Gräber biblischer Engel am Euphrat entdeckt?

Die Höhlen am Euphrat nahe Anah, Provinz Anbar (Bild nach Shafaqna, 01.08.2022).

Das Ende ist nah! Die vier gefallenen Engel sind aus ihrem Gefängnis in Mesopotamien befreit worden und bereit, die Menschheit zu bestrafen! Kehret um und tut Buße, bevor es zu spät ist, denn die Apokalypse steht bevor! 
So zumindest hört man es seit einigen Monaten in zahllosen englischsprachigen YouTube[1]– und TikTok-Videos[2], Blogs[3] und Facebook-Gruppen des christlich-fundamentalistischen Spektrums, stets illustriert mit den gleichen Bildern rätselhafter Höhleneingänge am Ufer eines Flusses. Bei Google trenden Suchbegriffe rund um „euphrates river 2022“ und „euphrates river drying up“ in einer Reihe neben „bible verse euphrates river“ und „euphrates river fallen angels“. Was aber ist passiert – müssen wir uns Sorgen machen? 
Im Sommer 2022 kam es im Irak zu einer massiven Dürre, der Pegelstand des Flusses Euphrat fiel um mehrere Meter. Am oberen Euphrat, nicht weit der Grenze zu Syrien, tauchten rätselhafte Strukturen an der Uferkante auf – Eingänge in unterirdische Höhlen und Schächte, seit Jahrtausenden unter den Wassern des Flusses verborgen. Bibelfeste Christen fühlten sich angesichts dessen sofort an die Offenbarung des Johannes erinnert, die im Vorfeld des Jüngsten Gerichts folgendes prophezeit:

13 Und der sechste Engel posaunte: und ich hörte eine Stimme aus den vier Ecken des goldenen Altars vor Gott, 14 die sprach zu dem sechsten Engel, der die Posaune hatte: Löse die vier Engel, die gebunden sind an dem großen Wasserstrom Euphrat. 15 Und es wurden die vier Engel los, die bereit waren auf die Stunde und auf den Tag und auf den Monat und auf das Jahr, daß sie töteten den dritten Teil der Menschen.“ (Offenbarung 9, 13–15)

„Und der sechste Engel goß aus seine Schale auf den großen Wasserstrom Euphrat; und das Wasser vertrocknete, auf daß bereitet würde der Weg den Königen vom Aufgang der Sonne.“ (Offenbarung 16, 12)

Bei den freigelegten Höhleneingängen handelt es sich demnach, so sind sich die Internet-Experten einig, um die Gräber oder vielmehr das Gefängnis jener vier biblischen Engel. Zur Zeit der Apokalypse sollen der Euphrat auftrocknen und die Engel befreit werden, auf dass sie ein Drittel der Menschheit töten – nur um damit einer millionenstarken Armee von Königen aus dem Osten den Weg zu bereiten, die sich alsbald bei Armageddon zur finalen Schlacht einfinden soll. Sind die Engel also schon befreit worden – oder noch immer unter der Erde gefangen?      
Im Internet kursiert seit kurzem ein wackeliges Video, das bei der Untersuchung der geheimnisvollen Eingänge aufgenommen worden sein soll: Sehen tut man nicht viel – doch im Hintergrund sind unheimliche Geräusche zu vernehmen, fernes Heulen und unmenschliche Laute. Klingen so die Stimmen von Engeln, die vor Jahrtausenden unter dem Fluss Euphrat eingekerkert wurden und nun an die Oberfläche drängen, um ihr blutiges Werk zu verrichten?

Interesse an den Suchbegriffen „euphrates river bible“ bei Google (Google Trends)

Diese Geschichte klingt auf den ersten Blick allzu phantastisch – selbst für manche radikale Christen, die mit der Existenz biblischer Racheengel an sich gar kein Problem hätten. So wurde etwa bereits innerhalb der Szene die Glaubwürdigkeit des unheimlichen Videos in Zweifel gezogen: Sind doch abgesehen von den rätselhaften Lauten keinerlei andere Geräusche im Hintergrund zu hören – weder der Wind, noch die Stimmen oder Bewegungen der anwesenden Menschen. Auch als der Kameraträger mit der Hand im Sand wühlt, ist kein Geräusch zu vernehmen. Und auf einem Spektogramm fallen klare Unregelmäßigkeiten wie abrupte Lücken und Brüche im Ton auf, die es bei einer durchgehenden Aufnahme eigentlich nicht geben dürfte. Beides deutet stark darauf hin, dass die ursprüngliche Tonspur des Videos komplett mit einer anderen (wahrscheinlich am Computer generierten) überschrieben wurde, es sich also um einen Hoax handelt.[4]         
Dem weniger apokalyptisch geprägten Leser könnten noch weitere Inkonsistenzen in der Geschichte auffallen: So sollen laut der Bibel die Engel eigentlich zuerst befreit werden (Off. 9, 14) und erst dann der Euphrat austrocknen (Off. 16, 12), nicht umgekehrt. Und warum sind bei den Gräbern der vier Engel eigentlich ganze sechs Eingänge zu sehen?     
Doch es bleibt die spannende Frage: Was hat es mit den geheimnisvollen Höhlen auf sich, die allem Anschein nach so unerwartet aus dem Euphrat auftauchten?

Zusammenfassung der Theorie als Internet-Meme (Quelle: Facebook) – einschließlich Rechtschreibfehler beim Wort Revelation.

Eine oberflächliche Recherche via Google gibt schon bald etwas mehr Auskunft: Die gezeigte Ruine ist tatsächlich beim Niedrigwasser 2022 aus dem Euphrat aufgetaucht und befindet sich in der Nähe von Anah in der Provinz Anbar. Dabei handelt es sich keinesfalls um einen Einzelfall – durch die Dürreperiode der letzten Jahre sind auch an zahlreichen anderen Orten altorientalische Ruinen aus den Flüssen „aufgestiegen“, darunter etwa die Stadt Zachiku aus der Zeit des Mitanni-Reiches.[5] 
Die Felsschächte sind offenbar unter dem volkstümlichen Namen „Talbes prison“ (Gefängnis von Telbis) bekannt. Tatsächlich aber handelt es sich um Grabstätten, wie der lokale Archäologe Muhammed Jassim in mehreren Artikeln erläutert:

„Er ist davon überzeugt, dass es sich bei den so genannten “Gefängnissen” um eine Gruppe von Gräbern aus der neuassyrischen Zeit handelt, da die Assyrer während ihrer Feldzüge, mit denen sie die Levante kontrollierten und Ägypten erreichten, durch diese Region zogen. […] Jassim weist darauf hin, dass es sich bei der Stätte um eine Gruppe von in Stein gehauenen Gräbern handelt und dass es eine “Majul-Höhle” gibt, ähnlich der Stätte von Talbis, in der die italienische Expedition arbeitete. Die Menschen der Antike und Bewohner dieser Region gruben diese Gräber, die nicht gewöhnlich sind, sondern zu bedeutenden Personen dieser Zeit gehörten.“[6]

„Er sagte, das “Talbes-Gefängnis” sei eigentlich eine Ansammlung von Gräbern aus der assyrischen Periode, die dieses Reich erobert hat.          
Jassim betonte, dass “das Auftauchen dieser antiken Stätten vorübergehend ist und eine Folge des sinkenden Wasserspiegels des Haditha-Staudamms, so dass wir nicht sicher sein können, dass das Wasser weiter sinken wird, bis Ausgrabungen und archäologische Arbeiten durchgeführt werden. Vor der Trockenlegung des Haditha-Damms führte ein italienisches Archäologenteam Ausgrabungen in diesem Gebiet durch. In den Felsen wurden einige kleine Räume gemeißelt, bei denen es sich höchstwahrscheinlich um die Gräber bedeutender Persönlichkeiten aus jener Zeit handelt.“[7]

In den Artikeln wird die Stätte einer antiken Stadt namens Talbis, Talibs oder Talbes zugeordnet, wobei man sich hinsichtlich der Schreibweise offenbar – selbst innerhalb eines Artikels – nicht ganz sicher zu sein scheint, was an der Transkription aus dem Arabischen liegen dürfte. Dahinter verbirgt sich ohne Zweifel die archäologische Stätte Sur Telbis oder die benachbarte Telbis-Insel. Bei Sur Telbis handelt es sich um eine von mehreren Befestigungen aus neuassyrischer Zeit in der Region.[8] Wahrscheinlich ist es mit dem antiken Sur oder Suru, der Hauptstadt des bereits in assyrischen Quellen erwähnten Reiches von Suḫu (ca. 7. Jh. v. Chr.), zu identifizieren. Bei den gesuchten Gräbern dürfte es sich um eine Reihe von Felsgräbern am Euphratufer gegenüber der Telbisinsel handeln, die bereits in einem Ausgrabungsbericht von 1981 beschrieben werden:

„In den Hügeln auf der Ostseite des Flusses befinden sich die Gräber des Friedhofs von Nufeili, der von Sd. Muhammad ‘Ajaj Jurjis ausgegraben wurde. Diese Mehrfachgräber stammen wahrscheinlich aus der parthischen Zeit und bestehen aus vielen kleinen rechteckigen Kammern, die sich alle zu einem zentralen Bereich hin öffnen. Ähnliche Gräber sind in den Klippen am Westufer des Euphrat gegenüber der Insel Telbis zu sehen.“[9]

Die Gräber sind demnach keinesfalls einzigartig, sondern finden einen nachvollziehbaren archäologischen Kontext. Doch woher stammen diese Informationen, wenn die Stätte doch erst bei der aktuellen Dürre aus dem Euphrat aufgetaucht ist? Tatsächlich ist die aktuelle Entdeckung gar nicht so neu und unerwartet, wie die reißerischen Nachrichten suggerieren.         
Bereits eine einfache Bildersuche über Google fördert einige Artikel aus dem Jahr 2009 zutage, die den Nachrichten von 2022 verblüffend ähneln: Bereits damals waren dieselben Gräber – auf dem Foto eindeutig zu identifizieren – infolge einer Dürre trockengefallen, sodass sie von Archäologen notdürftig untersucht werden konnten.[10] Wie allgemein bekannt, kam es damals nicht zur Auferstehung biblischer Racheengel und der Vernichtung von Milliarden Menschen. Tatsächlich ist das Trockenfallen der Ruinen eher ein saisonales Phänomen, wie der Archäologe Yahi Abdul Majeed im Interview für Shafaqna erklärt: „Das Absinken des Wasserspiegels in der Stadt Anah ist ein altes Naturphänomen, so dass das Flusswasser in der Sommersaison sinkt und die antiken Stätten über das Wasser steigen, um dann in den anderen Monaten des Jahres, insbesondere im Winter, wieder unter Wasser zu stehen.“[11]         
Doch auch vor 2009 lagen die Gräber keinesfalls, wie suggeriert wird, fast dreitausend Jahre lang unter dem Fluss begraben. Tatsächlich wurde der Euphrat in der Region Anbar an der Grenze zu Syrien erst in den 1980er Jahren im Auftrag der Regierung Saddam Husseins durch den Haditha-Staudamm aufgestaut und zahlreiche archäologische Stätten überflutet. Mindestens 75 archäologische Fundorte wurden von 1980 bis 1986 im Rahmen von Rettungsgrabungen archäologisch untersucht, bevor sie allesamt bis auf weiteres unter den Wassern des Euphrat verschwanden. Hierzu gehörten auch die antike Stadt Sur Telbis, die Telbis-Insel sowie die benachbarten Stätten. Die meiste Zeit seit ihrer Errichtung dürften die Gräber also trocken an Land gelegen haben.

Foto der Gräber von 2009 (Bild: Ali Omar für NPR, Quelle)

Fazit: Bei dem angeblichen Gefängnis apokalyptischer Engel handelt es sich um eine Reihe von Felsgräbern aus neuassyrischer (ca. 8.–7. Jh. v. Chr.) oder parthischer Zeit  (ca. 2. Jh. v. – 2. Jh. n. Chr.), die keinesfalls für Jahrtausende unter dem Fluss verborgen waren, sondern bis in die 1980er Jahre permanent und auch danach regelmäßig saisonal trockenlagen. Der Archäologie sind sie seit Jahrzehnten bekannt, wenn auch bislang nur ungenügend untersucht. Massenmordernde Engel wurden in der Gegend aber offenbar noch nie gesichtet.


[1] COOKING WITH LISA (YouTube): Why Everyone Is Looking Up The Euphrates River?
COOKING WITH LISA (YouTube): Tunnel Found Under The Euphrates River

[2] TikTok: the euphrates river Demons underwater

[3] Tales from out there 28.08.2022: The Fallen Angels Chained Under The Euphrates River.

[4] God’s Vision in Motion (YouTube): Mysterious Sounds Underneath The Euphrates River.

[5] Al-Monitor 27.08.2022: Falling waters of Euphrates, Tigris rivers reveal submerged archaeological sites.

[6] Teller Report (nach Al Jazeera) 30.07.2022: The receding Euphrates reveals the secrets of some of the archaeological treasures of western Iraq: „He expresses his belief that the so-called “clothed prisons” are in fact a group of burial tombs dating back to the Neo-Assyrian period, as the Assyrians passed through that region during their military campaigns in which they controlled the Levant and reached Egypt. […] Jassim points out that the site is a group of graves carved in stone, and there is a “Majul Caves” similar to the site of Talbis, in which the Italian mission worked. The ancients and residents of that region dug these graves, which are not ordinary, but belonged to important people in that period.“ (Übersetzung: DeepL)

[7] Al Mayadeen 01.08.2022: Iraq: Receding Euphrates levels unravel underwater ancient areas: „He said, “Talbes prison” is actually a collection of graves belonging to the Assyrian period, which this empire conquered.   
Jassim stressed that “the appearance of these ancient sites is temporary and as a result of the water level of Haditha Dam decreasing, so we cannot be sure that the water will continue to decrease until excavation and archeology activities are carried out. Before draining Haditha Dam, an Italian archaeological team have excavations in this area. Some small rooms have been carved in the heart of the rocks, which are most likely the tombs of important people of that period.“ (Übersetzung: DeepL)

[8] Excavations in Iraq, 1979–80. Iraq 43/2 (1981), 167–198, 197: „Sur Telbis lies on the east bank of the Euphrates just downstream fr of Telbis. The site was investigated in 1980 by a team from the Sta for Antiquities and Heritage led by Sd. Abdul-Jabbar Abdul-M Jur’eh and Sur Muhreh this Neo-Assyrian site is surrounded by enclosure wall, but here the site is not on flat ground but the walls ru river to the top of a small hill. The crest of this hill was protected by was constructed by first building along the inner edge a thin mud then piling up earth and gravel against it. On the side away from the ditch was also dug outside the wall. On the top of the hill a substa was excavated with massive stone foundations. Little remained of of the walls, which would have been made of mud-brick, but it cou this building was built round a courtyard and had its own fortificatio river side no evidence was found for a wall and it is possible that continued down to the river bank.“

Excavations in Iraq, 1981–82. Iraq 45/2 (1983), 199–224, 221 f. „During 1981 and 1982 excavations were carried out at Sur Telbis by the State Organization for Antiquities and Heritage directed by Qahtan ‘Izzi, Salah-ad-din, Hamid Farid, and Nadhir ar-Rawi. The site is built on a slope rising some 26 m above the plain and is surrounded by walls on three sides. The side walls are about 450 m long and the width of the site is about 300 m. At the top of the site is a fortified palace with a building with stone foundations measuring about 50 by 40 m with an internal courtyard about 25 m long by 15 m wide. In front of this building is a second walled area about 25 m wide. This building was excavated in 1980. In 198I and 1982 excavations took place inside the walls on the lower part of the hill. Stone foundations of what were probably substantial buildings were found but the site is too eroded for the floors to have survived and the plans of the buildings are not clear. It seems possible that much of the area within the walls was built up and that Sur Telbis is a likely candidate for the site of Suru, at one time capital of Kudurru the governor of Suhu.“

[9] Excavations in Iraq, 1979–80. Iraq 43/2 (1981), 167–198, 196: „Dug into the hills on the east side of the river are the graves of the cemetery of Nufeili which was excavated by Sd. Muhammad ‘Ajaj Jurjis. These multiple tombs probably date to the Parthian period and consist of many small rectangular chambers all opening onto a central area. Similar tombs are visible in the cliffs on the west bank of the Euphrates opposite the island of Telbis.“ (Übersetzung: DeepL)

[10] Garcia-Navarro, L. 2009: Drought Reveals Iraqi Archaeological Treasures. npr, 20.03.2009.
The History Blog 21.03.2009: Drought reveals ancient ruins in Anbar.

[11] Shafaqna 30.07.2022: Iraq: Lowering Euphrates water level reveals under water ancient areas:
„The decrease in the water level in Anah city is one of the old natural phenomena, so that the river water decreases in the summer season and the ancient places rise above the water, then it goes under water again in other months of the year, especially in winter.“ (Übersetzung: DeepL)