Das Schiff im Berg

In seiner Natural History of Staffordshire berichtet der englische Naturforscher Robert Plot 1686 von einem ganz und gar seltsamen Fund in den Schweizer Alpen:

„Die bei weitem wundervollste Gesichte dieser Art (über in festem Stein gefundene Gegenstände) stammt von Baptista Fulgosus, Ludovicus Moscardus und Theodorus Moretus, die uns sagen, dass beim Dorfe Bern in der Schweiz, An. 1460, in einer 50 Faden tiefen Mine ein ganzes Schiff ausgegraben wurde, mit dem Anker und zerborstenen Masten, in dem sich die Leichname von 40 Seefahrern befanden, gemeinsam mit ihren Handelsgütern: wovon insbesondere Fulgosus uns mehr Einzelheiten gibt, weil es zu seiner Zeit geschah und von vielen ernsthaften und nüchternen Menschen gesehen wurde, von denen er höchst selbst Bericht erhielt.“

Robert Plot (1640‒1696) war ein Universalgelehrter. Er war Dozent für Chemie an der Londoner Universität und ein Mitglied der renommierten Royal Society. Als erster versuchte er sich an einer umfassenden Beschreibung Englands, doch nur ein Teil davon, eben die Natural histories of Oxfordshire and Staffordshire (Oxford 1677-86), sind erschienen. Dabei sammelte Plot alle verwertbaren Informationen: Zu dieser Zeit war die Grenze zwischen akzeptierten und mythischen Fakten noch nicht so eng gezogen. Versteinerungen galten als Gotteswerk oder als Überreste der Sintflut. Plot war demnach gerade an dem Schweizer Bericht interessiert, schien er doch die Wirklichkeit dieses Gottesgerichts zu belegen. Ähnlich argumentieren übrigens moderne Autoren, etwa Charles Berlitz, die Plots Bericht anführen. 
Mehr über den Fund wusste auf Anfrage nicht einmal Marianne Howald vom Stadtarchiv von Bern: „Der von Ihnen erwähnte Bericht ist uns nicht bekannt“, lautete die lapidare Antwort. Allerdings: Erwähnt sei der Vorfall in einem Sagenbuch, nämlich Max Waibels Sagen der Schweiz (1995), der seine Quelle mit Hermann Hartmann, Berner Oberland in Sage und Geschichte (1910) angibt. Das nun lesen wir bei Waibel:

„Das versteinerte Schiff ‒ Hoch oben in den Bergen des Oberlandes liegt ein verlassenes Bergwerk. Wenn man in einen Stollen eindringt, bietet sich hundert Ellen tief ein gespenstischer Anblick. Es steht dort auf dem Felsengrunde des unterirdischen Ganges ein wohlerhaltenes Schiff. In ihm ruhen vierzig Menschengestalten. Aber keine Brust regt sich, kein Auge schaut, denn die Leute sind versteinert. Auch die Anker, das Holzgerät, ja siebenundzwanzig Sturmhauben und ebenso viele Hellebarden, sind mit Stein überzogen. Einst soll ein See das Land bedeckt und bis hier gereicht haben.“

Hier wird deutlich, dass in Bern selbst nur eine sagenhaft verbrämte Version von Plots Geschichte zu finden ist, ohne eigene Informationen – wie es Sagenbücher leider zu oft tun, die aus präzisen historischen Anekdoten allgemeine Mähren machen.

Eine zweite Quelle?

Plots Bericht ist nicht der einzige – in der Renaissance scheint der Vorfall besonderes Interesse erregt zu haben. Ein gewisser David Douglas, ein in Paris lebender Schotte, der für sein 1524 erschienenes Werk De Naturae Mirabilibus Wunderzeichen und Omen sammelte, darunter Froschregen und „die Geschichte von einem in einer Mine bei Bern entdecktes Schiff, mit Segeln und den mehr oder weniger erhaltenen Leichen der Mannschaft“.

Plots Quellen

Drei Autoritäten führt Plot für seine Geschichte an: Fulgosus, Moretus und Moscardus. 
Fulgosus hat fast mehr Namen als Werke. Seine Bücher sind u.a. unter den Namen Giambatista Fregoso, Jon Baptista Fregoso, Fregosus, Frigosus und Campofulgosus erschienen. Fulgosus war Italiener, 1478 wurde er zum Dogen von Genua gewählt. Später ging er ins französische Exil und schrieb dort Bücher über Exempla ex dicta memorabilia, bemerkenswerte Notizen, die er in den Büchern anderer Autoren fand und in seinem Werk De Dictis Factisque Memoralibus abdruckte. Die Bücher wurden zuerst in Italienisch gedruckt, später dann von dem Mailänder Camillo Ghilini in Latein übersetzt. Auf Latein erschienen Fregosos Bücher in Mailand (1509) und in Basel.  
Ludwig Moscardus lebte 200 Jahre später, er war ein Zeitgenosse Plots, ebenso Moretus. Moscardus war ein Gelehrter aus Verona, zu seiner Werken gehören die Descriptionem Musei proprii (Padua 1656, Verona 1672) und die Historia Veronensis usque ad annum 1668 (Verona 1678), eine Chronik der Stadt Verona bis auf das Jahr 1668. Theodor Moretus, ein Jesuit, wurde 1602 in Antwerpen geboren und war später Professor der Philosophie in Prag und Breslau, wo er am 6. November 1667 starb. Er schrieb gegenreformatorische und wissenschaftliche Werke.

Ein verräterisches Datum

Das sind alle Fakten zu dem seltsamen Fund, die gesichert sind. Nun gibt es aus der Zeit, aus der das Wunderschiff von Bern gemeldet wurde, vergleichbare Funde im ganzen Alpenbereich ‒ man entdeckte damals nämlich in den alten Bergwerken und Stollen immer wieder Reste von keltischen und mittelalterlichen Bergleuten. So stieß man im 16. Jahrhundert in den uralten keltischen Salzbergwerken von Hallstatt in der Schweiz auf mumifizierte Minenarbeiter, ähnliche Funde machte man im österreichischen Hallein, die in der Salzburger Chronik von Franz Dückher von Hasslau zu Urstein und Winkel 1666 beschrieben werden. Dückher spricht von im Salz gut erhaltenen Leichen, die 1577 und 1616 im Dürrnberg gefunden wurden. Handelte es sich etwa nicht um Hellebarden, sondern um Pickel? Was war dann das Schiff? Reste der Holzabstützung des Stollens? Waren die „Segel“ Zelte der antiken Bergarbeiter?

Wetterrad nach Agricola, 1580 (Wikimedia Commons)

Seit jeher machte das „Wetter“, die Belüftung einer Grube, im Bergbau zu schaffen. Erfinderisch, wie Menschen sind, konstruierte man so genannte Wettermaschinen ‒ einfache Geräte, die für die Belüftung eines Bergwerkes sorgten. Der erste, der solch eine Maschine beschrieb, war Agricola (1494‒1555), der große Renaissance-Gelehrte. Er beschreibt die Wettermaschine als „ein Baum oder Mast mit daran befestigten Flügeln. … Das Instrument hat die Form einer großen Trommel oder quadratischen Kiste. … Die Arbeiter drehen eine Kurbel und die Flügel bringen frische Luft und drücken sie in den Schacht.“ Solche Wettermaschinen waren schon lange in Gebrauch, doch tatsächlich war Agricola der Erste, der sie beschrieb ‒ selbst Gelehrte wussten nichts davon. Tatsächlich war selbst das Wissen vom Bergbau mit der großen Pestepidemie im 14. Jahrhundert fast überall in Europa zum Stillstand gekommen. Die Minen wurden erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts wiedereröffnet – zu genau dem Zeitpunkt, da das „Versteinerte Schiff“ aufgefunden wurde. Ob das die Erklärung für das „versteinerte Schiff“ ist? Wurde eine Mine bei Bern nach über 150 Jahren wieder genutzt, und die neuen Minenarbeiter standen verblüfft vor einer Wettermaschine und vor den erhaltenen Leichen ihrer Vorfahren?

Eine zweite Möglichkeit

Es gibt nicht nur ein Bern, das in der Schweiz. Auch in Italien gibt es ein Bern – nämlich Verona, das auf Deutsch früher ebenfalls Bern genannt wurde. Es ist nicht unmöglich, dass es zu einer solchen Verwechslung kam ‒ der Ursprungsbericht des Fulgosus wurde vom Italienischen ins Lateinische übersetzt, und da heißen beide Orte Verona. Erschienen aber sind sie in der Schweiz ‒ ein Leser könnte annehmen, deshalb sei Bern und nicht Verona gemeint. Zudem ist eine der Quellen von Plot Moscardus, der aus Verona kam und eine Geschichte seiner Stadt schrieb. Betrachtet man Plots Quellen näher, so sieht man, dass sie mehr mit Oberitalien zu tun hatten als mit der Schweiz. Warum sollten Italiener in einer Chronik von Verona ein Ereignis aus der Zentralschweiz schildern? Hat Plot ganz einfach Bern und Verona verwechselt? Denn – das ist historischer Fakt – in den Alpen bei Verona gab es einst eine ganze Flotte im Hochgebirge!          
Seit langem verlaufen im Gardasee Grenzen zwischen Regionen, aber auch Staaten. Im späten Mittelalter standen am westlichen Ufer die Mailänder den Venezianern am Ostufer unversöhnlich gegenüber. Die Mailänder hatten den Mincio, den Abfluss des Gardasees, gesperrt und beherrschten nun mit ihrer Flotte das Gewässer. Das war für die Venezianer ein untragbarer Zustand ‒ sie waren verletzlich. So kam es zu einem der ungewöhnlichsten Ereignisse in der Geschichte der Seefahrt: Im Februar 1439 transportierten die Venezianer eine ganze Flotte, sechs Galeeren, zwei Galeonen und 26 Barken, über den Landweg nach Torbole in den Gardasee. Die Schiffe wurden an der Etsch gebaut, segelten bis auf die Höhe der Nordspitze des Sees, und wurden dann von 2000 Ochsen im Gespann über Baumrollen auf einer eigens dafür in den Fels gesprengten Schleifbahn über den Pass von Loppio transportiert.          
Die venezianische Flotte überraschte die Mailänder am 10. November 1439 bei Desenzano, verlor die Schlacht aber. Neue Schiffe wurden gebaut, dieses Mal direkt am See, und im April 1440 schlug Venedig Mailand erfolgreich in der Seeschlacht bei Riva.       
Ging bei dem Transport ein Schiff zu Bruch und wurde es 20 Jahre später entdeckt und mythologisch verklärt, weil ein Gelehrter es beschrieb, der Beweise für die Sintflut sammelte? Oder – wie in der damaligen Zeit nicht selten – erfand man historische Vorläufer für die gerade erfolgte Großtat?           
Wir wissen es nicht, der Fund eines versteinerten Schiffes bei Bern bleibt rätselhaft. Trotzdem: Lösungsansätze sind vorhanden, die die Erzählung in einem ganz neuen, wenn auch wenig geheimnisvollen Licht erscheinen lassen. Und wie das Beispiel des venezianischen Transportes zeigt: Selbst eine Galeone auf einem Alpengipfel muss nicht mit übernatürlichen Kräften zu tun haben!

Ulrich Magin lebt nahe Bonn und ist Autor des Buchs „Geheimnisse des Saarlandes: Geister – Wunder – Hinkelsteine. Über Unerklärliches und Unheimliches an der Saar“ (Geistkirch-Verlag).