Gräber unter der Uni – Der vergessene Friedhof von Göttingen

Das Lern- und Studiengebäude (LSG) auf dem Zentralcampus der Universität Göttingen im Jahr 2023. Hier befand sich bis in die 60er Jahre ein katholischer Friedhof. (Foto LI)

Tausende von Studierenden bewegen sich jeden Tag über den Campus der Georg-August-Universität Göttingen. Nur den wenigsten unter denen, die in der Zentralmensa essen und im Lern- und Studiengebäude ihre Hausarbeiten schreiben, dürfte bewusst sein, dass sie dabei buchstäblich über Leichen gehen.

Nicht alles, womit sich die Archäologie beschäftigt, hat ein Alter von Jahrtausenden. Am 10. Mai 2011 wurden auf dem Göttinger Unicampus nahe der Weender Landstraße neue Glasfaserleitungen verlegt, nur ein Jahr später sollte hier das neue Lern- und Studiengebäude (LSG) entstehen. Da traten im Graben der Baustelle plötzlich menschliche Knochen zutage.       
Glücklicherweise wurde sofort die Stadtarchäologie informiert, sodass die Funde ordnungsgemäß dokumentiert werden konnten: Wie sich herausstellte, befand sich unter dem Boden des Uni-Campus ein vergessener Friedhof aus dem 19. Jahrhundert.       
Zwischen dem 13. Juli und 30. September 2011 kam es schließlich zur großflächigen Ausgrabung des Friedhofs durch die Grabungsfirma Arcontor. Auf einer Fläche von rund 600 m² wurden durch Studenten und Grabungshelfer nicht weniger als 141 Gräber mit 151 Individuen freigelegt, die überwiegend in sehr engen, regelmäßigen Reihen angelegt waren. In zwölf Fällen lagen Mehrfachbestattungen innerhalb eines Grabes vor. Einige, die sich am Rande der Grabungsfläche befanden, konnten nur teilweise ausgegraben werden. Die Gräber ermöglichten einen informativen Einblick in das Bestattungswesen einer sonst archäologisch erstaunlich wenig dokumentierten Epoche. So waren in mehreren Fällen noch metallene, teils kunstvoll geformte Griffe und Füße der Särge erhalten. In einigen Gräbern fanden sich Objekte religiöser Bedeutung wie Rosenkranz und Kruzifix (insgesamt 38 Bestattungen), aber auch profane Artefakte wie Münzen, ein Messer oder Porzellanpuppen in Kindergräbern. Zwei gut erhaltene Gebisse aus Kautschuk und Keramik sowie ein Bruchband, das bei Leistenbruch Verwendung fand, legen Zeugnis von der zeitgenössischen Gesundheitsversorgung ab.

Die katholische Gemeinde von Göttingen

Die Stadt Göttingen war seit der Reformation protestantisch geprägt; erst im 18. und 19. Jahrhundert kam es durch stationierte Soldaten und den Zuzug von Studenten wieder zur Entstehung einer kleineren katholischen Gemeinde. Im Jahr 1825, als die vorher sogenannte „Missionsstation“ offiziell zur Pfarrei erhoben wurde, zählte die katholische Gemeinde ca. 400 Mitglieder, bis zur Volkszählung 1861 bereits 736. Zunächst wurden auch die katholischen Verstorbenen auf den übrigen städtischen Friedhöfen beigesetzt. Erst 1849 vermachte Ernst Friedrich Vollmer, der ehemalige Kirchenvorsteher, der katholischen Kirchengemeinde ein Grundstück zwischen Stültebecksgraben und Weender Chaussee mit der Auflage, hier einen Friedhof für die katholische Bevölkerung anzulegen. Im Gegenzug sollte der jeweils amtierende Pfarrer fortan nach jeder Bestattung ein Gebet für das Seelenheil Vollmers sprechen und bis zu seinem Tod jährlich ein Engelamt zelebrieren. So kam es ab 1851 zu Bestattungen auf dem Gebiet des heutigen Zentralcampus. Doch bereits 1889 verfügte die Stadt aus gesundheitlichen Gründen die Schließung sämtliche Friedhöfe innerhalb des Stadtgebiets. Der letzte, der 1910 auf dem katholischen Friedhof beigesetzt wurde, war der Sohn des Stifters Hermann Vollmer in der gemeinsamen Familiengruft.       
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war der Friedhof bereits verfallen und verwildert. Wie ein zeitgenössisches Schwarz-Weiß-Foto zeigt, war das Dach der kleinen Marienkapelle bereits eingefallen. So beschreibt das Göttinger Tageblatt das Areal im Jahre 1963:

„Es ist ein Hinterhof der Stadt, den kaum eine Spaziergängers Fuß betritt. Brennesselstauden wuchern im Kreis. Die von den Wettern langer Jahre zerbröckelten Grabsteine sind eingesunken. Sie gleichen dunklen Findlingsblöcken. Ihre Inschriften wurden vom Regen ausgewaschen, von Moos überwuchert. Über dem ehemaligen Michaelisfriedhof gleich neben dem Universitäts-Sportgelände liegt Vergessen. Nur Kinder spielen dort. Für sie bewahrte der dieser Ort unter den hohen Bäumen und dem Holunderdickicht einen Hauch Geheimnisvolles.“[1]

Noch im selben Jahr kam es zur kompletten Einebnung des Friedhofes. An seiner Stelle wurden neue Universitätsbauten errichtet, darunter die bis heute genutzte Zentralmensa. Archäologische Untersuchungen wurden dabei nicht vorgenommen. Als ein halbes Jahrhundert später so unerwartet Knochen bei den Bauarbeiten zutage traten, war der Friedhof längst vergessen. Weitere bislang nicht ausgegrabene Bestattungen dürften sich jedoch noch immer unter dem Parkplatz nördlich von LSG und Zentralmensa befinden.

Die Grüfte

Ursprünglich umfasste der katholische Friedhof ein Areal von etwa 4.000 m², von denen im Zuge der Bauarbeiten 2011 rund 600 m² ausgegraben wurden. Zwischen den eng belegten Gräberreihen befanden sich auch zwei gemauerte Grüfte, deren Fundamente noch dokumentiert werden konnten. Während sich in der einen Gruft (Befund 16) noch beide Bestattungen befanden, war die andere (Befund 69), wohl ursprünglich für drei Tote ausgelegt, bereits vor der Einebnung beräumt worden.
Eine dritte Gruft gehörte der Familie des Friedhofsstifters Vollmer. Bei dieser handelte es sich um eine unterirdische Gruftanlage ohne größere oberirdische Architektur, die durch ein Tor und einen Treppenabgang in einem bewachsenen Hügel zu betreten war. Auf einer noch 1963 für das Göttinger Tageblatt angefertigten Fotografie ist der Innenraum der Vollmer-Gruft zu sehen, in deren Seitenwänden die Bestattungen hinter Steinplatten eingelassen waren. Diese scheinen demnach bis zuletzt nicht geräumt worden zu sein. Da diese Gruft nicht zum 2011 ausgegrabenen Areal gehörte, dürfte sie 1963 zerstört worden sein – oder sich noch immer unter dem Boden der Uni, womöglich dem Mensa-Gebäude, befinden.

Anthropologische Überraschungen

Die Knochenerhaltung der Bestattungen stellte sich als außerordentlich gut heraus, was weitere anthropologische Untersuchungen möglich machte. So wurden mehrere Skelette im Rahmen von Bachelorarbeiten der Anthropologie an der Uni Göttingen bearbeitet, eine Dissertation widmete sich der gesamten Befunde. Insgesamt handelte es sich bei 114 Individuen um Erwachsene, darunter die meisten in der Altersklasse „spätmatur“ (54‒60 Jahre), während 27 als Kinder und 10 in der juvenilen Altersklasse verstorben waren. 83 Individuen wurden als männlich und 37 als weiblich angesprochen (31 nicht klar definierbar), was ein deutliches Ungleichgewicht der Geschlechter bedeutet. In vielen Fällen konnten (vor allem altersbedingte) pathologische Veränderungen wie Rachitis und Arthrose festgestellt werden.          
Der bemerkenswerteste Befund jedoch war, dass eine auffällig große Zahl der Toten – insgesamt 35 der untersuchten Bestattungen – deutliche Spuren einer vorhergehenden Sektion aufwies: Offensichtlich handelte es sich bei vielen der Toten um Leichen, die in der Ausbildung der Anatomie an der nahen Universität verwendet wurden.          
Bei insgesamt 31 von 151 vorliegenden Individuen war der Schädel geöffnet wurden. Weitere Obduktionsspuren in Form von aufgesägten Wirbel-, Lang- und Beckenknochen fanden sich bei acht Individuen. Bei drei Skeletten fehlte der Schädel vollständig – womöglich sind diese noch heute in der Sammlung der Abteilung Historische Anthropologie und Humanökologie zu finden, wo im 19. Jh. zu Lehr- und Studienzwecken insbesondere Schädel mit pathologischen oder verletzungsbedingten Veränderungen aufgenommen wurden.       
Drei Bestattungen schließlich stellten sich als besonders ungewöhnlich heraus: Bei einem nur zur Hälfte ausgegrabenen Skelett (Befund 123) mit aufgesägtem Schädel fanden sich zwei abgesägte Fragmente von Oberschenkel- und Schienbeinknochen im Brustbereich.   
Am Skelett eines ca. 60 bis 80 Jahre alten Mannes (Befund 94) war nicht nur der Schädel geöffnet, sondern auch der linke Oberarmknochen durchgesägt worden. In der Grabgrube wurde dementsprechend auf Höhe der Unterschenkel ein am Oberarm abgetrennter Arm gefunden. Allerdings stellte sich bei der anthropologischen Nachuntersuchung heraus, dass dieser zu Lebzeiten zu einem anderen Individuum gehört haben musste. Offenbar scheint der Arm nach der Obduktion verwechselt oder nach dem Motto „passt schon“ mit dem Verstorbenen mitbeerdigt worden zu sein.

Skelett eines älteren Mannes vom Michaelis-Friedhof. Der Schädel wurde für die Sektion geöffnet, sowohl der linke Oberarm als auch das rechte Schlüsselbein durchgesägt. Im Grab lag ein weiterer linker Unterarm, der jedoch zu einer anderen Person gehörte. (Städtisches Museum Göttingen, Foto LI)

Noch rätselhafter ist die Bestattung 122 A: Unter den Rippen dieses sezierten Individuums fanden sich abgesägte Knochenstücke von zwei Pferdefüßen, die bei der Bestattung im geöffneten Brustkorb deponiert worden sein müssen. Mit einer geregelten Sektion hat dies wenig zu tun – könnte es sich bei dem Fund etwa um die Überreste eines grotesken studentischen Streiches handeln?

Die Geschichte der Göttinger Anatomieleichen

Im 19. Jahrhundert stieg mit der Zahl der Studenten in Medizin und Anatomie auch das Bedürfnis nach Leichen für die universitäre Ausbildung sprunghaft an. Noch immer aber galt dieses Schicksal den meisten Menschen als Gräuel, das dem christlichen Ideal der körperlichen Unversehrtheit widersprach.   
So hatte die Regierung in Hannover, um den Wissenschaftsstandort Göttingen zu fördern, bereits 1857 ein Gesetz verabschiedet, das einen steten Zustrom an Leichen für die universitäre Anatomie garantieren sollte: So wurden nicht nur wie bereits seit langem üblich die Leichen hingerichteter Verbrecher, sondern auch von Selbstmördern und gewaltsam zu Tode gekommenen Personen für die Anatomie vorgesehen, außerdem auch all jene, die in lokalen Zuchthäusern, Gefängnissen und der Armenverwaltung verstorben waren, sofern ihre Verwandten nicht die Mittel für die Bestattung aufbrachten. Vor allem letztere bildeten hierbei die größte Gruppe: „Arme sowie mittellose Fremde stellten das Gros derer, deren Körper nach dem Tod auf den Seziertisch wanderten. Handarbeiter, Tagelöhner, Wollkämmer, Korbflicker, Knechte – die Liste der Berufe der an die Anatomie übergebenen Verstorbenen liest sich wie ein Querschnitt durch die ländliche Unterschicht.“[2]      
Hinzu kamen jene Toten, die im lokalen Ernst-August-Hospital verstorben waren: Dass dieses insbesondere Arme unentgeltlich behandelte, geschah nicht allein aus christlicher Nächstenliebe: Ein Regel des Hospitalvorstandes legte fest, dass die vor Ort Verstorbenen innerhalb von 48 Stunden nach ihrem Ableben durch ihre Angehörigen zu beerdigen waren – wurden diese aber nicht in der gegebenen Frist ausgelöst, so die unausgesprochene Alternative, dann standen sie der Anatomie zur Verfügung.     
Was zunächst paradox klingt, entwickelte sich insbesondere für die katholische Gemeinde zum beidseitigen Nutzen: Diese war theoretisch für die Beerdigung aller im Hospital verstorbenen Katholiken zuständig, was für die kleine Gemeinde eine erhebliche finanzielle Belastung bedeutet hätte. Wurde eine Leiche jedoch zur Sektion freigegeben, so wurden die Bestattungskosten zunächst von der Universität vorgestreckt und schließlich von der Regierung erstattet. So ist es kein Wunder, dass die katholische Gemeinde bereitwillig mit der Universität kooperierte, sodass eine Reihe katholischer Armer zunächst auf dem Sektionstisch und anschließend auf dem kleinen Michaelis-Friedhof landete. „Neben vielen anderen Aspekten sind die Gebeine des St. Michaelis-Friedhofs schließlich auch eine Erinnerung daran, auf welchem durchaus zwiespältigen Fundament menschlicher Geschichte und Geschichten die Wissenschaft, die wir heute kennen, gegründet sein kann. In diesem Fall sogar wortwörtlich.“[3]

Literatur

Alle Informationen entstammen dem folgenden Buch:

Großkopf, B. (Hg.) 2015: Der vergessene Friedhof. Kulturgeschichtliche und naturwissenschaftliche Ergebnisse zur Ausgrabung des neuzeitlichen katholischen Friedhofes in Göttingen, Göttingen. (online bei Academia, dort auch Fotografien der erwähnten Orte und Bestattungen)

Funde aus der Friedhofsgrabung von 2011 werden noch bis zum 30. November 2023 in der Sonderausstellung „Unter uns – Archäologie in Göttingen“ im Städtischen Museum Göttingen gezeigt.


[1] Göttinger Tageblatt, 12./13. Oktober 1963. Zitiert nach Beitrag Arndt in Großkopf 2015, 22 f.

[2] Beitrag Droste in Großkopf (Hg.) 2015, 72.

[3] Beitrag Droste in Großkopf (Hg.) 2015, 78.