Tucson-Artefakte
1924 kam es an der Silverbell Road bei Tucson, Arizona zur Entdeckung von 32 rätselhaften Bleiobjekten, die seitdem als Tucson- oder Silverbell-Artefakte bekannt sind.
Auf dem Rückweg von einem Ausflug nach Picture Rocks (westlich von Tucson) stießen der Polizist Charles Manier und seine Familie auf einen alten Kalkbrennofen, aus dem ein Metallstück ragte. Dieses stellte sich, nachdem Manier es aus dem Untergrund befreit hatte, als zwei aneinandergeklebte, mit Inschriften versehene Kreuze aus Blei heraus.1:8 Eine lateinische Inschrift auf beiden Kreuzen berichtete von einer scheinbaren römischen Expedition nach Amerika, die mit dem Jahr 800 A.D. angegeben wird.
Manier übergab den Fund an das Arizona State Museum. Zusammen mit Thomas Bent widmete er sich anschließend der Suche nach weiteren Artefakten, die bald von Erfolg gekrönt war: Eingeschlossen in zementartige Caliche (ein Sediment aus Kalziumkarbonat und Anteilen von Kies, Sand, Silt und Ton), wurden zwischen 1924 und 1925 insgesamt 32 Objekte ähnlicher Machart entdeckt. Bei den Ausgrabungen waren zeitweilig auch der Geologieprofessor Thomas S. Lovering und der ehemalige Geologieprofessor Cilfton J. Sarle anwesend.1:16 Die Artefakte wurden bereits kurz nach der Entdeckung an der University of Arizona untersucht, wo man jedoch von Anfang an eine skeptische Position einnahm.1:14 Aktuell werden die Artefakte vom Arizona Historical Society Museum verwahrt.
Beschreibung
Mit Ausnahme von Fund 2 bestehen sämtliche Objekte aus massivem Blei. Viele von ihnen sind mit eingeritzten Zeichen versehen, darunter geometrische Pläne (?) auf mehreren Schwertern und lateinische sowie hebräische Inschriften auf den Kreuzen. Diese scheinen von einer römisch-jüdischen Kolonie mit dem Namen Calalus zu berichten, die im Frühmittelalter in den heutigen Vereinigten Staaten bestand und Kriege mit den Tolteken ausfocht. Es werden die Namen von vier Königen – Theodorus, Jacobus, Israel I. und Israel II. – erwähnt.1:28 Besonders sticht ein am 5. April 1925 entdecktes Schwert hervor, das auf dem Heft die eingeritzte Abbildung eines Dinosauriers (genauer: eines Sauropoden wie Diplodocus oder Apatosaurus) trägt.
Der Fund umfasst folgende Objekte sowie deren nach der Reihenfolge der Entdeckung vergebene Nummern (Fragmente desselben Objekts jeweils mit Bindestrich):
- Fünf Kreuzpaare (1, 3, 5, 6, 7) sowie ein einzelnes Kreuz (4). Bei der Auffindung der ersten Kreuze wurden beide durch eine übelriechende, petroleumähnliche Substanz zusammengehalten.1:8 f
- eine dreieinhalb Kilo schwere Tafel aus Caliche mit mehreren eingezeichneten Köpfen und Inschriften (2)
- sechs Schwerter (8, 11, 16-23, 24, 26) sowie Schwert (12) mit der Darstellung eines Dinosauriers auf dem Griff, außerdem zwei Schwertfragmente (15 und 17)
- drei vollständige Speere (9, 19-21, 25-28-30), ein Speerschaft (32) sowie fünf Speerspitzen (10, 14, 22, 27-29, 31)
- ein flaches, schaufel- oder fächerartiges Objekt, beschrieben mit den Jahresdaten A.D. 560 und A.D. 7051:20 (13)
- ein großes Kreuz mit einer darum gewundenen Schlange (18) sowie eines mit halbmondförmiger und mehreren runden Verzierungen (20)1:104-Ende
Diskussion
Als Hauptargument für die Echtheit der Funde wurde wiederholt deren vollkommene Einbettung in festes Sediment angeführt. Dies stellte sich jedoch als Fehleinschätzung heraus: Der Geologe James Quinlan untersuchte die Fundstätte und datierte die Entstehung der Caliche ins Pleistozän, womit dieses mindestens 10 000 Jahre alt und damit viel älter wäre als die Artefakte gemäß ihren Inschriften sein sollten.1:62f James Frank Breazeale, ein Experte für Caliche in Arizona, geht sogar von einer Entstehung noch vor der Erhebung der nahen Tucson-Berge und somit einem Alter von vielmehr 100 000 Jahren aus.1:66 Es ist folglich auszuschließen, dass die Artefakte, wie oft behauptet, tatsächlich mit der Entstehung des Sediments eingeschlossen wurden; ein solches Alter widerspräche nicht nur allen bisherigen Erkenntnissen über die Entwicklung der menschlichen Zivilisation, sondern auch den auf den Artefakten selbst genannten Daten. Weiterhin konnte Quinlan nachweisen, dass ein Gemisch von Lehm, Sand und Kies innerhalb kurzer Zeit aushärten kann und danach von natürlicher Caliche kaum zu unterscheiden ist – so gelang ihm experimentell der Einschluss eines Bleistabes in scheinbar festes Gestein.1:64 Es lässt sich folglich die Einbettung in das Gestein nicht als Beleg für ein hohes Alter heranziehen, da die Zementierung des umgebenden Materials in nur wenigen Jahren erfolgen kann.1:68 Die Artefakte dürften folglich sekundär in ihrer Fundstelle deponiert worden sein. Für die nachträgliche Einführung der Objekte in den Untergrund spricht zudem ein Loch, das über das darin steckende Objekt hinausging.1:53
Für eine neuzeitliche Herstellung, d.h. Fälschung (wahrscheinlich im 20. Jhd.1:61), sprechen noch weitere Argumente:
- Die Herstellung von Waffen aus Blei ist unrealistisch, da dieses zu schwer ist und sich nicht zu einer Klinge schärfen lässt. Bleierne Waffen sind aus keiner anderen Kultur bezeugt.1:69
- Der Hüttenprüfer Thomas G. Chapman identifizierte das verwendete Blei als eine synthetische Antimon-Legierung, die rezentem „type metal“ (welches zum Drucken Verwendung findet) gleicht und somit mit ziemlicher Sicherheit modernen Ursprungs sei.1:71
- Die Inschriften auf den Kreuzen sind unzusammenhängend und ergeben keinen wirklichen Sinn. Wie Frank Fowler 1926 und präziser George Hawley 1928 herausstellten, handelt es sich bei den Sätzen zudem fast ausschließlich um Versatzstücke aus einem von drei zeitgenössischen Lehrbüchern: Harkness‘s Latin Grammar (1881), Allen and Greenough‘s Latin Grammar (1903) oder Rouf‘s Standard Dictionary of Facts (1914). Jene Auflage von Allen and Greenough‘s Latin Grammar von 1903, die als einzige alle fraglichen Phrasen enthält, wurde in der High School von Tucson verwendet.1:72-75
- Auch der Dinosaurier auf dem Schwert (einschließlich des erhoben dargestellten Schwanzes) erinnert stark an die Darstellung eines Sauropoden in dem damals verbreiteten Sachbuch The First Story Ever Told.1:18 f
- Es besteht keinerlei archäologischer Kontext für eine römische Gemeinde im präkolumbischen Tucson – weder für die anzunehmenden Siedlungen, noch deren materielle Erzeugnisse oder die angeblich geschlagenen Schlachten.1:69 Auch eine rituelle Deponierung kann mangels eines entsprechenden Kontextes und aufgrund der weiten, scheinbar willkürlichen Streuung der Funde eher ausgeschlossen werden.1:70
Im Jahr 2016 machte schließlich der Philologe und Grenzwissenschaftler Donald Yates von sich reden, indem er einen neuen Katalog der Artefakte veröffentlichte und für deren Echtheit eintrat. Ihm zufolge belegten diese eine Kolonie von Juden aus dem Heiligen Römischen Reich im 8. oder 9. Jhd.. Die Zitate von klassischen Autoren seien in einer mittelalterlichen Quelle absolut zu erwarten. Auch fänden sich auf einem Objekt das seltene frühmittelalterliche Wort urre für Erz (sonst stets als urbe „Stadt“ gelesen) sowie Zitate einer lateinischen Bibelfassung, die potenziellen Fälschern Anfang des 20. Jahrhunderts nicht bekannt gewesen sein könnten.2 Jason Colavito kritisierte Yates‘ Thesen: So weise etwa dessen historisches Modell verschiedene chronologische Fehler auf; auch entsprechen Yates‘ geglättete Übersetzungen nicht dem stark fehlerhaften Latein der Inschriften. Die Übereinstimmung der ausgewählten Textbausteine mit den neuzeitlichen Lehrbüchern gehe zudem weit über eine zufällige Korrelation hinaus; im Gegensatz zu Zitaten klassischer Autoren im Mittelalter seien zudem bei Änderungen die Formen nicht grammatikalisch korrekt angepasst worden. Die von Yates angeführte Bibelfassung Vetus Latina sei anders als von diesem behauptet nie verloren und durchaus auch (u.a. in Form zahlreicher Zitate) im frühen 20. Jhd. verfügbar gewesen. Das Wort urre für Erz sei sonst im Lateinischen selbst gar nicht belegt, sondern eine rein hypothetische Form, abgeleitet u.a. aus dem Baskischen. Zudem seien die beiden r im angeblichen urre deutlich verschieden, wobei letzteres vielmehr an ein missglücktes b (also doch urbe „Stadt“) erinnere.3
Die Tucson-Artefakte können also mit großer Sicherheit als Fabrikate des frühen 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Wer sie allerdings herstellte und an ihrem Fundplatz deponierte, ist bis heute nicht aufgeklärt worden. In Betracht gezogen wurden neben den Findern selbst bereits Freimaurer (aufgrund einschlägiger Symbolik), Mormonen und sogar der bereits mit den Michigan-Relikten verbundene Daniel Soper, all diese jedoch ohne konkrete Belege.1:92
Die Publikation der Wahl zu den Tucson-Artefakten stellt Don Burgess‘ umfangreicher Artikel Romans in Tucson? dar, welcher neben einem detaillierten Abriss der Ereignisse und der beteiligten Personen auch die zentralen Forschungsergebnisse, zahlreiche mit den Artefakten zusammenhängende Quellen im Originalwortlaut sowie hochauflösende Fotos sämtlicher Objekte beinhaltet.
Quellen
Thomas Bent: The Tucson Artifacts. Privatdruck, Tucson 1964.
1Don Burgess: Romans in Tucson?: The Story of an Archaeological Hoax. Journal of the Southwest 51/1 (2009), 3-102.
3Jason Colavito: Is Early Medieval Latin the Key to Unlocking the Tucson Lead Artifacts?
Robert Hyde / Donald N. Yates: The Tucson Artifacts. A Photography Album with Transcriptions and Translations of the Medieval Latin. Privatdruck, Minneapolis 2016.
2Tara Macisaac: Tucson Artifacts Suggest Romans Made It to New World in 8th Century: Expert
Rezeption: Luc Bürgin, Lexikon der verbotenen Archäologie (31-33)
Titelbild: Die Artefakte 18, 8, 13 und 1 (Foto: Hyde/Yates 2016)