Kernbohrungen im Alten Ägypten

An zahlreichen Bauwerken des alten Ägypten finden sich scheinbar perfekte Bohrlöcher, sogenannte Kernbohrungen, die in der Grenzwissenschaft häufig als Beleg für unbekannte Hochtechnologie wie etwa Diamantbohrer betrachtet werden. Dass solche Kernbohrungen jedoch sehr wohl dem handwerklichen Kenntnisstand der alten Ägypter entsprechen, wurde durch antike Befunde sowie moderne Experimente belegt und von Rainer Lorenz in einem Artikel für Mysteria3000 herausgearbeitet.

Befund

Unter Kernbohrungen versteht man die Bohrung eines Loches mit einem hohlen Bohrer, der somit einen Kern in der Mitte belässt, welcher anschließend abgebrochen wird. Hierzu werden heutzutage in der Regel sogenannte Widia-Bohrer (hart wie Diamant) oder Bohrer mit echten Diamanten verwendet.
Solche Bohrungen sind auch aus dem alten Ägypten verschiedentlich bezeugt, so etwa in Steingefäßen und Keulenkopfen sowie als Verankerungslöcher in Türrahmen, besonders häufig anzufinden in Tempeln. Bereits seit dem Neolithikum sind Kernbohrungen in Hartgestein etwa für Keulenköpfe belegt, ab der 3. Dynastie auch für Gebäude. Mit der Einführung von Bronzewerkzeugen im Mittleren Reich werden sie selten. Dass es sich um Kernbohrungen handelt, wird bisweilen durch die noch zu erkennende Bruchstelle des Kerns (so etwa im Taltempel des Chephren) belegt.
Im alten Ägypten existierten zwei verschiedene Arten von Bohrern: Der ssnht- oder hmt-Bohrer (ein Kurbelbohrer zur Steinbearbeitung) sowie der htjt-Bohrer (ein Drill- oder Fidelbohrer für die Tischlerei und Perlenherstellung). Ersterer ist bildlich gut bezeugt; seine Darstellung wurde zur allgemeinen Hieroglyphe für „Handwerk“. Es handelte sich um ein Kupferrohr – geg. ergänzt durch eine Steinspitze (z.B. aus Diorit) – mit einer Kurbel und angehängten Gewichten. Gebohrt wurde unter Zunahme eines Abrasivs wie etwa Quarzsand – so wurde das Wort für „Schleifsand“ (hmwt) auch mit dem Hieroglyphenzeichen des Bohrers geschrieben. Aus dem Absusir der 5. Dynastie existiert die Reliefdarstellung eines Mannes, der mit der beschriebenen Art Bohrer eine Vase bohrt. Die ägyptischen Bohrtechniken sind also durch bildliche und schriftliche Zeugnisse gut überliefert.

Kontroverse

Bereits Flinders Petrie erinnerten die an ägyptischen Bauwerken vorgefundenen Bohrlöcher an den Einsatz von Diamantwerkzeugen (oder allenfalls noch Korund). Auch in der Grenzwissenschaft wird häufig angenommen, dass Kernbohrungen insbesondere in Hartgesteinen mit der Technologie der alten Ägypter nicht möglich gewesen seien, was somit auf eine vergessene (womöglich außerirdische) Hochtechnologie schließen lässt. Besonders häufig erwähnt werden die Kernbohrungen am Pyramidentempel des Sahure in Abusir.
Behauptet wird in der Regel, dass sich ein hartes Gestein (wie der quarzhaltige Granit) nicht mit einem ebenso harten Schleifmittel (Quarzsand) bearbeiten lasse. Dies trifft so nicht zu, wie beispielsweise an Diamant ersichtlich, der (mangels Existenz eines härteren Materials) mit Diamantstaub bearbeitet wird. Hinzu kommt, dass der Quarzanteil in den fraglichen Gesteinen sehr gering ist, so etwa 5% bei Diorit. Allein die Mohshärte sagt zudem wenig über die Bearbeitungsfähigkeit des Gesteins aus, wofür neben anderen Faktoren vielmehr die Art der Gesteinsverfestigung (Diagenese) entscheidend ist – so ist der Sandstein trotz hohen Quarzanteils sehr leicht zu bearbeiten, da nur durch Kieselsäure gebunden.
Die geringe Härte des Kupferrohres ist hierbei kein Nach-, sondern ein Vorteil: Dadurch pressen sich die Quarzkörner des Schleifpulvers in das weiche Kupfer ein, was diesen gewissermaßen selbst zu einem Quarzbohrer macht – vergleichbar einem Schleifpapier.
Am Pyramidenbezirk des Chephren in Gizeh wurden in den Bohrlöchern in der Tat Schmirgel und Kupferteilchen nachgewiesen, in Bohrungen in Sakkara fand sich durch Kupfer grün verfärbter Quarzsand. Grüne Verfärbungen (durch Kupfer) finden sich weiterhin bei einem Bohrkern aus Sakkara sowie dem berühmten Sarkophag des Sechemchet, welcher offenbar durch Kernbohrungen ausgehöhlt wurde.
Bohrlöcher wie Bohrkerne sind durchweg leicht konisch geformt – Indiz dafür, dass auch der Bohrer selbst sich bei fortschreitender Bohrung abnutzte und somit schmaler wurde, was bei modernen Bohrern mit Diamantaufsatz nicht zu erwarten wäre.
Diamant oder Korund als stattdessen vorgeschlagenes „Schneidematerial“ lassen sich in Ägypten hingegen nicht nachweisen; der Import und das anschließende Verschwinden der zu erwartenden riesigen Mengen wären unrealistisch.

Experimente

Versuche zur Steinbearbeitung durch Kernbohrung mittels altägyptischer Methoden führte der Archäologe Denys Stocks von der University of Mancheter durch. Die Bohrungen gelangen problemlos mit Kupferrohren und trockenem Quarzsand, wobei wie beschrieben der Schleifsand sich im Kupfer festsetzte und dadurch die eigentliche Bohrarbeit leistete. Granit und Diorit konnten mit einer Effektivität von 2cm3/Stunde gebohrt werden, der weichere Alabaster sogar mit 30cm3/Stunde. Die Experimente glückten auch mit Granit, Quarzit, Basalt und Grauwacke. Weitere Experimente vor Ort in Assuan replizierten die Methoden der Ägypter bis ins Detail, wobei die Ergebnisse exakt dem archäologischen Befund entsprechen. Ein 6 cm tiefes Bohrloch ließ sich innerhalb von etwa 20 Stunden, wobei einem geübten Arbeiter eine womöglich doppelt so hohe Geschwindigkeit zuzutrauen sei – anders als bisweilen behauptet konnten alle nötigen Bohrungen eines Bauwerks also sehr wohl in akzeptabler Zeit vollbracht werden.

Die Herstellung von Kernbohrungen allein durch Kupferbohrer mit Quarzsand und ohne weitere unbekannte Hochtechnologie muss somit als gesichert gelten: Der archäologische Befund belegt beide Bestandteile zweifelsfrei und Experimente bestätigen deren Wirksamkeit. Die Annahme unbekannter Faktoren, die über untergeordnete Details hinausgehen, ist somit obsolet.

Quellen

Rainer Lorenz: Kernbohrungen im alten Ägypten. Mysteria3000 Magazin 4 (2002), 15-34.
Teil 1 / Teil 2 / Teil 3 / Teil 4 / Teil 5 / Teil 6

Rezeption Luc Bürgin, Geheimakte Archäologie (203-206) / Erich von Däniken u.a., Jäger verlorenen Wissens (98 f)

Titelbild: Inszenierung im JungfrauPark Interlaken, Foto LI