Schliemann und die mykenische Mumie

„Mumie“ und Goldmaske aus Schachtgrab V, Bestattung Φ (Schliemann 1878, Abb. 454, 473).

Nachdem Heinrich Schliemann seine Ausgrabungen in Troia abgeschlossen hatte, wandte er sich einer weiteren legendären Stätte zu: Mykene, der sagenhaften Königsburg des Agamemnon. Auch hier entriss er eine längst vergessene Zivilisation der Bronzezeit dem Dunkel der Geschichte, die dem historischen Griechenland um Jahrhunderte vorausging und seitdem als Mykenische Kultur bekannt ist. Am bekanntesten sind neben den monumentalen Baubefunden – den schon in der Antike legendären „Zyklopenmauern“, dem Löwentor, den mächtigen Tholosgräbern – zweifellos die Schätze, die Schliemann in den sogenannten Schachtgräbern entdeckte: Die prächtigen Grabbeigaben aus Gold und anderen wertvollen Materialien zeugen vom Reichtum der homerischen Helden und den Austauschnetzwerken, die in der Bronzezeit den gesamten Mittelmeerraum umspannten. Doch ein Fund wirft bis heute Rätsel auf: Stimmt es, dass Schliemann inmitten der Königsgräber eine hervorragend erhaltene „Mumie“ entdeckte?

Beschreibung bei Schliemann

Im Jahr 1876 legte Schliemann fünf reiche Schachtgräber (I–V) innerhalb einer kreisförmigen Baustruktur frei, die in der Archäologie als Gräberrund oder Grabkreis A bekannt ist. Diese stammen aus dem 16. Jahrhundert v. Chr., was dem Späthelladikum I entspricht. Eine jede der Grabkammern, die durch einen senkrechten Grabschacht zugänglich waren, beinhaltete die Bestattungen mehrerer Menschen und war außen in einigen Fällen mit einer steinernen Reliefstele gekennzeichnet.

Das Gräberrund von Mykene (Schliemann 1978, Plan B).

Von besonderem Interesse ist Schachtgrab V, das sowohl den bekanntesten Fund Mykenes als auch die mutmaßliche „Mumie“ enthielt. Im Süden der Grabkammer fand sich das Skelett eines ca. 25-jährigen Mannes von 1,80 m Körpergröße („Individuum T“). Dessen Antlitz bedeckte eine ausdrucksstarke Maske aus Goldblech, die – obwohl das Individuum etwa 400 Jahre vor dem Trojanischen Krieg gelebt hatte – als sogenannte „Goldmaske des Agamemnon“ in die Geschichtsbücher einging und zum bekanntesten Symbol der Mykenischen Kultur wurde. Bei der Bestattung fanden sich weitere kostbare Beigaben in Form einer goldenen Brustplatte, bronzener Schwerter und Dolche sowie weiterer Goldobjekte.          
In der Mitte des Grabes stieß man auf die Bestattung eines weiteren Mannes von ca. 30–35 Jahren („Individuum Y“) ohne viele Grabbeigaben.          
Das am reichsten ausgestattete Individuum (Φ / Phi) fand sich dagegen auf der Nordseite der Grabkammer. Auch dieses trug eine goldene Maske und Brustplatte; zudem fanden sich weitere Bronzeschwerter, zwei als Trankspendegefäße ausgearbeitete Straußeneier sowie zahlreiche Gefäße aus Gold, Silber, Bronze und Alabaster. Schliemann beschreibt den spektakulären Fund ausführlich in seiner Buchpublikation über die Grabungen in Mykene:

 „Aber von dem dritten, am Nordende des Grabes gelegenen Körper war das runde Gesicht mit allem Fleisch wunderbar unter der schweren goldenen Maske erhalten; man sah keine Spur von Haar, jedoch waren beide Augen deutlich sichtbar, ebenso der Mund, der unter der auf ihn drückenden grossen Last weit geöffnet war und alle seine 32 schönen Zähne zeigte. 
Aus diesen schlössen alle Aerzte, die gekommen waren den Körper zu sehen, dass der Mann im frühen Alter von 35 Jahren verstorben sei. Die Nase war ganz verschwunden. Da der Körper für den Raum zwischen den beiden innern Wänden zu lang gewesen, so war der Kopf so auf die Brust gepresst worden, dass der obere Theil der Schultern beinahe in horizontaler Linie mit dem Scheitel des Kopfes lag. Ungeachtet der grossen goldenen Brustplatte war so wenig von der Brust erhalten, dass die innere Seite des Rückgrats an vielen Stellen sichtbar war. In seinem gepressten, verstümmelten Zustande mass der Körper nur 2 Fuss 4 ½ Zoll vom Scheitel bis zum Anfang der Lenden; die Breite der Schultern überstieg nicht 1 Fuss 1 ¼ Zoll und die Breite der Brust 1 Fuss 3 Zoll; jedoch konnten die langen Lendenknochen über die wirklichen Verhältnisse des Körpers keinen Zweifel lassen. So stark war der Druck des Schuttes und der Steine gewesen, dass der Körper auf eine Dicke von 1—1 ½ Zoll reducirt war. Die Farbe des Körpers ist der einer ägyptischen Mumie sehr ähnlich. Die Stirn des Mannes war mit einem einfachen runden Goldblatte geziert und ein noch grösseres Blatt lag auf dem rechten Auge; ausserdem bemerkte ich ein grosses und ein kleines rundes Goldblatt auf der Brust unterhalb der grossen Brustplatte und ein anderes oberhalb der rechten Lende.“[1]

Die hervorragende Erhaltung des Körpers war eine Sensation – und stellte die frühen Archäologen vor das kaum lösbare Problem der Konservierung. Schliemann fährt fort:

„Die Nachricht, dass der ziemlich gut erhaltene Körper eines Mannes aus dem mythischen, heroischen Zeitalter, mit goldenen Schmucksachen bedeckt, gefunden worden sei, verbreitete sich mit Blitzeeschnelle in der ganzen Argolis, und Tausende kamen von Argos, Nauplia und den Dörfern, um dies Wunder zu sehen. Da jedoch niemand im Stande war mir Rath zu ertheilen, wie der Körper erhalten werden konnte, so liess ich einen Maler kommen, um wenigstens ein Oelgemälde davon machen zu lassen, denn ich war besorgt, er mochte zerfallen. Somit bin ich im Stande, unter Nr. 454 ein treues Bild des Körpers zu geben, wie er aussah, als alle goldenen Schmucksachen davon abgenommen waren. Jedoch hielt er sich zu meiner grossen Freude zwei Tage lang, als ein Droguist aus Argos, namens Spiridon Nikolaou, ihn durch Aufgiessen von Alkohol, worin Sandarak [Koniferenharz, Anm. LI] aufgelöst war, hart und fest machte. Da unter dem Körper keine Kieselsteine gesehen wurden, so dachte man, er könnte durch Unterschieben einer eisernen Platte gehoben werden; dies war jedoch ein Irrthum, denn man fand gar bald heraus, dass die gewohnliche Schicht Kieselsteine darunter vorhanden war. Da nun diese durch das starke Gewicht, welches seit Jahrtausenden darauf gelastet hatte, mehr oder weniger in den weichen Felsen eingedrungen waren, so waren alle Versuche vergeblich, die eiserne Platte unterhalb der Kieselsteine hineinzuschieben und diese mit dem Körper zu heben. Es blieb daher nichts anderes übrig, als rings um den Körper einen kleinen Graben in den Fels zu hauen und dann einen horizontalen Einschnitt zu machen, eine 2 Zoll dicke Felsplatte abzulösen, diese mit den Kieselsteinen und dem Körper zu heben, auf ein dickes Bret zu legen, um dieses eine solide Kiste zu machen und letztere nach dem Dorfe Charvati zu senden, von wo sie nach Athen transportirt werden wird, sobald die archäologische Gesellschaft ein passendes Local für die mykenischen Alterthümer gefunden haben wird. Bei den hiesigen elenden Werkzeugen war es eine schwere Arbeit, die grosse Steinplatte horizontal vom Felsen abzutrennen, aber es war noch viel schwerer, diese in der hölzernen Kiste an die Oberfläche und auf Menschenschultern mehr als eine Meile weit nach dem Dorfe Charvati zu schaffen. Jedoch steht all diese Mühe und Arbeit in keinem Verhältniss zu dem grossen Interesse, welches dieser Körper aus dem fernen heroischen Zeitalter für die Wissenschaft hat.             
Der jetzt fast mumificirte Körper war mit einem 4 Fuss langen, 1 ¾ Zoll breiten goldenen Schultergürtel (τϵλαμών) geschmückt […]“[2]

Zeichnung der Bestattungen in Schachtgrab V durch Panagiotis Stamatakis
(zit. nach Papazoglou-Manioudaki/Pachalidis 2018, 84).

Eine Mumie in Mykene?

Was Schliemann beschreibt, ist spektakulär: So soll „das runde Gesicht mit allem Fleisch wunderbar unter der schweren goldenen Maske erhalten“ gewesen sein, sogar „beide Augen deutlich sichtbar“. Insgesamt sei die „Farbe des Körpers […] der einer ägyptischen Mumie sehr ähnlich“ gewesen. Es ist kein Wunder, dass dieser bemerkenswerte Fund in der Folgezeit auch von manchen Fachkollegen aufgegriffen wurde und verschiedene Theorien nach sich zog.        
So schreibt Wolfgang Helbig 1887 in seinem Buch über Das Homerische Epos und dessen archäologische Kontexte:

„Eine besondere Betrachtung erfordert jedoch das oben erwähnte Skelett, an dem sich Teile von Fleisch und von Muskeln erhalten haben. Wie mir mehrere Naturforscher, die ich darum befragt, versichern, lässt sich diese Erscheinung bei einem Leichnam, welcher gegen 3000 Jahre unter einer Schicht von Steinen und Erde gelegen hat, nur durch die Annahme einer künstlichen Konservierung erklären. Schliemann vergleicht das Aussehen jenes Körpers richtig mit dem einer ägyptischen Mumie.“[3]

Im Anschluss führt Helbig zahlreiche weitere Beispiele aus den homerischen Epen sowie anderen antiken Quellen über Praktiken der Einbalsamierung außerhalb Ägyptens auf. So scheint etwa die Haltbarmachung von Toten in Honig in der Antike allgemein bekannt gewesen zu sein, und auch die lange Zeit zwischen dem Tod homerischer Helden und ihrer endgültigen Verbrennung (22 Tage bei Hektor) spreche für eine Art der Balsamierung. Zudem werde bei Homer an drei Stellen das Wort ταρχύειν für „Bestatten“ verwendet, dessen spätere Form ταϱιχεύειν „das Einpökeln, Einmachen, Trocknen oder Einbalsamieren bezeichnet“.[4]       
Darin folgen Helbig auch Tsountas und Manatt 1897:

„More important is the evidence that the Mycenaeans knew and employed the art of embalming. […] This is not improbable, although we have no evidence of the fact from any other grave of this period.“[5]

Im 20. Jahrhundert äußert sich noch George R. Mylonas zu der rätselhaft gut erhaltenen Bestattung: Bei der Einbalsamierung dürfte es sich um einen aus Ägypten übernommenen, wenn auch nie flächendeckend etablierten Brauch gehandelt haben. Möglicherweise handle es sich bei dem Individuum Φ sogar um eine ägyptische Prinzessin, die nach ihrer Hochzeit mit einem mykenischen Herrscher darauf bestanden habe, für ihre Bestattung nach den Sitten ihres Heimatlandes mumifiziert zu werden.[6] Diese Deutung konnte sich in der Forschung jedoch nicht wirklich durchsetzen.[7]       
Doch all diese beziehen sich nur auf die Beschreibung der Ausgrabung. Was aber wurde aus dem Körper, den Schliemann so aufwendig zu konservieren versuchte? Und handelte es sich tatsächlich um eine gezielt mumifizierte Leiche, oder vielmehr eine Bestattung mit zufällig besonders guter Weichteilerhaltung – oder gar eine fantasievolle Ausschmückung Schliemanns, der hier nicht zum ersten Mal der Wahrheit etwas nachgeholfen hätte? Und was wurde aus diesem einzigartigen Fund, der bereits bei der Auffindung für eine solche Aufmerksamkeit sorgte?

Die „Goldmaske des Agamemnon“ (Replik in der Ausstellung Schliemanns Welten, Neues Museum Berlin), Foto LI.

Keine Mumie mehr zu finden

Was mit der rätselhaften Bestattung Φ nach der Ausgrabung geschah, ist gut dokumentiert: Die gesamte Blockbergung wurde mit Gips gesichert und nach Athen verbracht, wo sie bis zum 2. Weltkrieg Teil der Dauerausstellung erst im Polytechnion und dann im Mykenischen Saal des Archäologischen Nationalmuseums wurde. Dort aber hätte eine Mumie aus der mykenischen Bronzezeit ohne Zweifel Aufsehen erwecken müssen, ja wäre bis heute aus keiner populären Darstellung der Mykenischen Kultur wegzudenken.       
Es spricht jedoch vieles dafür, dass der Fund letztendlich weit unspektakulärer war, als es in der ersten Beschreibung den Anschein hat. Obgleich er die hervorragende Erhaltung der Gesichtshaut betonte, so hatte Schliemann selbst doch nie von einer Mumie geschrieben: Vielmehr ähnelte nur die Farbe einer solchen – und als „mumificirt“ bezeichnet er den Körper ausdrücklich erst nach der Festigung mit Harzlösung. Und auch sonst fehlt es an Quellen, die den ungewöhnlichen Eindruck des Grabungsberichts bestätigen.
Panagiotis Stamatakis, der als griechischer Ephoros für Altertümer die Ausgrabungen beaufsichtigte und akribisch dokumentierte, erwähnt in seinen Aufzeichnungen die Ost-West-Orientierung der Bestattung sowie die reichen Grabbeigaben – die Natur des Körpers dagegen thematisiert er mit keinem Wort.[8] Dickinson et al. 2012 spekulieren, ob sein Schweigen, wo er doch sonst auch den Erhaltungszustand der Knochen gewissenhaft beschrieb, vielleicht eine Meinungsverschiedenheit mit Schliemann in dieser Angelegenheit andeute.[9] 
In seinem Begleitband zur Ausstellung der mykenischen Schätze im Polytechnion erwähnt auch Schliemann selbst die Mumie nicht mehr, sondern beschränkt sich auf die Beschreibung der Grabbeigaben sowie des „beschädigten Schädels“ des Individuums mit der „Goldmaske des Agamemnon“.[10]      
Dass spätestens im Museum keine Mumie mehr ausgestellt war, bestätigen weitere zeitgenössische Begleitpublikationen. So beschreibt ein französischer Museumsführer von 1894 die Objekte im Mykenischen Saal des Nationalmuseums:

„Als Schliemann 1876 in der Akropolis von Mykene Ausgrabungen durchführen ließ, förderte er einen wahren Schatz zutage. In einer Tiefe von 7,5 Metern unter dem antiken Boden entdeckte er fünf rechteckige Gräber, die als einfache Gruben in den Fels gehauen waren. Diese Gräber enthielten die Überreste von 15 Skeletten, die auf einem Bett aus Kieselsteinen lagen. Die Skelette waren vollständig mit verschiedenen Goldverzierungen bedeckt, die die Leichen wie ein goldenes Leichentuch umhüllten. Das Gesicht war mit einer goldenen Maske bedeckt, der Kopf mit einem goldenen Diadem geschmückt und die Brust mit einem goldenen Brustpanzer bedeckt.“[11]

Hier ist explizit die Rede von Skeletten, ein mumifizierter Körper wird nicht erwähnt. In ähnlicher Weise nennt ein Museumsführer von 1909 „die Überreste eines der drei Skelette aus dem Grab, die Schliemann zur Zeit der Ausgrabungen Agamemnon zuschrieb“[12]. Eine Publikation von 1935 beschreibt explizit „on a plaster layer remains of a corpse“ und stellt diese der Beschreibung Schliemanns gegenüber – „that is a proof that this body was embalmed but all this has now gone“[13]. In der Dauerausstellung scheint es demnach keinen mumifizierten Körper mehr gegeben zu haben – ein solcher wird auch von Besuchern in keiner bekannten Quelle erwähnt.[14] Vielmehr handelte es sich bei der in einer Gipsschale geborgenen und ausgestellten Bestattung um bloße Skelettreste.   
Auch John Lawrence Angel, der 1937 als erster Anthropologe die Knochen aus den Grabkreisen von Mykene untersuchte, erwähnte in seiner Veröffentlichung 1973 keine „Mumie“.[15]

Neue alte Erkenntnisse

Mit dem 2. Weltkrieg scheint die Bestattung, die zuvor Teil der Dauerausstellung war, zu einem gewissen Grad in Vergessenheit geraten zu sein – nur um später von neuem entdeckt zu werden.
1955 wurde in der Nationalbibliothek von Schottland Schliemanns Album mit dem Ölgemälde wiederentdeckt, das einen größeren Ausschnitt und damit etwas besseren Eindruck über den Fund vermittelt als die grobe Umzeichnung im Mykenae-Buch. Die Oberschenkel und offenbar auch der Torso mit Rippen und Wirbelsäule sind als eindeutig skelettiert zu erkennen, andererseits scheinen die Augenhöhlen in der Tat mit Gewebe bedeckt zu ein. Die Weichteilerhaltung scheint sich also, wie es bereits Schliemanns Bericht andeutet, auf das unter der Maske liegende Gesicht beschränkt zu haben.

Ölgemälde der „Mumie“ (zit. nach Papazoglou-Manioudaki/Pachalidis 2018, 85).

Auch die Gipsschale, in der die Überreste geborgen und ausgestellt worden waren, konnte Ende der 60er Jahre durch George E. Mylonas in der Sammlung des Nationalmuseums wieder identifiziert werden. Die Knochen jedoch waren irgendwann in der Zwischenzeit entfernt worden und nun offenbar zusammen mit den übrigen Skelettresten aus den mykenischen Gräbern eingelagert.[16]
Die Auffindung zweier zuvor offenbar vergessener Skelette aus dem Schachtgrab VI, die 1877 nach Schliemanns Abreise von Stamatakis entdeckt worden waren, führte 2006 zu einer neuen Begutachtung der in der Prähistorischen Sammlung des Archäologischen Nationalmuseums in Athen verwahrten Skelettreste aus den Schachtgräbern. Die Ergebnisse des Projekts wurden 2009–2012 in mehreren Artikeln unter dem Titel Mycenae Revisited veröffentlicht und widmeten sich neben anderen Forschungsaspekten auch der Frage nach der „Mumie“.
Im Zuge der Sichtung des Knochenmaterials konnten insgesamt nur noch 13 relativ kleine Fragmente der Bestattung Φ zugeordnet werden. Vom laut Schliemann perfekt erhaltenen Schädel waren allein ein kleines Schädelfragment, ein Fragment des Unterkiefers sowie fünf Zähne aufzufinden. Die Form eines Knochenfragments deute hierbei – entgegen Schliemanns Beschreibung – auf eine weibliche Person hin, während die Zähne ein Sterbealter von etwa 30 Jahren für das Individuum nahelegen.[17] Nach ursprünglicher Planung sollte ein vierter Teil der Artikelreihe allein der sogenannten „Mumie“ gewidmet werden, doch wurde diese Absicht nach Sichtung der genannten historischen Quellen und der Erkenntnis, dass es sich doch allenfalls um heute nicht mehr auffindbare Skelettreste gehandelt habe, fallengelassen.[18]

Liste der aktuell auffindbaren Knochenfragmente der Bestattung V Φ (nach Papazoglou-Manioudaki et al. 2010, Tab. 27).

Fazit

Hat es die perfekt erhaltene Bestattung, wie sie Schliemann in seinem Bericht beschreibt, also je gegeben? Alle Quellen deuten darauf hin, dass spätestens bei der Ausstellung im Nationalmuseum in Athen nur noch Knochen von dem so reich bestatteten Körper übrig waren. Falls es zuvor eine Weichteilerhaltung gegeben haben sollte, so scheinen diese Teile doch trotz Schliemanns Konservierungsversuchen nicht lange überdauert zu haben. Dass in dem Schachtgrab tatsächlich eine vollständige Mumie gefunden wurde, wie es einige der frühen Forscher suggerieren, geht auch aus dem Grabungsbericht und dem vor Ort angefertigten Ölgemälde nicht hervor. Vielmehr zeigen beide nur eine bedingte Weichteilerhaltung im Kopfbereich, während der Rest des Körpers als vollständig skelettiert erscheint. Es mag also durchaus sein, dass unter der kostbaren Goldmaske eine bestimmte Menge Gewebe überdauert hatte – ob durch Einwirkung des Metalls, einer einfachen Balsamierung (nicht Mumifizierung) vor der Bestattung oder einem glücklichen Zufall der äußeren Erhaltungsbedingungen. Möglicherweise wurde dieser Befund von Schliemann subjektiv etwas höher bewertet als von dem weniger romantisch veranlagten Stamatakis, der keine Auffälligkeiten in seinem Bericht vermerkte. Am Ende verbleibt eine größtenteils skelettierte Bestattung mit allenfalls einer gewissen Weichteilerhaltung im Gesicht, die sich in absehbarer Zeit nach der Ausgrabung aufgelöst haben dürfte, aber ganz sicher keine „mykenische Mumie“.

Quellen

Cavvadias, P. 1894: Les Musées d‘Athènes: Musée National. Musée d’Acropole, Athen.

Dickinson, O. et al. 2012: Mycenae Revisited Part 4. Accessing the New Data. The Annual of the British School at Athens 106, 161–188.

Helbig, W. 1887: Das homerische Epos aus den Denkmälern erläutert. Archäologische Untersuchungen, Leipzig.

Mylonas, G. E. 1966: Mycenae and the Mycenaean Age, Princeton.

Papazoglou-Manioudaki, L. et al. 2009: Mycenae Revisited Part 1. The Human Remains from Grave Circle A. Stamatakis, Schliemann and Two New Faces from Shaft Grave VI. The Annual of the British School at Athens 104, 233–277.

Papazoglou-Manioudaki, L. et al. 2010: Mycenae Revisited Part 3. The Human Remains from Grave Circle A at Mycenae. Part 3. Behind the Masks. A study of the Bones of Shaft Graves I–V. The Annual of the British School at Athens 105, 157–224.

Papazoglou-Manioudaki, L. / Pachalidis, K. 2018: Einem Geheimnis auf der Spur. Schachtgrab V von Mykene, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.), Mykene. Die sagenhafte Welt des Agamemnon, Darmstadt, 81–85.

Philadelpheus, A. 1935: The Museum of Athens, Athens.

Schliemann, H. 1878: Mykenae. Bericht über meine Forschungen und Entdeckungen in Mykenae und Tiryns, Leipzig.

Schliemann, H. 1882: Catalogue des trésors de Mycènes au Musée d’Athènes, Leipzig.

Stais, V. 1909: Collection mycénienne. Guide illustré du Musée national d’Athènes, II volume, Athen.

Tsountas, C. / Manatt, J. 1897: The Mycenaean Age. A Study of the Monuments and Culture of Pre-Homeric Greece, London.


[1] Schliemann 1878, 340.

[2] Schliemann 1878, 341–344.

[3] Helbig 1887, 53. Im Anschluss weitere Beispiele für Einbalsamierung in der Antike außerhalb Ägyptens.

[4] Helbig 1887, 55 f.

[5] Tsountas/Manatt 1897, 95.

[6] Mylonas 1966, 132: „[…] at least 24 skeletons were cleared in the shaft graves of Circle B, making a total of 43 burials. Of these, only the skeleton found in Grave v yielded evidence of embalming. Certainly one instance in 43 cases does not indicate a custom; on the contrary, it proves that embalming was an intrusive element, imported presumably from Egypt, tried but once and then abandoned. It may even be suggested that the person whose body was embalmed was an Egyptian princess, who marrying and dying abroad, asked to be prepared for burial in accordance with the customs of her native land.“

[7] vgl. Papazoglou-Manioudaki et al. 2010, 166.

[8] Papazoglou-Manioudaki et al. 2010, 164.

[9] Dickinson et al. 2012, 179.

[10] Schliemann 1882, 1–10. Vgl. Papazoglou-Manioudaki et al. 2010, 164 f.

[11] Cavvadias 1894, 7 f: „Schliemann ayant fait exécuter des fouil les en 1876 dans l’Acropole de Mycènes a mis au jour un véri table trésor. A une profondeur de 7 mèt. 50 au – dessous du sol antique, il a découvert cinq tombeaux rectangulaires qui étaient de simples fosses creusées dans le roc. Ces tombes conte naient les restes de 15 squelettes reposant sur un lit de cailloux. Les squelettes étaient entièrement recouverts de diverses parures d’or, qui faisaient aux cadavres comme un linceul d’or. Le visage était couvert d’un masque en or; la tête était ornée d’un diadème en or et la poitrine recouverte d’une cuirasse d’or.“ (Üs: DeepL)

[12] Stais 1909, 62: „les restes d’un des trois squelettes de ce tombeau, que Schliemann, au moment des fouilles, attribua à Agamemnon!“ (Üs: DeepL).

[13] Philadelpheus 1935, 62–63, zit. nach Papazoglou-Manioudaki et al. 2010, 165.

[14] Dickinson et al. 2012, 179.

[15] Dickinson et al. 2012, 179 / Papazoglou-Manioudaki/Pachalidis 2018, 85.

[16] Papazoglou-Manioudaki et al. 2010, 166.

[17] Papazoglou-Manioudaki et al. 2010, 212 f.

[18] Dickinson et al. 2012, 162: „From the first we promised five articles, of which Part 4 was to be a study of the ‘mummy’ from Shaft Grave V (Papazoglou-Manioudaki et al. 2009, 234; 2010, 157). However, the detailed study of the remains from Grave V and of the accounts of their excavation and transfer to Athens confirmed what many already suspected, that the term ‘mummy’ was a misnomer, while the bones associated with the plaster casing later described as containing it appear to have become separated from the casing and either lost or mislaid (Papazoglou-Manioudaki et al. 2010, 164–6, 213–14; see further below). Like the human remains from Grave VI, it is of course always possible that one day they will unexpectedly reappear, but that day has not yet come. Therefore this final article has become number four in the series.“