Gab es einen Drachen namens Kur in der sumerischen Mythologie?

Abrollung eines babylonischen Siegels mit Gott und Drache (Bild: Ben Pirard, CC BY-SA3.0)

In populärwissenschaftlichen Werken stößt man gelegentlich auf den Namen Kur, bei dem es sich um einen Drachen oder Dämon aus der sumerischen Mythologie handeln soll.        
So schreibt etwa Wikipedia (Stand 14.02.2023) unter dem Eintrag Kur (Dämon): „In der Sumerischen Mythologie ist Kur ein monströser Dämon. Kur personifiziert das Reich der Toten, die Hölle, den Flusslauf der Toten (siehe auch Styx) und den leeren Raum ohne Hoffnung zwischen Abzu, dem Urzeitsee oder der Ursuppe und Ma, der Erde.“       
Weitere Einträge finden sich etwa im Demonic Paradise Wiki, Dragons of Fame und All about Dragons, denen zufolge es sich um einen schuppigen Drachen handeln soll. Sein Mythos wird in einem Artikel des populär- bis pseudowissenschaftlichen Internetportals AncientOrigins erwähnt, der Blog Realm of History zählt Kur sogar zu „10 mythischen Drachen aus verschiedenen Kulturen, die du kennen solltest“. Selbst als Sammelfigur von Legendary Dragons ist er mittlerweile erhältlich.    
Umso verwunderlicher ist dagegen die Abwesenheit von Kur in der akademischen Altorientalistik – ein Drache dieses Namens findet sich weder in aktuellen Übersetzungen antiker Mythen noch einschlägiger Sekundärliteratur. Woher aber stammt die Vorstellung einer solchen Gestalt? Auf der Suche nach einem (populär)wissenschaftlichen Mythos.

Kramer und die „Myths of Kur“

Samuel Noah Kramer (1897–1990) gilt bis heute als einer der prominentesten Altorientalisten des 20. Jahrhunderts. Dies liegt nicht nur in seinen zahlreichen, vielfach bis heute relevanten Texteditionen und Artikeln begründet, sondern nicht zuletzt in einer Reihe von populärwissenschaftlichen Büchern, mit denen er ein Publikum weit über die Fachwelt hinaus mit Kultur und Religion der alten Sumerer vertraut machte. Der Einfluss seiner Bücher wie Geschichte beginnt mit Sumer auf das populäre Bild der Sumerer kann kaum hoch genug eingeschätzt werden.
1944 veröffentlichte Kramer mit Sumerian Mythology ein Buch über die sumerische Mythologie. Mangels Alternativen an populärwissenschaftlichen Überblicksdarstellungen wird das mittlerweile hoffnungslos veraltete Werk bis heute (vor allem im englischen Sprachraum) stark rezipiert.   
In Kapitel 3 seines Buches behandelte Kramer „Myths of Kur“. Kur ist zum einen das sumerische Wort für „Berg, Bergland“ sowie „Unterwelt“. Aus mehreren mythischen Texten meinte Kramer jedoch noch eine weitere Bedeutung des Wortes rekonstruieren zu können:

„Kur, kosmisch gedacht, ist der leere Raum zwischen der Erdkruste und dem urzeitlichen Meer. Darüber hinaus ist es nicht unwahrscheinlich, dass das monströse Wesen, das auf dem Grund des “großen Unten” unmittelbar über dem Urmeer lebte, ebenfalls Kur genannt wird; in diesem Fall würde dieses Ungeheuer Kur bis zu einem gewissen Grad der babylonischen Tiamat entsprechen. In drei von vier “Mythen von Kur” geht es um den einen oder anderen dieser kosmischen Aspekte des Wortes Kur.“[1]

Demnach handle es sich bei Kur um einen vorzeitlichen Drachen, der in der Erdtiefe zwischen Unterwelt und Abzu-Ozean lebte. Von diesem, so Kramer, sollen zwei der sogenannten „Myths of Kur“ handeln.       
Der erste Text der „Mythen von Kur“ ist in der Forschung unter dem modernen Titel Gilgameš, Enkidu und die Unterwelt bekannt. Hierbei handelt es sich um einen einzigartigen sumerischen Text, in dem offensichtlich mehrere verschiedene mythische Stoffe miteinander verbunden wurden: Die ersten Zeilen erwähnen die Trennung von Himmel und Erde und die Aufteilung des Kosmos. Die daran anschließende Passage erzählt von der Bootsfahrt des Gottes Enki zur Unterwelt, bei der er in einen verheerenden Sturm gerät. Dabei wird ein Baum am Ufer ausgerissen, den daraufhin die Göttin Innana findet und einpflanzt. Als sich schließlich verschiedene Ungeheuer darin einnisten, wird der Held Gilgameš gerufen, diese zu vertreiben, woraus sich weitere Ereignisse entspinnen. Den Mythos vom Drachen Kur meinte Kramer aus den stark abgekürzten Passagen am Anfang des Textes rekonstruieren zu können:

„Nachdem Himmel und Erde getrennt worden waren, trug An, der Himmelsgott, den Himmel und Enlil, der Luftgott, die Erde davon. Zu diesem Zeitpunkt wurde die unheilvolle Tat begangen. Die Göttin Ereschkigal wurde gewaltsam in die Unterwelt entführt, vielleicht von Kur selbst. Daraufhin machte sich Enki, der Wassergott, dessen sumerischer Ursprung ungewiss ist, der aber gegen Ende des dritten Jahrtausends v. Chr. allmählich zu einer der wichtigsten Gottheiten des sumerischen Pantheons wurde, in einem Boot auf den Weg, aller Wahrscheinlichkeit nach, um Kur anzugreifen und die Entführung der Göttin Ereschkigal zu rächen. Kur wehrte sich heftig mit allen Arten von großen und kleinen Steinen. Außerdem griff er Enkis Boot von vorne und hinten mit den Urgewässern an, die er zweifellos beherrschte. Hier endet unsere kurze Prologpassage, denn der Autor von “Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt” ist nicht in erster Linie an der Drachengeschichte interessiert, sondern will mit der Gilgamesch-Erzählung fortfahren. Und so werden wir über den Ausgang des Kampfes im Unklaren gelassen. Es besteht jedoch kaum ein Zweifel daran, dass Enki siegreich war. In der Tat ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Mythos zu einem großen Teil zu dem Zweck entwickelt wurde, zu erklären, warum Enki in historischer Zeit wie der griechische Poseidon als Meeresgott konzipiert wurde, warum er als “Herr des Abgrunds” beschrieben wird und warum sein Tempel in Eridu als “Seehaus” bezeichnet wurde.“[2]

Der eigentliche Drachenkampf also ist gar nicht explizit erzählt, sondern mit vielen Unklarheiten (siehe Kursivschreibungen) behaftet. Vielmehr zeigte sich Kramer stark durch Vorbilder aus anderen Mythen beeinflusst, deren Muster er auch in der sumerischen Überlieferung wiederzufinden meinte: Die Entführung der Ereškigal erinnert deutlich an den Raub der Persephone durch Hades in der griechischen Mythologie. Wie Kramer selbst schreibt, sieht er Kur zudem als sumerisches Vorbild der Tiamat – jener urzeitlichen Meeresgottheit, die im deutlich später entstandenen babylonischen Epos Enūma elîš vom Gott Marduk getötet wird, um aus ihrem Leib die Welt zu erschaffen.

Jacobsen widerlegt Kramer

Bereits zwei Jahre nach dem Erscheinen von Kramers Sumerian Mythology veröffentlichte Thorkild Jacobsen – heute ebenfalls als Urgestein der Altorientalistik bekannt – eine ausführliche Besprechung des Buches im Journal of Near Eastern Studies, in der er Kramers These eines Kur-Drachens restlos widerlegte.         
Tatsächlich beruht die Rekonstruktion eines Mythos über die Entführung der Göttin Ereškigal durch Kur und den Kampf des Gottes Enki gegen denselben auf einer einzelnen Zeile zu Beginn der Komposition Gilgameš, Enkidu und die Unterwelt:

u4 An-ne2 an ba-an-tum2-a-ba           
dEn-lil2-le ki ba-an-tum2-a-ba           
dEreš-ki-gal-la-ra kur-ra saĝ-rig5-ga-še3im-ma-ab-rig5-ga-a-ba

Kramer übersetzte die Stelle folgendermaßen:

„After An had carried off heaven,    
After Enlil had carried off earth,      
After Ereshkigal had been carried off into Kur as its prize.”[3]

Wie Jacobsen bemerkt, ist diese Übersetzung jedoch nicht zu halten: Das Kompositverb saĝ-rig5-ga-še3 … rig5 lässt sich mitnichten mit „als Preis wegtragen“ übersetzen, sondern bedeutet vielmehr „ein Geschenk schenken“, vor allem im Kontext von Votivgaben sowie als Mitgift für eine Braut vor der Hochzeit. Das Suffix =ra weist Ereškigal in dem Satz zudem als Dativobjekt aus, womit sie keinesfalls direktes Objekt bzw. passives Subjekt der beschriebenen Handlung sein kann. So übersetzt Jacobsen stattdessen:

„(And) after it (the earth) had been presented as dowry to Ereshkigal in the nether world (var.: to Ereshkigal and the netherworld).”

Es wurde also nicht Ereškigal selbst weggetragen, sondern ihr die Erde bzw. Unterwelt übereignet. Dies passt zu ihrer in zahlreichen anderen Quellen bezeugten Rolle als Herrscherin der Unterwelt (die nach sumerischer Vorstellung mit der Erde identifiziert werden kann), in akkadischen Quellen auch genannt šarrat erṣetim „Königin der Erde“.  
Da es sich bei der Zeile um eine grammatikalisch recht eindeutige Konstruktion handelt, unterscheiden sich auch neuere Übersetzungen kaum von der Jacobsens – so etwa bei Alhena Gadotti 2014 (154: „And, as for the Netherworld, they had bestowed it upon Ereškigal as a dowry“) oder Pascal Attinger 2015 (299: „und nachdem sie Ereschkigala mit der Verwaltung der Unterwelt beschenkt hatten“).   
Von einem Drachen, der die Göttin Ereškigal entführte, ist im Text somit keine Rede mehr – und auch für den anschließenden Drachenkampf, den Kramer rekonstruieren zu können glaubte, fehlt jeder Hinweis. Weshalb nun der Gott Enki in der darauffolgenden Szene zum kur – das heißt: in die Unterwelt – aufbricht, wird im Text Gilgameš, Enkidu und die Unterwelt an keiner Stelle ausgeführt. Erst neuere Forschung konnte anhand einer weiteren Belegstelle für den Mythos von Enkis Unterweltsfahrt in der Beschwörungssammlung Udug ḫul herausarbeiten, dass es – zumindest in jener zweiten Variante des Mythos – um den Erwerb eines Rituals zur Abwehr von Totengeistern aus der Unterwelt ging.[4]

Auch der „Zweite Mythos von Kur“ bietet keinen Beleg für die Existenz eines personifizierten Kur. Bei diesem handelt es sich um das bekannte sumerische Epos Lugale u melimbi nirĝal (modern auch „Ninurtas Heldentaten“), das die heroischen Siege des Gottes Ninurta preist. Kramer fasst sein Verständnis der Geschichte zusammen:

„Nach einer hymnischen Einleitung beginnt die Geschichte mit einer Ansprache an Ninurta durch Scharur, seine personifizierte Waffe. Aus irgendeinem Grund, der im bisher vorliegenden Text nicht genannt wird, hat Scharur sich gegen Kur gewandt. In seiner Rede, in der die heroischen Eigenschaften und Taten Ninurtas gepriesen werden, fordert es Ninurta auf, Kur anzugreifen und zu vernichten. Ninurta macht sich auf den Weg, um der Aufforderung nachzukommen. Zunächst scheint er jedoch mehr als nur einen Gegner gefunden zu haben, und er “flieht wie ein Vogel”. Doch erneut wendet sich Scharur mit beruhigenden und ermutigenden Worten an ihn. Ninurta greift Kur nun mit allen ihm zur Verfügung stehenden Waffen heftig an, und Kur wird völlig vernichtet.“[5]

Hier übersetzt Kramer das Wort kur durchweg als Eigenname des Gegners des Ninurta. Alle anderen Bearbeiter vor und auch nach ihm dagegen lasen kur in diesem Zusammenhang schlichtweg als „Berg(land)“. Für diese Lesung gibt es einen klaren Beleg: Aus späterer Zeit ist eine akkadische Übersetzung des Textes überliefert, in der das sumerische kur mit dem akkadischen Wort šadî „Berge“ wiedergegeben wird:

u4-bi-a en-na ĝeštukul-a-ni kur-ra ĝeštu mi-ni-i[n-ĝal2]       
i3nu-šu2 ša2 be-li2 kak-ka-šu2 ina šadi-i uz-na-a-šu2 ba-[ša2a]

“In jenen Tagen war der Verstand (wörtlich: „die Ohren“) der Waffe des Herrn auf die Berge ge[richtet.]“

Der eigentliche Antagonist der Handlung ist tatsächlich ein monströses Wesen namens Asag, das eine Armee von Steinen anführt. Wie es Kramer für den Drachen Kur vermutete, vernichtet Ninurta Asag und errichtet anschließend das Gebirge (ḫur-saĝ) als Damm für den aus dem Bergland hervortretenden Fluss Tigris. 
Der dritte und vierte „Mythos von Kur“ sind für die Diskussion nicht relevant – hier versteht auch Kramer kur als „Bergland“ bzw. „Unterwelt“. Weitere Argumente für seinen „rekonstruierten“ Kur-Mythos vermochte Kramer nicht zu liefern. Für einen Drachen namens Kur, der am Fuße der Unterwelt lebt und unschuldige Göttinnen entführt, verbleibt somit kein einziger Beleg. Nach Jacobsens Replik spielte die Idee eines Kur-Drachen auch nie wieder eine Rolle in der altorientalistischen Forschung.

Fazit

Das sumerische Wort kur bedeutet „Berg, Bergland“ sowie „Unterwelt“. Für einen Drachen oder Dämon dieses Namens dagegen gibt es in den sumerischen Mythen keinerlei Beleg. Diese Annahme ist nicht etwa nur veraltet: Sie wurde von einem einzelnen Forscher postuliert, bereits kurz darauf widerlegt und war nie Teil der wissenschaftlichen Lehrmeinung. Allein der Erfolg von Kramers populärwissenschaftlichem Buch verhalf dem Drachen Kur zu einem Eigenleben überall außerhalb der akademischen Altorientalistik.

Literatur

Attinger P. 2015: Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt, in: K. Volk (Hg.), Erzählungen aus dem Land Sumer, Wiesbaden, 297–316

Gadotti, A. 2014: “Gilgamesh, Enkidu, and the Netherworld” and the Sumerian Gilgamesh Cycle. UAVA 10, Boston/ Berlin.

Jacobsen, T. 1946: Sumerian Mythology: A Review Article. Journal of Near Eastern Studies 5/2, 128–152.

Kramer, S. N. 1944 (21961): Sumerian Mythology. A Study of Spiritual and Literary Achievement in the Third Millennium B.C. Memoirs of the American Philosophical Society held at Philadelphia for promoting useful knowledge 21, Philadelphia.

Zgoll, A. 2020: Durch Tod zur Macht, selbst über den Tod. Mythische Strata von Unterweltsgang und Auferstehung der Innana/Ištar in sumerischen und akkadischen Quellen, in: A. Zgoll / C. Zgoll (Hg.), Mythische Sphärenwechsel. Methodisch neue Zugänge zu antiken Mythen in Orient und Okzident. Mythological Studies 2, Berlin/Boston, 98–159. (Open Access bei De Gruyter)


[1] „Kur thus cosmically conceived is the empty space between the earth’s crust and the primeval sea. Moreover, it is not improbable that the monstrous creature that lived at the bottom of the “great below” immediately over the primeval waters is also called Kur; if so, this monster Kur would correspond to a certain extent to the Babylonian Tiamat. In three of four “Myths of Kur,” it is one or the other of these cosmic aspects of the word kur which is involved.” (Kramer 1944, 76 – Übersetzung: DeepL)

[2] „After heaven and earth had been separated, An, the heaven-god, carried off the heaven, while Enlil, the air-god, carried off the earth. It was then that the foul deed was committed. The goddess Ereshkigal was carried off violently into the nether world, perhaps by Kur itself. Thereupon Enki, the water-god, whose Sumerian origin is uncertain, but who toward the end of the third millennium B. C. gradually became one of the most important deities of the Sumerian pantheon, set out in a boat, in all probability to attack Kur and avenge the abduction of the goddess Ereshkigal. Kur fought back savagely with all kinds of stones, large and small. Moreover it attacked Enki’s boat, front and rear, with the primeval waters which it no doubt controlled. Here our brief prologue passage ends, since the author of “Gilgamesh, Enkidu, and the Nether World” is not interested in the dragon story primarily but is anxious to proceed with the Gilgamesh tale. And so we are left in the dark as to the outcome of the battle. There is little doubt, however, that Enki was victorious. Indeed it is not at all unlikely that the myth was evolved in large part for the purpose of explaining why, in historical times, Enki, like the Greek Poseidon, was conceived as a sea-god; why he is described as “lord of the abyss”; and why his temple in Eridu was designated as the “seahouse.” (Kramer 1944, 79 – Übersetzung: DeepL, Hervorhebungen nach Jacobsen 1946)

[3] Kramer 1944, 37.

[4] Zgoll 2020, 87–91.

[5] „After a hymnal introduction the story begins with an address to Ninurta by Sharur, his personified weapon. For some reason not stated in the text as yet available, Sharur has set its mind against Kur. In its speech, therefore, which is full of phrases extolling the heroic qualities and deeds of Ninurta, it urges Ninurta to attack and destroy Kur. Ninurta sets out to do as bidden. At first, however, he seems to have met more than his match and he “flees like a bird.” Once again, however, Sharur addresses him with reassuring and encouraging words. Ninurta now attacks Kur fiercely with all the weapons at his command, and Kur is completely destroyed.” (Kramer 1944, 80 – Übersetzung: DeepL)