Ausstellung + Buch: Mondhörner. Rätselhafte Kultobjekte der Bronzezeit

Mondhörner in der Ausstellung „Mondhörner – Rätselhafte Kultobjekte der Bronzezeit“, Neues Museum Biel (Foto LI).

„Mondhörner: Rätselhafte Kultobjekte der Bronzezeit“ – Unter diesem Titel widmete sich 2020–2022 eine Ausstellung in vier Schweizer Museen einer rätselhaften Gattung archäologischer Funde. Nun, ein halbes Jahr später, ist endlich auch der zugehörige Begleitband von Kurt Derungs erschienen. Was hat es auf sich mit den auch als „Feuerbock“ oder „Mondidol“ bezeichneten Objekten, deren Funktion bis heute Rätsel aufgibt?

Merkmale der Mondhörner

Bei den sogenannten „Mondhörnern“ handelt es sich um mehr oder weniger halbmondförmige Objekte aus Ton (seltener Stein), die einen Körper und mehr oder weniger deutliche „Hörner“ zu beiden Seiten aufweisen. Sie entstammen vor allem der spätbronzezeitlichen Urnenfelderkultur (ca. 1300–800 v. Chr.) und verschwinden mit deren Ende; nur im Osten kommen sie noch bis in die eisenzeitliche Kalenderbergkultur (ca. 800–600 v. Chr.) vor. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckt sich von Frankreich über Süddeutschland und die Schweiz bis Österreich, Tschechien, die Slowakei und Ungarn. 
Das erste Mondhorn – ein vollständiges Exemplar aus Sandstein (Bild 1, ganz hinten) – wurde 1851 von Georg Escher auf dem Ebersberg im Kanton Zürich entdeckt, einer urnenfelderzeitlichen Höhenbefestigung. In den folgenden Jahren kamen zahlreiche weitere Funde vor allem im Bereich der Pfahlbausiedlungen der Schweizer Seen zutage, die von der zeitgenössischen Archäologie intensiv untersucht und diskutiert wurden. Im Geiste der frühen Archäologie sprach man die Objekte zunächst als keltisch an. Allein aus der Schweiz sind über 1000 Mondhörner bekannt, teils mehrere hundert aus einzelnen Seeufersiedlungen. Bereits im 19. Jahrhundert wurde die Funktion der Objekte diskutiert und verschiedene Interpretationen etwa als Feuerbock, Nackenstütze oder Giebelzier vorgeschlagen, die sich teilweise in den bis heute gebräuchlichen Bezeichnungen niederschlugen.  
Ein großer Teil der bekannten Mondhörner stammt aus Siedlungen, wo sie im Raum einstiger Häuser sowie in Gruben auftreten. Erst ab dem 9. Jh. v. Chr. erscheinen sie auch als Beigaben in Gräbern, während sich andere womöglich als rituelle Deponierungen ansprechen lassen. Mit wenigen Ausnahmen wurden die meisten Mondhörner in Form unvollständiger Fragmente aufgefunden, da sie offenbar zum Ende ihrer Gebrauchsspanne bewusst zerbrochen wurden. Daher lässt sich die Form vieler Mondhörner nur annähernd rekonstruieren.

Noch mehr Mondhörner in der Ausstellung „Mondhörner – Rätselhafte Kultobjekte der Bronzezeit“, Neues Museum Biel (Foto LI).

Die tönernen Objekte sind meist nur schlecht gebrannt, was sie von zeitgleicher Gebrauchskeramik unterscheidet. Daneben sind wenige Exemplare aus Stein überliefert, wobei sich auch die einstige Existenz von Mondhörnern aus Holz in Betracht ziehen lässt. Die Größe variiert zwischen Miniaturformen von nur 5 cm (Exemplar von Unteruhldingen-Stollenwiesen) bis zu gewaltigen Stücken von 84 cm Länge und 20 kg Gewicht (Mondhorn vom Kalenderberg), wobei der Großteil sich in einem Bereich zwischen 20 und 40 cm bewegt.     
Hinsichtlich der Form sind Mondhörner eine bemerkenswert vielfältige Fundgattung: Es lassen sich mehrere Varianten unterscheiden, wobei jedoch jedes Exemplar individuell und einzigartig gefertigt zu sein scheint. Neben halbmondförmigen Hörnern mit rundem Nacken kommen kastenförmige Stücke vor, deren „Hörner“ nur leicht hervorragen. Alle Mondhörner sind zum Aufstellen geeignet: Während kastenförmige Mondhörner auf ihrer ganzen Länge stehen, weisen andere einen mehr oder weniger abgesetzten Standfuß auf. Einige Exemplare vor allem der östlichen, bereits eisenzeitlichen Kalenderbergkultur besitzen sogar zwei oder mehr Füße. Viele Mondhörner sind mit abstrakten Mustern verziert, die vor allem aus Riefen und Rillen, Reihen von Fingertupfen oder runden Einstichen bestehen. Wiederholt kommen auch konzentrische Kreismuster oder plastisch herausgearbeitete Leisten vor. Bei einigen Exemplaren sind die Hornenden zu stilisierten Stier-, Widder- oder Vogelköpfen ausgearbeitet, was eine weitere Bedeutungsebene vermuten lässt. Mondhörner aus Gräbern sind häufig auf Schalen oder Keramikplatten befestigt. Besonders bemerkenswert sind Exemplare der Kalenderbergkultur, bei denen die Hörner durch Speichen ähnlich einem Rad mit dem Körper verbunden sind.           
Viele Mondhörner weisen zudem sekundäre Brandspuren auf, die jedoch nur bestimmte Bereiche (Rückseite, Nacken, Außenseiten) und nicht das gesamte Objekt betreffen.

Feuerböcke, Nackenstützen, Giebelzier? – Die Interpretation der Mondhörner

Bereits seit der Entdeckung der ersten Mondhörner Mitte des 19. Jahrhunderts wurden unter Archäologen verschiedene Deutungen der rätselhaften Objekte diskutiert – ein Diskurs, der bis heute nicht abgeschlossen ist.           
Besonders in der deutschen Forschung werden die Mondhörner vielfach als „Feuerbock“ oder symbolische Nachbildung eines solchen angesprochen. Demnach dienten Paare der Objekte als Unterlage für Feuerholz, wie es von metallenen Feuerböcken anderer Epochen bekannt ist. Gegen die erstmals von Rudolf Meringer (1891) vorgebrachte Interpretation spricht jedoch die schlechte Brennqualität der Mondhörner, deren Inneres mitunter nicht einmal durchgebrannt ist. Besonders kleine Stücke scheiden als real verwendete Feuerböcke eindeutig aus. Zudem wurden Mondhörner kaum jemals in identischen Paaren aufgefunden. Nur manchmal fanden sie sich in der Nähe von Feuerstellen; Brandspuren sind nur gelegentlich und dann partiell an einzelnen Seiten belegt. Da die Mondhörner meist eine stärker verzierte „Schauseite“ besitzen und Brandspuren mitunter nur an der Rückseite auftreten, könnten diese jedoch durchaus am Herdfeuer gestanden haben, womöglich als eine Form von Hausaltar.
Nach einer anderen Theorie, die vor allem zwischen 1873 und 1883 in der französischsprachigen Forschung vertreten wurde, handelte es sich um Nackenstützen, auf die man beim Schlafen den Hals legte. Solche Objekte sind etwa aus dem Alten Ägypten (u.a. im Grab des Tutanchamun) und vielen rezenten Kulturen gut bekannt – doch bei näherer Betrachtung scheinen die Mondhörner dafür wenig geeignet. „Gegen diese Theorie stehen die tonerdigen, zerbrechlichen, instabilen, schmalnackigen und vielfach engen Mondhörner, die eine solche Schlafposition gar nicht erlauben. Bei den Miniatur-Mondhörnern erübrigt sich ohnehin jeder Gedanke an Nackenstützen, und auch bei den größeren Exemplaren wären die oft gezähnten Ränder beim Liegen eine Tortur.“ (152) Die Nackenstützentheorie wird daher heute nicht mehr vertreten. 
Die Giebelziertheorie geht dagegen davon aus, dass die Mondhörner als Verzierung am Giebel oder über dem Eingang von Häusern angebracht waren. Eine vergleichbare Giebelzier ist etwa auf bronzezeitlichen Felsbildern und in Form der spätbronze- bis früheisenzeitlichen Hausurnen belegt. Dagegen spricht jedoch der Fundkontext: Die Mondhörner wurden nie an der Vorderseite von Häusern, sondern meist in deren Inneren oder entlang der Wände aufgefunden. Zudem fehlen den Hörnern Teile zur Befestigung; auch bei Wind und Wetter zu erwartende Erosionsspuren sind nicht zu beobachten.        
Die meisten Forscher – so auch Derungs – gingen und gehen schließlich davon aus, dass die Mondhörner vielmehr eine religiös-kultische Funktion erfüllten, etwa als Hausaltar. Hierfür spricht, dass ein Großteil der aufgefundenen Objekte offenbar intentional zerbrochen wurde und nur Einzelteile in den Befund gelangten. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Mondhörner am Ende einer bestimmten Nutzungsdauer – nach ihrem Einsatz bei Ritualen oder in einem zyklischen Wechsel – rituell zerstört und deponiert wurden, wie es auch von anderen mutmaßlich kultischen Deponierungen der Zeit (etwa Waffenopfern in Gewässern oder bronzenen Kesselwagen) belegt ist. In dieses Schema passt besonders der Fund aus Cham/Oberwil-Äbnetwald: Dort wurde ein in gleichmäßige Stücke zerbrochenes Mondhorn zusammen mit Fragmenten von vier Keramikgefäßen, einem runden Rillenstein und einem grob bearbeiteten Statuenmenhir in einer ovalen Grube zwischen Steinen deponiert. Manche Mondhörner besitzen Mulden mit Brandspuren an der Oberseite, in denen kleinere Opfergaben wie etwa Getreide verbrannt worden sein könnten.

Depotfund von Cham/Oberwil-Äbnetwald in der Ausstellung „Mondhörner – Rätselhafte Kultobjekte der Bronzezeit“, Neues Museum Biel (Foto LI).

Auch wenn sich im Falle einer kultischen Funktion die genauen religiösen Vorstellungen nicht mehr rekonstruieren lassen, so legt die Form des Mondhorns doch –  wie der Name bereits andeutet – vor allem zwei Interpretationen nahe: Die Form der Objekte erinnert deutlich an eine Mondsichel. Wie die Sonne ist auch der Mond in der bronzezeitlichen Ikonographie wiederholt belegt und dürfte eine wichtige Rolle im Weltbild gespielt haben – das bekannteste Beispiel stellt zweifellos die (ältere) Himmelsscheibe von Nebra dar.
Eine weitere Parallele für die Silhouette der Mondhörner findet sich in Rinderhörnern, die ebenfalls in vielen Kulturen als Symbolgut belegt sind. So führt Derungs als Vergleichsfunde Bukranien (dekorative Stiergehörne an Hauseingängen) aus jungsteinzeitlichen Seeufersiedlungen des Alpenraums sowie Reliefs aus den Felsgräbern von Pinara in Lykien (Kleinasien) an, wobei erstere deutlich älter datieren als die Mondhörner (mittleres 4. Jt. v. Chr.).        
Beide Bedeutungsebenen – Mondsichel und Rindergehörn – könnten sich in der Vorstellungswelt der Bronzezeit durchaus ergänzt haben, doch müssen solche Erwägungen bis auf Weiteres im Bereich der Spekulation verbleiben.

Stiermenschen mit „Mondhorn“ im Felsheiligtum von Yazılıkaya, Türkei
(Ausschnitt nach Seeher 2002[1], Abb. 2)

In der Ausstellung und Publikation macht Kurt Derungs auf Parallelen in Bildquellen aus dem östlichen Mittelmeerraum aufmerksam, die den mitteleuropäischen Mondhörnern bemerkenswert ähneln. Hierzu zählt etwa das bemerkenswert ähnlich aussehende „Kulthorn von Mochlos“ auf Kreta, das mit einer Entstehung um etwa 2500 v. Chr. deutlich älter datiert. Die Darstellung eines Altars mit Stiergehörn erscheint auch auf einer Stele für den Gott Salm aus dem nordarabischen Tayma um 600 v. Chr., wobei sich auch in der Levante verschiedene Belege für gehörnte Altäre finden dürften.    
Eine weitere bemerkenswerte Parallele sieht Derungs in einem Relief aus dem hethitischen Felsheiligtum von Yazılıkaya (Türkei). Dort halten zwei Stier-Mensch-Mischwesen (möglicherweise die mythischen Stiere Šeri und Hurri), auf dem hieroglyphenluwischen Zeichen für „Erde“ stehend, eine Mondsichel in die Höhe. Diese Mondsichel, die in der hieroglyphenluwischen Schrift für „Himmel“ steht, ähnelt deutlich den mitteleuropäischen Mondhörnern, einschließlich vierer Kreise im Inneren. Mit einer Enstehung im 13. Jh. v. Chr. entspricht das Felsheiligtum der Zeit der frühesten Mondhörner.      
Ob zwischen den ostmediterranen Darstellungen und den mitteleuropäischen Mondhörnern trotz der großen Entfernung eine Verbindung besteht, wie in der Publikation suggeriert, ist eine spannende Frage. Doch um diese Theorie archäologisch glaubwürdig zu untermauern, müsste durch  weitere Funde zunächst eine räumliche und zeitliche Kontinuität zwischen den bislang getrennten Traditionen hergestellt werden.

Die Ausstellung

Mondhörner-Ausstellung im Neuen Museum Biel (Foto LI)

Von 2020 bis 2022 wurde die von Kurt Derungs initiierte Mondhörner-Wanderausstellung an vier Standorten in der Schweit – dem Museum Baselland, Museum für Archäologie Thurgau, Burghalde Museum Lenzburg, Museum für Urgeschichte(n) Zug und dem Neuen Museum Biel – präsentiert. Gezeigt wurde eine Auswahl von zahlreichen Mondhörnern aus der gesamten Schweiz, die das gesamte Formenspektrum der rätselhaften Objekte abbilden. Zu den herausragendsten Exponaten zählten das erste entdeckte Mondhorn vom Ebersberg am Rhein sowie der Depotfund von Cham/Oberwil-Äbnetwald. Verschiedene Texttafeln gaben grundlegende Informationen zu den Objekten, der Forschungsgeschichte und auch den möglichen Verbindungen in den Ostmittelmeerraum. Dagegen wurden die verschiedenen funktionalen Interpretationen überraschenderweise kaum diskutiert. Objekte und Informationen der Ausstellung und darüber hinaus finden sich in der im Folgenden zu besprechenden Begleitpublikation.

Das Buch

Im Dezember 2022 – etwa ein halbes Jahr nach dem Ende der letzten Ausstellung in Biel – erschien nun endlich auch die angekündigte Begleitpublikation. Mondhörner – Rätselhafte Kultobjekte der Bronzezeit von Kurt Derungs bildet damit nicht nur den Katalog der genannten Ausstellung, sondern auch die erste monographische und populärwissenschaftliche Publikation zum Phänomen der Mondhörner insgesamt. Es handelt sich um ein hochwertiges, großformatiges Hardcover von 191 Seiten.  
Der erste Abschnitt gibt einen Abriss über die Forschungsgeschichte in der Schweiz, wo die Mondhörner maßgeblich mit den frühen Untersuchungen der Pfahlbausiedlungen an mehreren Seen verbunden sind. Anschließend an eine Einführung zu „Verbreitung und Zeitstellung“ der Mondhörner werden Funde und Forschungsgeschichte der Länder Frankreich, Deutschland, Österreich und Ungarn erläutert. Hierbei fehlen jedoch leider Tschechien und die Slowakei, aus denen ebenfalls zahlreiche und teils sehr eindrucksvolle Mondhörner überliefert sind. Das Kapitel „Merkmale und Verzierungen“ geht auf die vielfältigen Formen der Mondhörner und ihrer Verzierungen ein.

Besonders kunstvolles Mondhorn der Kalenderbergkultur aus Chorvátsky Grob (Slowakei), 7. Jh. v. Chr. Historisches Museum Schloss Bratislava, Foto LI (nicht in Ausstellung & Buch zu sehen).

Es folgt der Katalog der in der Ausstellung gezeigten Objekte, insgesamt 20 Fundorte mit teilweise mehreren Mondhörnern. Es wird jeweils auf die Forschungsgeschichte eingegangen, die Mondhörner selbst in hochwertigen Fotos und mitunter Detailabbildungen präsentiert.
Die nachfolgenden Kapitel widmen sich der Interpretation der Mondhörner. Neben den Theorien zur praktischen Verwendung (Nackenstütze, Giebelzier, Feuerbock), die allesamt aufgrund nachvollziehbarer Argumente verworfen werden, diskutiert Derungs die verschiedenen Motive der Verzierungen und mögliche Analogien als symbolische Mondabbildung oder Rindergehörn. Ein letzter Abschnitt besteht aus „Historischen Dokumenten zur Fundgeschichte“, d.h. Auszügen aus der frühen Forschungsliteratur einschließlich historischer Tafeln.

Das Buch besticht durch die Abbildung zahlreicher Mondhörner, die einen guten Eindruck von dem Gesamtphänomen vermittelt. Zu loben ist weiterhin die umfangreiche Thematisierung der Forschungsgeschichte und der einschlägigen Forschungsliteratur, die einen guten Überblick über die Mondhornforschung vor allem, aber nicht nur in der Schweiz vermitteln.
Negativ fallen dagegen Derungs‘ Ausführungen zur Interpretation der Mondhörner aus, bei denen dieser immer wieder in Schwurbelei über die angeblichen religiösen Vorstellungen der Vergangenheit abdriftet. Über diese meint Derungs, allzu viel zu wissen:

„Stele und Zeichen verdeutlichen dabei die Terra Mater in der Schöpfung des Lebens, die mit Attributen wie Lebenskraft, Regeneration, zyklischer Verlauf der Natur sowie Erneuerung des Lebens konnotiert ist.“ (54)

„Die Hausurne als Totenhaus der Verstorbenen ist also gleichzeitig ein Raum der Geburt sowie der Wiederkehr der Toten.“ (154)

„Die Mondhörner waren demnach eine tonerdige Spielart der frühgeschichtlichen, an den Hütten befestigten Rinderschädel, um Haus und Hof durch den (Ahnen)-Geist des mythischen Tieres zu schützen. Das Stärke, Kraft und Abwehr symbolisierende Tiergehörn wurde sogar nach der Bronzezeit im europäischen Brauchtum weiter verwendet, wie die zahlreichen Boviden- und Capriden-Hörner am Stall in der alpinen Tradition belegen.“ (157)

All dies ist natürlich reine Fantasie – mangels Schriftzeugnissen wissen wir nichts Genaues über die religiösen Vorstellungen der Bronzezeit, sondern können allenfalls vage spekulieren. Die Annahme einer ungebrochenen Kontinuität zwischen spätbronzezeitlichem, ja sogar neolithischem Kult und neuzeitlichem Brauchtum bleibt nicht nur unbelegt, sondern gemahnt auch unangenehm an romantisierende bis völkische Geschichtskonstruktionen des 19. Jahrhunderts. Die offensichtliche Affinität zu den Motiven rund um die zyklischen Erneuerung des Lebens könnte wiederum auf die zweifelhaften Theorien von Marija Gimbutas zurückgehen. Das aus Mondhörnern und hethitischen (!) Quellen abgeleitete „Drei-Welten-Bild“ aus Erde, Himmel und Weltsäule wird ohne weitere Begründung als „Symbolzeichen eines alten Weltbildes“ (147) gedeutet, als ob „alt“ eine klar definierte historische Epoche wäre und wir aus dieser irgendwelche aussagekräftigen Quellen überliefert hätten. Es scheint, dass Derungs hier unkritisch gewisse religiöse Vorstellungen a priori als gewissermaßen „archetypisch“ gegeben voraussetzt, ohne dass dies einer Begründung im einzelnen kulturellen Kontext bedürfe.  
Hier zeigt sich, dass der Autor von Hause aus kein Archäologe ist, sondern Kulturanthropologe und offensichtlich nur bedingt vertraut mit archäologischer Methodik. Dies ist umso trauriger, als sich aus dem faszinierenden Thema eine Reihe von archäologischen Fragestellungen ergeben, die sich anhand der Materialbasis gut beantworten lassen sollten. Dabei könnten ausgerechnet die Kernkompetenzen der Archäologie – Typologie und Chronologie – in Bezug auf die Mondhörner spannende Erkenntnisse versprechen:

  • Haben die verschiedenen Formen von Mondhörnern eine unterschiedliche geographische Verbreitung – tauchen je nach Region verschiedene Typen auf, oder existieren alle Typen nebeneinander? Gibt es eine chronologische Entwicklung – von naturalistischen zu abstrakten, von einfachen zu komplexen Formen (oder umgekehrt)?
  • Wie ist die Verbreitung vergleichbarer Objekte und Symbole auf dem Balkan – gibt es eine räumliche Kontinuität zwischen dem mitteleuropäischen Verbreitungsgebiet und dem ägäisch-anatolischen Raum?
  • Derungs nennt Bukranien (Stiergehörne) aus jungsteinzeitlichen Pfahlbausiedlungen des mittleren 4. Jahrtausends v. Chr. als weitere mögliche Parallele. Gibt es Funde aus den dazwischenliegenden zweitausend Jahren, also eine zeitliche Kontinuität zu den jungbronzezeitlichen Mondhörnern?

Überregionale Kartierungen der Mondhornfunde anhand von Typen und Zeitstellung hätten hier bemerkenswerte Ergebnisse liefern können – doch Verbreitungskarten sucht man im Buch leider vergebens. Die fehlende Vertrautheit mit archäologischer Arbeit zeigt sich auch in Derungs‘ wiederholter Kritik an der Bezeichnung von Mondhörnern als „Feuerbock“ in Publikationen und Ausstellungen. Hierbei suggeriert er, damit werde tatsächlich eine funktionale Deutung als Feuerbock postuliert, und vergisst, dass es sich bei dem Begriff mittlerweile um einen reinen terminus technicus der archäologischen Formenkunde handelt, mit dem man eine bestimmte Fundgattung bezeichnet, ohne damit eine Aussage über die tatsächliche Verwendung zu machen[2] (so z.B. Matzerath 2009, 165).

Fazit: Trotz gewissen Mängeln bietet Mondhörner – Rätselhafte Kultobjekte der Bronzezeit von Kurt Derungs bis auf weiteres die beste (zumal einzige) monographische Einführung in das Phänomen der Mondhörner, insbesondere für den Schweizer Raum. Ein ausführlicher Fundkatalog sowie umfangreiche Ausführungen zur Fund- und Forschungsgeschichte sowie der Diskussion um die Deutung der Mondhörner machen das Buch zu einer lohnenden Anschaffung für Interessierte an der mitteleuropäischen Bronzezeit und zu einem guten Ausgangspunkt für weitere Forschungen. Doch hätte das Werk deutlich gewonnen, hätte sich der Autor anstelle unbelegter religiöser Spekulationen lieber solider Archäologie – Typologie und Kartierungen – gewidmet.

Derungs, K. 2022: Mondhörner: Rätselhafte Kultobjekte der Bronzezeit, Basel/Frankfurt.

192 Seiten
Librum Publishers
ISBN: 978-3-906897-68-4

65 CHF / 65 €
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Open Access ab Mitte 2023 bei LIBRUMopen.


[1] Seeher, J. 2002: Ein Einblick in das Reichspantheon. Das Felsheiligtum von Yazılıkaya, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hg.), Die Hethiter und ihr Reich. Das Volk der 1000 Götter, Bonn, 112–117.

[2] So zum Beispiel Matzerath, S. 2009: Feuerböcke und Mondidole aus Gräbern – Ein Beitrag zum Symbolgut der späten Bronze- und frühen Eisenzeit Mitteleuropas. Archäologische Informationen 32/1&2, 165–172 (165).