Krypta im Grand Canyon

Am 5. April 1909 erschien in der Zeitung Arizona Gazette ein umfangreicher Artikel (s.u.) über den Fund eines ausgedehnten Höhlensystems im Grand Canyon, das eine Vielzahl erstaunlicher Artefakte enthalten haben soll:

Der Abenteurer G. E. Kincaid habe, als er mit einem Boot den Colorado River hinabfuhr, auf einer Höhe von etwa 2 000 Fuß in der östlichen Steinwand jene Höhle entdeckt. Nachdem er unter großer Anstrengung den Eingang erreicht hatte, habe ihn ein mehrere hundert Fuß langer Gang bis in eine unterirdische Krypta geführt, in der er mehrere Mumien und Artefakte vorfand. In der zentralen Halle habe sich die Statue einer im Schneidersitz sitzenden Gestalt mit einer Lotusblüte oder Lilie in jeder Hand befunden, die an einen Buddha erinnerte. Insgesamt umfasse das Tunnelsystem mehrere hundert Räume, die insgesamt Raum für rund 50 000 Menschen böten. Neben zahlreichen weiteren Statuen seien Keramik, Kupferwerkzeuge sowie Gefäße aus Gold gefunden worden. An den Wänden sowie Urnen und Steintafeln hätten sich Hieroglyphen befunden, die noch zu entziffern seien. Nach Kincaids Entdeckung befasse sich nun unter Aufsicht eines gewissen Prof. S. A. Jordan das Smithsonian Institute mit der näheren Untersuchung der mutmaßlichen ägyptischen Kolonie.

Diskussion

Mit höchster Wahrscheinlichkeit dürfte davon auszugehen sein, dass es sich bei dem Bericht um eine schlichte Falschmeldung (buchstäblich Fake News) handelt, wie sie im Journalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durchaus üblich waren. Weder der angebliche Finder G. E. Kincaid noch der angebliche Smithsonian-Wissenschaftler Prof. S. A. Jordan haben je existiert – jedenfalls ist trotz verschiedener Recherchen keiner von beiden in irgendeiner anderen Quelle bezeugt. Auffällig ist zudem, dass in dem Zeitungsartikel fälschlich vom Smithsonian Institute die Rede ist, obwohl der tatsächliche Name der Organisation Smithsonian Institution lautet. Diese indes verneinte stets jede Kenntnis des angeblichen Fundes und der beteiligten Personen. Zumal der Artikel Anfang April erschien, dürfte womöglich – vergleichbar dem ähnlichen Fall der unterirdischen Stadt von Moberly – von einem Aprilscherz auszugehen sein. Weitere Quellen über die ominöse Krypta existieren nicht; weder sind jemals Informationen über die angeblich begonnene Erforschung publik geworden, noch jemals Artefakte aufgetaucht oder weitere Artikel publiziert worden. Falls es sich indes – wie von Befürwortern stets angenommen – um eine systematische Vertuschung gehandelt hätte, so wäre unerklärlich, weshalb man den Autoren des Artikels so bereitwillig Auskunft über eine scheinbar ganz offizielle Untersuchung gegeben hätte.

Rezeption

Nichtsdestotrotz wird der angebliche Fund weiterhin in grenzwissenschaftlichen Publikationen zitiert. Wiederholt widmete sich David Childress dem scheinbar von der Smithsonian Institution unterdrückten Sensationsfund, auch David Icke zitierte den Bericht als Tatsache. Eine kritische Zusammenfassung, die unter anderem auch von Kenneth L. Feder zitiert wird, publizierte Jason Colavito.

Quellen

Jason Colavito 2001: Archaeological Cover Up? (originaler Artikel und Kommentar)

Rezeption: Luc Bürgin, Geheimakte Archäologie (137-146) / David Icke, Das größte Geheimnis (44 f) / Jason Mason, Mein Vater war ein MiB 1 (267 f)

Titelbild: Tenji, Wimiedia Commons (Quelle)