inspizierten selbst die dahinter liegende »Schatzkammer«; sie stellten verschiedene Gegenstände um, entfernten alle Spuren, die ihr Eindringen hätten verraten können; und sie erzählten außer ihren engsten Vertrauten keiner Menschenseele von dieser heimlichen Erstbesichtigung.“[5]

Was zunächst klingen mag wie eine Verschwörungstheorie, wird durch schriftliche Quellen belegt:

“Lady Evelyn aber macht in einem Brief, den sie am 27. Dezember 1922, also einen Monat nach Betreten des Grabes, an Carter schrieb, eine deutliche Anspielung auf das große Erlebnis. Sie war gerade mit ihrem Vater für einen kurzen Weihnachtsurlaub nach England zurückgekehrt. Der Brief ist in dem herzlichen, frischen Ton gehalten, den die junge Evelyn nur gegenüber jenen Freunden anschlug, die sie besonders schätzte. Sie schrieb, daß Papa zwar recht erschöpft sei, jedoch das allgemeine Interesse genieße, das man der Entdeckung des Grabes allenthalben entgegenbringe. Es gebe ihm sichtlich neue Kraft, wenn sie ihm das aufregende Erlebnis der ersten Grabbesichtigung in Erinnerung rufe. Und Evelyn schloß mit den Worten, sie werde es ihm, Carter, nie genug danken können, daß er ihr erlaubt habe, das »Allerheiligste« zu betreten. Dies sei der größte Augenblick ihres Lebens gewesen.“[6]

Doch was hat es mit dieser kryptischen Andeutung auf sich? Weitere Dokumente scheinen Licht ins Dunkel der Ereignisse zu werfen.

“Der Ablauf der bisher unbekannten »Erstbesichtigung« des Grabes durch Carter, die beiden Carnarvons und Callender ließ sich aufgrund unveröffentlichter Aufzeichnungen rekonstruieren, die Lord Carnarvon kurz nach dem 26. 11. 1922 machte. Sie befinden sich im Archiv der Ägyptischen Abteilung des Metropolitan Museums, New York. Weitere Einzelheiten verdanke ich der Tochter von Lady Evelyn Herbert, Mrs. Thomas Leatham.“[7]

Der offizielle Durchbruch in die Grabkammer (Neg. 293, Wikimedia Commons)

Auf Basis aller Quellen rekonstruiert Hoving den Ablauf der Ereignisse folgendermaßen: Die heimlichen Besucher waren zu viert – Howard Carter, Lord Carnarvon, dessen Tochter Evelyn und Arthur “Pecky” Callender, Carters treuer Gefährte und logistischer Unterstützer. Einer nach dem anderen spähten sie durch das kleine Loch, das Carter bereits zuvor in die Wand zur Vorkammer gemacht hatte. Niemand weiß, wer auf die Idee kam, das Grab bereits in dieser Nacht zu betreten.

„Doch in dem Entwurf eines Aufsatzes [für die London Times, Anm. LI] über die ersten Eindrücke und Reaktionen der Gruppe, den Carnarvon schrieb, aber nie veröffentlichte, erklärte er, Howard Carter habe eine Öffnung gemacht, die so groß gewesen sei, daß die Gruppe »mit einigen Schwierigkeiten« in das Vorzimmer steigen konnte.“[8]

So erkundeten die vier “Einbrecher” zunächst die Vorkammer mit ihren zahllosen Schätzen. Auch hier waren die Spuren der früheren Grabräuber unübersehbar: Die Objekte waren in Unordnung, manche nur notdürftig an ihren Platz zurückgelegt worden. Nach Hoving dürften sie mehrere Stunden in der Vorkammer verbracht haben, bis sie endlich den Durchgang in die bislang verborgene Grabkammer fanden. In der südlichen Ecke der Westwand entdeckten sie ein kleines Loch, das in die bislang unbekannte Nebenkammer führte. Diese war ebenfalls voller Schätze, doch noch verwüsteter als die Vorkammer. Offenbar hatten dereinst die Nekropolenbeamten, nachdem sie den Einbruch in das Grab bemerkt hatten, nur die Vorkammer halbwegs wieder hergerichtet und die durcheinandergewühlte Nebenkammer dezent ignoriert. Doch noch immer war die eigentliche Grabkammer nicht gefunden. 
Schließlich bemerkten sie am Boden der Nordwand eine Verfärbung von etwa einem Meter Höhe – auch hier war ein kleiner Durchgang wiederversiegelt worden. Carter und seine Mitstreiter durchbrachen auch dieses Loch und krochen in die nächste Kammer. Der großgewachsene Callender musste an dieser Stelle zurückbleiben, da er nicht durch das Loch passte. Carter und die Carnarvons stießen derweil auf den äußersten der Grabschreine Tutanchamuns, in dessen Inneren sich der Sarkophag des Königs verbergen sollte. Sie öffneten auch diesen Schrein. Darin fand Carter auch die Parfumschatulle, die später Alfred Lucas erwähnte, und nahm sie mit sich. An der Ostwand der Grabkammer entdeckten sie den Durchgang in eine weitere Kammer, bewacht von der Holzfigur des schakalgestaltigen Totengottes Anubis. Jener Raum, dem Carter die Bezeichnung “Schatzkammer” gab, barg Kunstwerke von unermesslichem Wert, darunter den großen goldenen Kanopenschrein des Pharaos. Auch dort mögen Carter und seine Begleiter einige Zeit verbracht haben, bis es sie schließlich wieder zum Aufbruch drängte.

“Während er mit Pecky die putz- und siegelbedeckten Steinblöcke wieder an ihren ursprünglichen Platz schob, beschrieb Carter dem Freund, der wegen seiner Körperfülle hatte zurückbleiben müssen, sicherlich atemlos, was er und die anderen in der Sargkammer gesehen hatten. Zuletzt nahm er den Deckel eines großen geflochtenen Korbes, der neben einem der Wächterlag, und lehnte ihn zusammen mit einem Schilfbündel so gegen das Mauerwerk des Zugangs, daß die Spuren ihrer Öffnung verdeckt wurden.          
An der Schwelle zur Vorkammer fiel Carters Blick noch auf einen wundervollen Gegenstand, einen Becher aus Alabaster. Er übersetzte die Hieroglyphen, mit denen der hauchdünne Rand des Gefäßes, das eine weiße Lotosblüte darstellte, beschriftet war, und gab ihm den Namen »Wunschbecher«, denn der Verfasser der Inschrift wünschte dem Pharao »Millionen von glücklichen Jahren, in denen er sich an den kühlen Brisen aus dem Norden erfreuen soll, während seine Augen die Glückseligkeit gewahren«. Sie nahmen den Wunschbecher mit, verließen das Grab, verschlossen die Öffnung, bestiegen ihre Esel und ritten durch das Tal heim, wortlos, überwältigt.“[9]

Die Komposition mit Schilf und Flechtkorb ist auf den Fotos der Vorkammer gut zu erkennen. Der Einbruch aber blieb unbemerkt – erst einige Tage später würden sie es “offiziell” ein weiteres Mal öffnen.

Der “Wunschbecher” aus dem Grab des Tutanchamun, Hurghada Museum (Foto: Leif Inselmann).

Allzu lebendig beschreibt Hoving diese Ereignisse in seinem Buch auf nicht weniger als 16 Seiten. Dabei lässt sich leider kaum auseinanderhalten, was davon durch die genannten Quellen belegt und was kreative Imagination der Ereignisse ist. Insbesondere Carnarvons unveröffentlichtes Manukript wird über die genannten Ausschnitte hinaus leider an keiner Stelle wörtlich zitiert, geschweige denn als Faksimile abgebildet. Faktisch muss der interessierte Leser also bis auf Weiteres auf Hovings Paraphrasen vertrauen. Doch für das nächtliche Abenteuer gibt es weitere Belege.

Weitere Indizien

Auch der Ägyptologe Nicholas Reeves thematisierte die Affäre in seinem Standardwerk The Complete Tutankhamun am Rande. Als Beleg erwähnt er einen Brief, den Lord Carnarvon am Abend des 28. November an den Ägyptologen Alan Gardiner schrieb.[10] Ganz in Hovings Tradition zitiert Reeves selbst den Brief nicht wörtlich – doch kann es sich dabei eigentlich nur um einen ebenfalls auf den 28. November datierten Brief von Lord Carnarvon an Alan Gardiner handeln, der mittlerweile auf der Seite des Griffith Institute der Universität Oxford veröffentlicht worden ist:

My dear Gardiner

I wrote to my wife yesterday & asked her to give you a message.

The find is extraordinary it is a cache & has been plundered to a certain extent but even the ancients could not completely destroy it after some slight plundering the inspectors shut it again. So far it is Tutankamon beds boxes & every conceivable thing there is a box with a few papyri in – the throne of the King the most marvellous inlaid chair you ever saw – 2 life size figures of the King bitumenised (sic) – all sorts of religious signs hardly known up to date[.] The King[‘s] clothing rotten but gorgeous. Everything is in a very ticklish state owing to constant handlings & openings in ancient times (I reckon on having to spend 2000£ on preserving & packing)[.] The most wonderful ushabti in wood of the King[,] wood portrait head ditto endless staves etc.
some with most wonderful work[.] 4 chariots The most miraculous alabaster vases ever seen 3 colossal beds of honour with extraordinary animals[.] There is a further room so packed [or ‘hacked’ ?] one cannot see really what is there – Some of the boxes are marvellous chairs numerable a wonderful stool ebony & ivory[.]

Then there is a bricked up room which we have not yet opened[.] Probably containing the mummies I should not be surprised to find therein Tut & his wife & Smenkara & his, but so far it[’]s all Tut.

There is enough stuff to fill the whole Egyptian section upstairs of the B.M. I imagine it is the greatest find ever made. Tomorrow the official opening [Wednesday 29th November 1922] & before I leave we peep into the walled chamber.

I some how fancy it is the whole of the Amarna outfit as on the throne the King & wife are represented with sun disk[.]

I hope to be back soon. Carter has weeks of work ahead of him[.] I have between 20 & 30 soldiers police & gaffirs to guard.

Yours C.[11]

Demnach schienen Carnarvon und seine Mitstreiter zu diesem Zeitpunkt bereits den Plan gefasst zu haben, nicht nur die offizielle Öffnung der Vorkammer zu vollziehen, sondern auch in die verschlossene (Grab)Kammer zu blicken. Darin widerspricht der Brief jedoch offenbar der Rekonstruktion der Ereignisse nach Hoving, dem zufolge die heimliche Besichtigung bereits in der Nacht vom 26. auf den 27. November stattgefunden habe. Ab dem 27. November habe es keine Gelegenheit mehr gegeben, da das Grab seit der Inspektion durch Ibrahim Effendi von Abgesandten der Altertümerverwaltung bewacht worden sei.[12] Entweder schreibt Carnarvon hier an Gardiner die Unwahrheit und hatte die Grabkammer bereits betreten, oder Hovings Rekonstruktion weist einen Fehler in der zeitlichen Verortung auf. Leider wird dieser Aspekt bei Reeves oder in anderen Quellen nicht weiter kommentiert. Trotz sich verdichtender Indizien bleibt die Angelegenheit damit undurchsichtig.

Pl. XXI (Wikimedia)

Reeves führt in seinem Buch jedoch noch einen weiteren Beleg an, der einen deutlich greifbareren Eindruck macht. So scheint die bemalte Truhe vor dem Eingang in die Grabkammer (Objekt Nr. 21) noch vor der offiziellen Ausräumung der Vorkammer versetzt worden zu sein: Auf einem Foto, das Howard Carter beim ersten Betreten der Kammer gemacht habe, sei diese in einer anderen Position zu sehen als auf den offiziellen Fotos von Harry Burton (s.o.), wo sie vor dem mit Korb und Schilf verborgenen Räuberloch steht.[13] Allerdings ist das erwähnte Foto vor der mutmaßlichen Betretung des Grabes in keiner der genannten Publikationen abgebildet und war bei den Recherchen für den vorliegenden Artikel nirgendwo aufzufinden. Der prinzipiell einzige intersubjektiv überprüfbare Beleg liegt damit bis auf Weiteres ebenfalls nur aus zweiter Hand vor. 
Eine letzte zeitgenössische Quelle besteht in dem Tagebuch von Lord Carnarvons Halbbruder Mervyn Herbert, der zur Zeit der Ausgrabung ebenfalls das Grab besuchte. Auf der Fahrt zum Tal der Könige soll seine Nichte Lady Evelyn sich ihm anvertraut haben:

„This she did under the strictest promise of secrecy. It is a thing I would never give away in any case, and it is one which I think ought not to be known, at any rate, not at the present. Here is the secret. They had both been into the Second Chamber! After the discovery they had not been able to resist it – they had made a small hole in the wall (which they afterwards filled up again) – and climbed through. She described to me very shortly some of the extraordinary wonders I was soon to see. It was a most exciting drive, I cannot remember anything like it. The only others who know anything about it are the workmen, none of which would ever breathe a word to a soul about it.“[14]

Nirgendwo sonst wird das geheime Abenteuer so explizit und unmissverständlich benannt. Nur Lady Evelyns Vertrauen darauf, keiner der Mitwisser werde ein Wort über die Affäre verlieren, sollte sich – nicht zuletzt durch ihr eigenes Verschulden, doch zu unserem Glück – nicht bewahrheiten: Mittlerweile gehört die Angelegenheit zu den am besten bekannten offenen Geheimnissen der Ägyptologie.

Trotz einer im Einzelnen suboptimalen Quellenlage, die maßgeblich auf individuellen Augenzeugenberichten und nicht vorliegenden Dokumenten beruht, kann die Theorie des nächtlichen Eindringens in die Grabkammer also durch eine ganze Reihe von Belegen plausibel gemacht werden:

  • Lucas’ Berichte über das wiederversiegelte Räuberloch, Carters Geständnis, gehörte Andeutungen und vor Öffnung der Grabkammer in Carters Wohnung gesehene Parfumschatulle (nach Lucas 1942/47)
  • der Brief von Evelyn Herbert an Howard Carter (vgl. James 2000, 464)
  • der Tagebucheintrag von Mervyn Herbert (vgl. James 2000, 260)
  • das Manuskript eines Times-Artikels von Lord Carnarvon (nach Hoving, unveröffentlicht)
  • „weitere Einzelheiten [von] der Tochter von Lady Evelyn Herbert, Mrs. Thomas Leatham“ (nach Hoving, unveröffentlicht)
  • der Brief von Lord Carnarvon an Alan Gardiner (uneindeutig)
  • die unterschiedliche Position der Truhe 21 auf Fotografien vor und nach dem Einstieg (nach N. Reeves, Vorher-Bild nicht aufzufinden)

Angesichts der Vielfalt der Indizien ist eigentlich nicht mehr daran zu zweifeln, dass Carter und seine Mitstreiter die Grabkammer in der Tat bereits lange vor der offiziellen Öffnung betraten. So ist auch dessen andauernde Zuversicht, in der Grabkammer tatsächlich den Sarkophag des Pharaos zu finden, nur allzu verständlich – wusste dieser doch längst, was ihn hinter der wiederversiegelten Tür und innerhalb des goldenen Schreins erwarten würde.         
Zumindest in der Fachwelt scheint sich die korrigierte Abfolge der Ereignisse mittlerweile durchgesetzt zu haben: So heißt es etwa in The Complete Tutankhamun von Nicholas Reeves (1990): „As is now common knowledge, and as was undoubtedly their prerogative, Carnarvon and Carter entered this third chamber within a short time of the discovery.“[15]       
Und auch der ägyptische “Altertümer-Patriarch” Zahi Hawass schreibt im populärwissenschaftlichen Ausstellungsband Auf den Spuren Tutanchamuns:

“Aber schon vor ihrer Öffnung hatte Carter selbst kaum Zweifel mehr an der Funktion dieser neu zu öffnenden Kammer. Für mich und auch viele andere Forscher steht fest, dass Carter zusammen mit Carnarvon und Lady Evelyn schon früher in der Grabkammer gewesen war, vielleicht in der Nacht, obwohl dies niemals öffentlich zugegeben wurde. Wie immer auch ihre Reaktionen am 16. Februar ausgefallen sein mögen, die «goldene Mauer» war keine Überraschung für sie.”[16]

Nichtsdestotrotz bleibt es bedauerlich, dass die Belege nach wie vor nicht in Gänze überprüfbar vorliegen, ja dass mit Carnarvons Times-Manuskript das wichtigste Beweismittel bis heute unveröffentlicht geblieben ist.

Gestört oder nicht gestört – wem gehören die Funde?

Während sich die Arbeiten am Grab über mehrere Jahre hinzogen, hing über allem gleich einem Damoklesschwert eine Frage: Wem gehörten die spektakulären Funde?   
Bis zu diesem Zeitpunkt galt in Ägypten das Gesetz der Fundteilung: Alle Funde, die von ausländischen Ausgräbern in Ägypten gemacht wurden, standen zur Hälfte dem Ausgräber und zur Hälfte dem ägyptischen Staat zu. Dies galt jedoch nur für Gräber, die bereits von Grabräubern geöffnet und geplündert worden waren, was auf die meisten altägyptischen Gräber zutraf. Im Falle eines seit der Antike gänzlich unberührten Grabes aber sollte das gesamte Fundaufkommen dem ägyptischen Staat gehören.
Mit wenigen Ausnahmen – etwa der kontroversen Fundteilung im Falle der Büste der Nofretete – hatte dieses System jahrzehntelang in beidseitigem Einvernehmen funktioniert. Die Aussicht auf einen reichen Anteil an den Funden lockte westliche Museen und wohlhabende Mäzene dazu, Ausgrabungen zu finanzieren, während der ägyptische Staat ohne eigenen Aufwand seine archäologischen Schätze vergrößern konnte.
Unter diesen Voraussetzungen hatte auch Carter seine Ausgrabungen im Tal der Könige begonnen. Sowohl der Finanzier Lord Carnarvon, der zehntausende Pfund Sterling in die Arbeiten investierte, als auch das Metropolitan Museum in New York, das die Ausgrabungen logistisch und personell unterstützte, erwarteten für ihre Aufwendungen dementsprechend einen Anteil der Funde für ihre Sammlungen.

Der innerste Schrein des Tutanchamun. Replik in der Ausstellung “Tutanchamun – Sein Grab und die Schätze”, Reiß-Engelhorn-Museen Mannheim (Foto LI).

Bei der Entdeckung des spektakulären Tutanchamun-Grabes aber kam es zum Widerstreit zwischen den Parteien: Howard Carter, der seine Geldgeber nicht enttäuschen wollte, betrachtete das Grab als gestört, da es bereits in der Antike von Grabräubern geöffnet worden war, womit es unter die Regel der Fundteilung fiele. Die ägyptische Altertümerverwaltung dagegen wies darauf hin, dass das Grab nach dem Einbruch noch zur Zeit des Neuen Reiches wiederversiegelt worden war, und verstand es damit als unberührt – nach diesem Urteil würden Carter und seine Finanziers leer ausgehen oder müssten um einzelne Stücke verhandeln. Somit hatten die Ausgräber ein allzu großes Interesse daran, ein später gestörtes Grab vorzufinden.
So wurde sogar bereits die These geäußert, die Plünderung des Grabes sei in Gänze eine Inszenierung durch Howard Carter, um das eigentlich unberührte zu einem gestörten Grab zu machen und sich damit gemäß der geltenden Fundteilung einen Anteil an den Schätzen zu garantieren. Sämtliche Verwüstungen im Grab seien demnach auf die neuzeitlichen Eindringlinge zurückzuführen.
In der Tendenz ist die Verdächtigung nicht unberechtigt: So hatte Carter ein im Grab gefundenes Siegel dem Pharao Rames IX. zugeschrieben, der in der 20. Dynastie (ca. 1129/5-1111/09 v. Chr.) herrschte. Dies wäre ein Beweis gewesen, dass das Grab – ganz wie die meisten bekannten Gräber – erst in der instabilen Zeit am Ende des Neuen Reiches aufgebrochen worden war, womit es als gestört im klassischen Sinne der Definition gelte. Der Ägyptologe James Henry Breasted von der Universität Chicago konnte jedoch bei den Arbeiten in der Vorkammer nachweisen, dass auch dieses Siegel auf Tutanchamun selbst zurückging, es also keine Belege für eine spätere Schändung als in der späten 18. Dynastie (kurz nach Anlegung des Grabes) gebe, was von der Altertümerverwaltung als ungestört bewertet wurde. Carter behauptete zuvor, dass kein Königsgrab bereits in der 18. Dynastie geschändet worden sei – bis er von Breasted daran erinnert wurde, dass genau dies auf das Grab Thutmosis’ IV. zutraf, das Carter 1903 selbst entdeckt und ausgegraben hatte! Obwohl er also missverständliche Aussagen zur Datierung des Einbruchs vertreten und bereits in der Times publiziert hatte, verzichtete Carter auch nach der Aufklärung durch Breasted auf eine öffentliche Richtigstellung und verschwieg die neuen Argumente auch im ersten Band der Tutanchamun-Publikation.[17]
Demnach scheint Carter hinsichtlich der wissenschaftlichen Wahrheit durchaus flexibel gewesen zu sein, soweit es die antike Plünderung des Grabes und somit seinen Anspruch auf einen Anteil der Funde betraf. Doch richteten er und seine Begleiter bei ihrer nächtlichen Besichtigung selbst umfängliche Verwüstung im Grab an, um eine nicht existente Plünderung durch Grabräuber komplett zu simulieren? Angesichts der umfangreichen Spuren des früheren Einbruchsversuchs, gerade auch in Form des durchgrabenen Eingangskorridors samt verstreuter Fundobjekte, erscheint diese Hypothese in ihrer harten Form unwahrscheinlich. Im Gegensatz zum Faktum des geheimen Einstiegs an sich konnte sich diese in der wissenschaftlichen Lehrmeinung niemals durchsetzen. Doch besteht kaum ein Zweifel daran, dass Carter an der Frage, wann der erste Einbruch der Grabräuber erfolgte, größtes Interesse besaß und zu einem gewissen Grad durchaus nachzuhelfen bereit war.

Archäologen, Politiker und andere Holzköpfe

Trotz der Kontroverse um die antike Störung war beiden Seiten jedoch zunächst an einer Übereinkunft zum beidseitigen Interesse gelegen. Zwischenzeitlich erhielt Carter von Pierre Lacau, dem Leiter der ägyptischen Altertümerverwaltung, in der Tat die mündliche Zusage, Lord Carnarvon werde nach Ende der Arbeiten im Grab eine “exzellente Auswahl von Gegenständen” erhalten. Dieser wiederum sicherte im Gegenzug für dessen umfangreiche personelle Unterstützung auch dem New Yorker Metropolitan Museum of Art einen Anteil der Schätze zu.[18] Doch zeichnete sich immer mehr ein Konflikt zwischen den Interessen der ausländischen Archäologen und der einheimischen Bevölkerung ab.
Dass die bedeutendste archäologische Entdeckung des Landes ganz in kolonialer Tradition allein von Engländern unter Ausschluss der eigenen Landsleute verwaltet wurde, stieß bei einer wachsenden Zahl von Ägyptern auf Ablehnung. So führte das Misstrauen schon bald nach der Grabentdeckung zur Bildung von Verschwörungstheorien, in denen man die Ausländer des Raubes an den Antiquitäten verdächtigte:

“Eine Geschichte, die bei den Eingeborenen ziemlich viel Glauben fand, lautete, drei Flugzeuge seien im Tal gelandet und hätten sich mit Schätzen beladen nach einem unbekannten Ziel entfernt.“[19]

Und auch das anfängliche Einvernehmen mit der Altertümerverwaltung bekam im Laufe der Zeit zunehmend Risse. So hatte Carnarvon der London Times die Exklusivrechte an Bildern und Berichten zu den Arbeiten am Grab zugesprochen, während alle anderen Zeitungen diese nachträglich von dieser zu erwerben hatten. Dies veranlasste nicht nur internationale Medien zu einer gnadenlosen Schmutzkampagne gegen Carter und Carnarvon – besonders die ägyptischen Zeitungen beklagten, dass man sie übergangen habe und ihren Reportern den Zugang zur Grabkammer verwehre. Hinzu kam der ständige Andrang an Besuchern, vor allem aus der lokalen wie internationalen Oberschicht, die das Grab besichtigen wollten, während Carter und sein Team sich noch der Dokumentation und Konservierung der Funde zu widmen versuchten. Erst auf wiederholtes Drängen von Lacau erlaubte Carter schließlich ausgewählten Reportern und Besuchern den Zugang zum Grab, doch der Konflikt schwelte weiter. Weder hatte Carter je ein Talent zum diplomatischen Umgang mit Autoritäten besessen, noch realisierte er, dass die einstigen kolonialen Verhältnisse zwischen Briten und Ägyptern längst ihrem Ende entgegensahen.
Während sein Team sich immer weiter ins Innere des Grabes vorarbeitete, entwickelte sich die öffentliche Stimmung in Ägypten nicht zum Besseren für die ausländischen Forscher. Schließlich gelangte Ende 1923 in Ägypten die nationalistische Wafdisten-Partei an die Macht. Hatte sie bereits Pierre Lacau vor andauernde Probleme gestellt, so war der neue Minister für öffentlichte Arbeiten Morcos Bey Hanna ein erklärter Feind jeder britischen Einflussnahme. Als dieser schließlich sogar die Anwesenheit der Frauen der Archäologen bei der feierlichen Sargöffnung verbot, war für Carter das Fass endgültig übergelaufen. Am 13. Februar 1924 verkündete dieser, die Arbeiten unter den gegebenen Umständen nicht länger fortzusetzen. Stattdessen verschloss er das Grab und brach er zu einer Vortragsreise nach Amerika auf.
In Carters Abwesenheit jedoch kam es zu einem Vorfall, der die Beziehungen zu seinen ägyptischen Gegenspielern abermals nachhaltig beschädigte: Inzwischen war eine Sonderkommission in Ägypten gegründet worden, die damit begann, die Objekte im Grab zu katalogisieren. Nachdem sie das benachbarte Grab aufgeschlossen hatten, in dem Carter Funde und Vorräte zu lagern pflegte, stießen die Beauftragten der Kommission in einer mit “Rotwein” beschrifteten Kiste auf einen lebensgroßen Statuenkopf aus Holz, der Tutanchamun darstellte. Es handelte sich um ein herausragendes Kunstwerk der Amarna-Zeit – das bemerkenswerterweise zuvor nirgendwo registriert oder von irgendjemandem bemerkt worden war. Für die ägyptische Regierung stand sofort der Verdacht der Unterschlagung im Raum – gedachte Carter, das wertvolle Stück an den Behörden vorbeizuschmuggeln?
Rex Engelbach und Pierre Lacau (der aufgrund einer persönlichen Fehde mit Morcos Bey Hanna plötzlich Carter zur Seite sprang) erklärten vorauseilend, Carter habe das Stück bereits 1923 auf einem Markt erworben. Dieser wurde derweil per Telegramm benachrichtigt und meldete sich umgehend zurück: Der Holzkopf sei ihm zufolge zusammen mit anderen Funden im Schutt nahe dem Eingang gefunden worden. Diese habe man vorerst “gruppenweise” verzeichnet, sodass der Kopf nicht einzeln im Fundregister eingetragen wurde.            

Der Kopf des Tutanchamun “aus dem Eingangsschacht” (Wikimedia Commons).

Doch sind auch an dieser Darstellung Zweifel angebracht: Die Funde aus dem Schutt hatte Carter in seine Unterkunft mitgenommen und schon wenige Tage später Engelbach und Lacau gezeigt, der Kopf aber war nicht darunter. Als dieser schließlich aufgefunden wurde, waren die Funde aus dem Eingangsschacht aber längst im ersten Band der Tutanchamun-Reihe publiziert worden – das herausragende Stück aber fand dort ebenso wenig Erwähnung wie in Carters persönlichen Aufzeichnungen. Doch obwohl vieles dafür spricht, dass Carter den Fund zu unterschlagen gedachte, kam es zu diesem Zeitpunkt nicht zur Eskalation. Die Altertümerkommission akzeptierte die Erklärung – oder tat zumindest so.[20]
Das Verhältnis zum ägyptischen Staat aber war fortan vergifteter als bereits zuvor. Noch während Carters Aufenthalt in Amerika folgten weitere Schlammschlachten mit den ägyptischen Autoritäten, die schlussendlich mit der Kapitulation des Briten endeten: Auf dem Rückweg nach England erklärte sich Carter schließlich bereit, öffentlich auf jegliche Ansprüche die Schätze betreffend zu verzichten, damit er die Arbeiten am Grab überhaupt fortsetzen konnte. 
1930 verabschiedete die neue ägyptische Regierung ein Gesetz, das fortan die Ausfuhr jeglicher Antiquitäten verbot – endgültig vorbei waren damit die Tage der Fundteilung. Spätestens jetzt war auch die Zusage von Fundstücken aus dem Grab für die Erben des inzwischen verstorbenen Carnarvon endgültig hinfällig geworden. Jedoch erklärte man sich schließlich bereit, dessen Witwe für die umfangreichen Auslagen eine Entschädigung in Höhe von 36.000 Pfund zuzugestehen, was relativ genau den bisherigen Auslagen oder dem Wert der geforderten Objekte entsprach.
Nach dem jahrelangen Ringen um ihren Anteil scheint dies ein ernüchterndes Ergebnis für die Engländer zu sein. Ironischerweise aber beeinträchtigte die Entscheidung ihre ursprünglichen Wünsche nach einem eigenen Anteil nur bedingt: Denn Howard Carter war es offenbar gelungen, bereits während der mehrjährigen Arbeiten im Grab zahlreiche kleinere Objekte beiseitezuschaffen.

Veruntreuung von Objekten durch Howard Carter

Wie Thomas Hoving als Direktor des Metropolitan Museum of Art rekonstruierte, fanden mindestens 17 Objekte aus dem Grab ihren Weg in dessen Sammlung. Einige davon schenkte oder verkaufte Carter dem Museum zu Lebzeiten, andere wurden nach seinem Tod 1939 aus seinem Nachlass erworben. Zusätzlich erwarb das Metropolitan 1926 die gesamte Carnarvon-Sammlung einschließlich weiterer Tutanchamun-Objekte. Zu den fraglichen Objekten zählen mehrere Kunstobjekte und Schmuckstücke von herausragendem Wert: Zwei Salbgefäße aus Elfenbein, das Fragment eines goldenen Wedels mit Edelstein-Einlegearbeiten, ein lebensechtes Hündchen aus Bronze, außerdem zwei dünne Silbernägel, ein Halskragen aus blauen Fayence-Perlen sowie Ringe aus Gold und Fayence. Hinzu kommen Materialproben von eher wissenschaftlicher Relevanz, etwa ein Stück Quarzit vom Sarkophagdeckel, zwei vergoldete Holzsplitter des Schreins, Leinwand vom Leichentuch und Leinenreste von einem Sack innerhalb des Schreins. 
Auch in anderen Museen und Sammlungen finden sich vereinzelte Objekte, die auf das Tutanchamun-Grab zurückgehen dürften: Das Brooklyn Museum erwarb mehrere Stücke aus dem Nachlass Carters. Andere Kunstwerke zweifelhafter Herkunft finden sich im Cleveland Art Museum (ein Hämatit-Amulett in Form einer Katze), der William Rockhill Nelson Art Gallery in Kansas City (Fragmente einer goldenen Kette) sowie dem Art Museum in Cincinnati (eine kunstvolle Pantherfigur aus Bronze). Ein kostbares Schmuckstück, das Carter offenbar dem ägyptischen König Fuad geschenkt hatte, wurde später von dessen Sohn Faruk dem Ägyptischen Museum übergeben; ebenso mehrere Objekte, die Carters Nichte Phyllis Walker geerbt und dem König ausgehändigt hatte.
Die insgesamt 19 Stücke im Metropolitan Museum wurden nach einigen Verhandlungen 2011 in einer Ausstellung gezeigt und anschließend an Ägypten zurückgegeben.[21] Damit war die zweifelhafte Provenienz der Objekte nun auch offiziell bestätigt. Tatsächlich aber dürften die Stücke nur die Spitze des Eisberges veruntreuter Kunstgegenstände bilden.        
In einem Spiegel-Artikel berichtet der Ägyptologe Christian Loeben vom August-Kestner-Museum Hannover über weitere Objekte aus dem Grab, die in Museen weltweit verstreut sind. So fiel ihm selbst im Louvre eine Uschebti-Figur auf, die mit dem Thronnamen Tutanchamuns beschriftet ist und nur aus dessen Grab stammen könne.[22] Ein erst dieses Jahr (2022) veröffentlichter Brief des schon erwähnten Alan Gardiner an Howard Carter von 1934 erwähnt zudem ein Amulett, das jener offenbar aus dem Grab entwendet und ihm unter Angabe einer falschen Herkunft geschenkt hatte: “The whm amulet you showed me has been undoubtedly stolen from the tomb of Tutankhamun. […] I deeply regret having been placed in so awkward a position.”[23]     
Noch 2015 schreibt Zahi Hawass in seinem Buch über Tutanchamun ernüchternd:

“Immer wieder passiert es, dass am Ende meines Vortrags Leute zu mir kommen und erzählen, dass einst irgendein Familienmitglied oder ein Freund der Familie zur Zeit Carters das Grab besucht habe. Und einige berichten dann auch, dass sie kleine Gegenstände aus diesem Grab besäßen! Da frage ich mich, was für kleine Objekte das sein mögen, aber auch wie viele historischer Splitter durch solche “Geschenke” verloren gegangen sind.”[24]

Licht und Schatten

Die Entdeckung des Tutanchamun-Grabes ist – allenfalls vergleichbar mit Schliemanns Wiederentdeckung Troias – die mit Abstand wirkmächtigste Erzählung der Archäologie: Allgemein etabliert im Geschichtsbild, unzählige Male nacherzählt und reinszeniert in Büchern und Filmen. Doch wie bei den meisten großen historischen Narrativen sieht auch hier die Wahrheit differenzierter aus, ja sind doch Schattenseiten und Ambivalenzen das wiederkehrende Merkmal einer jeden allzu glänzenden Geschichte: Dass Carter und seine engsten Mitstreiter Objekte aus dem Grab des Tutanchamun veruntreuten, steht spätestens seit der Rückgabe durch das Metropolitan Museum nicht länger zur Debatte. Und auch das geheime erste Eindringen der Gruppe in die Grabkammer, obwohl jahrzehntelang unbekannt oder kaum beachtet, ist inzwischen zum Allgemeinwissen zumindest in der Ägyptologie geworden. Aufgrund der möglichen Mitnahme von Objekten sowie der Kontroverse um Zeitpunkt und Umfang des ersten Eindringens von Grabräubern lassen sich beide Affären kaum voneinander trennen. Sie belegen auf spannende bis kontroverse Weise, dass manch große Entdeckungen auch in sich wieder Geheimnisse und weitere Entdeckungen bergen.

Quellen

Hawass, Z. 2015: Auf den Spuren Tutanchamuns, Darmstadt.

Hoving, T. 1978: Der Goldene Pharao. Tut-ench-Amun. Die erste authentische Darstellung der größten archäologischen Entdeckung aller Zeiten, Bern/München.

James, T. G. H. 2000: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, London/New York.

Lucas, A. 1942: Notes on some of the Objects from the Tomb of Tut-Ankhamun. Annales du Service des Antiquités de l’Egypte 41, 135–147.

Lucas, A. 1947: Notes on some of the Object from the Tomb of Tut-Ankhamun. Annales du Service des Antiquités de l’Egypte 45, 133 f.

Reeves, R. 1990: The Complete Tutankhamun. The King. The Tomb. The Royal Treasure, London.


[1] Zitiert nach Hoving 1978, 82.

[2] Lucas 1942, 136: „Of the door leading into the burial chamber, it is stated that „close examination revealed the fact that a small breach had been made near the bottom… and that the hole made had subsequently been filled up and re-sealed“. A considerable amount of mystery was made about this robber’s hole. When I first saw the tomb about December 20th (p. 109), the hole was hidden by the basketwork tray, or lid, and some rushes taken from the floor that Mr. Carter had placed before it, as shown in Plates XVI, XVII, XXI and XLI. Plate XLII shows the hole closed, but Lord Carnarvon, his daughter and Mr. Carter certainly entered the burial chamber and also entered the store chamber, which latter had no door, before the formal opening. Whether Mr. Callender, who was present at the time, also entered the burial chamber, I am not sure, but he was a very big man and I once heard a remark that made me think that the hole was too small to admit him.“ (Üs. LI)

[3] Lucas 1942, 137: „[pp. 90 and 255]. This perfume box was not found in the sarcophagus, as stated by Mr. Carter, but either outside, or inside, the outermost shrine, and I think inside. I saw it at Mr. Carter’s house before the official opening of the burial chamber, and evidently it was found when Lord Carnarvon and Mr. Carter first penetrated into the burial chamber.“ (Üs. LI)

[4] Lucas 1947, 134: „[…] the hole unlike that in the outermost doorway, had not been closed and re-sealed by the cemetery officials, but by Mr. Carter. Soon after I commenced work with Mr. Carter he pointed out to me the closing and re-sealing, and when I said that it did not look like old work he admitted that it was not and that he had done it.“

[5] Hoving 1978, 83 f.

[6] Hoving 1978, 104. Zur Quelle ebd., 389: „Der Brief von Lady Evelyn Herbert an Carter, in dem sie auf die heimliche Besichtigung der Sargkammer anspielt, befindet sich im Archiv der Ägyptischen Abteilung des Metropolitan Museums, New York.“
Den exakten Wortlaut des Briefes siehe bei James 2000, 464:

„Dearest Howard,
I would like to think this letter would reach you on New Year’s Day, but alas it won’t though it will get to you quicker than if I posted it. My dear I wish you just the very best of everything. May you be as happy as you are successful and for many, many years – bless you – you deserve it. By now you are world-renowned and your name dear will be added to the famous men in the annals of history. It is wonderful and I wish you could have flown to England if only for a few hours, for the genuine, universal interest and excitement that your Discovery has created would have thrilled you with pleasure and would have justly rewarded the many years of labour and disappointment that you have had.
Of course one is pestered, morning, noon and night, and I know you are too. There was no place or hour that one was not met by a ‘reporter’ when we first returned. Pups really has had a lot of work to do and was somewhat fatigued when we came down here Sat.[urday]. However, he revels in it all, and when slightly weary calls me in to tell him again and again of the ‘Holy of Holies’, which always acts like a magnum of champagne! I can never thank you sufficiently for allowing me to enter its precincts. It was the Great Moment of my life. More I cannot say, except that I am panting to return to you.
Bless you. My best love
Yrs truly grateful and affect.
Eve.“

Der herzliche Brief wurde von Hoving (ebd.) auch als Indiz dafür angeführt, dass Lady Evelyn sich in Carter verliebt habe, was James (ebd.) wiederum bestreitet.

[7] Hoving 1978, 389.

[8] Hoving 1978, 86.

[9] Hoving 1978, 100.

[10] Reeves 1990, 55: „As is now common knowledge, and as was un-doubtedly their prerogative, Carnarvon and Carter entered this third chamber within a short time of the discovery – to judge from a letter written by Carnarvon to Alan Gardiner, on the evening of 28 November; this was the day before the official opening of the tomb, by which time record photo-graphs of the ancient sealed reclosure had been taken.“

[11] My dear Gardiner. © Wonderful Things Blog / Griffith Institute, Oxford 2013.
Dort findet sich auch ein Scan des Briefes. (Hervorhebung LI)

[12] Hoving 1978, 105.

[13] Reeves 1990, 79, 81.

[14] James 2000, 260. Zur Quelle: „The Mervyn Herbert Journal is partly preserved in the library of the Middle East Centre, St Antony’s College, Oxford. The incident is recorded on fol. 369f.“

[15] Reeves 1990, 55.

[16] Hawass 2015, 88.

[17] Hoving 1978, 125–127.

[18] Hoving 1978, 144 f.

[19] Hoving 1978, 105 nach Carter.

[20] Hoving 1978, 326–334.

[21] Hawass 2015, 236 mit Liste der Objekte.

[22] Archäologie: Raubzug ins Allerheiligste. Spiegel Online, 11.01.2010.

[23] Howard Carter stole Tutankhamun’s treasure, new evidence suggests. The Guardian, 13.08.2022. Der Brief ist veröffentlicht worden in Brier, B. 2022: Tutankhamun and the Tomb That Changed the World, Oxford.

[24] Hawass 2015, 65.