Michigan-Relikte

Fundgeschichte

Nach eigener Aussage stieß James O. Scotford im Oktober 1890 nahe Wyman, Michigan, auf ein erstes Artefakt in Form eines Lehmbechers. In der Folgezeit stieß er auf immer mehr Artefakte und erregte damit lokal und national weithin Aufmerksamkeit, die in der Gründung einer Organisation zur Ausgrabung und Vermarktung der Objekte gipfelte. Über 3 000 Stücke (so die Schätzung von Richard Stamps1:211; andere Quellen sprechen von mehreren zehntausend Objekten) wurden über mehrere Jahrzehnte bis in die 20er Jahre des 20. Jhds. durch Scotford oder unter dessen Anleitung aufgefunden. Der ehemalige Staatssekretär Daniel Soper etablierte sich als Vermarkter der Artefakte; der örtliche Priester James Savage erwarb eine große Zahl von diesen.2:49,51 Rund 800 Tafeln wurden auch durch die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) erworben und zeitweilig in deren Salt Lake City Museum ausgestellt, da die Artefakte als Beleg für die im Buch Mormon beschriebene präkolumbische Besiedlung Amerikas durch jüdische Stämme zu taugen schienen. Untersuchungen der Mormonen – wie auch anderer Parteien – kamen jedoch zu dem Schluss, dass es sich bei den Artefakten samt und sonders um moderne Fabrikate handelte. Die Stücke der Mormonen befinden sich heute im Besitz des Michigan Historical Museums, werden jedoch nicht ausgestellt.2:55f

Beschreibung

Unter den insgesamt rund 3 000 Stücken befinden sich solche aus ungebranntem und gebranntem Ton, Kupfer sowie Schiefer. Neben einigen scheinbaren Gebrauchsgegenständen sind vor allem die umfangreich gravierten Tafeln zu nennen, auf denen sich Schriftzeichen unterschiedlichen Ursprungs (u.a. ägyptische Hieroglyphen) sowie vielfältige bildliche Darstellungen finden. Darunter finden sich etwa biblische Darstellungen (u.a. Arche Noah, Turmbau zu Babel, Anbetung des goldenen Kalbes), Menschen in sakralen oder sogar industriellen2:52 Kontexten sowie verschiedene Tiere, darunter Elefanten und an Drachen oder Dinosaurier gemahnende Wessen4:153. Sämtliche Artefakte tragen ein charakteristisches, oberflächlich an mesopotamische Keilschrift gemahnendes Symbol, über dessen Bedeutung – etwa als Stammesabzeichen, religiöses Symbol oder Herstellersignatur – keine Einigkeit besteht.

Diskussion

Zahlreiche Belege qualifizieren die Michigan-Relikte als neuzeitliche Fälschungen. Richard B. Stamps, Associate Professor of Anthropology an der Oakland University (Rochester, Michigan), der nach eigenen Aussagen über tausend der Stücke eigenhändig untersuchte, stellte umfangreiche Materialanalysen an – mit folgenden Ergebnissen:

  • Ein Großteil der zuerst gefundenen Relikte war aus ungebranntem Lehm gefertigt. Dieser hätte in der feuchten Erde Michigans unmöglich über mehrere Jahrhunderte seine Form behalten, sondern sich vielmehr innerhalb weniger Jahre mit Wasser vollgesogen und aufgelöst (Stamps vollzog dies mit einzelnen Scherben experimentell nach). Im Winter hätte der Frost diese Artefakte zerstört.1:217f Auffälligerweise tauchten, nachdem dieser Aspekt schon früh angemerkt worden war, fortan überwiegend Stücke aus gebranntem Ton oder anderen beständigen Materialien auf.
  • Eines der Artefakte aus gebranntem Ton wurde auf Veranlassung von Thom Bell, der eine Dokumentation über die Michigan-Relikte produzierte, einer Thermolumineszenzdatierung unterzogen, die den Zeitpunkt der Herstellung auf das frühe 20. Jhd. festlegte – exakt die Zeit der vermeintlichen Auffindung.2:54
  • Die aus Kupfer gefertigten Messer und Schwerter weisen weder Schneiden noch Abnutzungsspuren auf. Mehrere Meißel sind stumpf und unbenutzt, imitieren durch Abflachung des Endes jedoch vormalige Benutzung. Ein Objekt, das eine Kupferfeile zu sein scheint, ist aufgrund falscher und unsauberer Fertigung vollkommen dysfunktional.1:222-25
  • Das verwendete Kupfer ist vollkommen homogen und scheint modernes, gegossenes und heiß gewalztes Industriekupfer zu sein1:232, seine Verarbeitung anders als von frühen Kulturen zu erwarten.1:220ff
  • Manche unvollständige Schieferplatten wurden offenbar erst nach dem Auseinanderbrechen graviert, denn auf den bisweilen passenden Fragmenten fehlt der Rest der Gravuren; stattdessen reichen Bearbeitungsspuren mitunter über die Bruchkante hinaus.1:227f
  • Die Schieferplatten wurden offenkundig durch moderne Werkzeuge bearbeitet; zudem wirken die Linien bemerkenswert frisch.1:232
  • Die Schriftzeichen auf den Tafeln sind eine Mischung verschiedener Schriftsysteme (u.a. ägyptische Hieroglyphen) und ergeben keinen Sinn – zudem sind Fehler etwa in der Schreibrichtung der Hieroglyphen zu bemerken.1:230
  • Auch entspricht die Ikonographie der keines vorderasiatischen Volkes. Die bei den Michigan-Relikten bezeugte perspektivische Darstellung erscheint in Europa nicht vor dem 15. Jhd., womit die verlorenen Stämme Israels sowie koptische Christen des 5. Jhds. als Hersteller ausscheiden.1:230 Hingegen ist die stilistische Ausführung allgemein von auffallend geringer, geradezu amateurhafter Qualität.
  • Obwohl alle Artefakte in flachen Erdschichten nahe der Oberfläche gefunden wurden, ist kein Fund eines Artefaktes aus früheren Zeiten bezeugt – während lokale Farmer des 19. Jhds. beim Pflügen in der Tat auf zahlreiche andere archäologische Relikte (z.B. Pfeilspitzen) stießen. Auch in keiner der zahlreichen umliegenden archäologischen Stätten tauchten Michigan-Relikte auf. Ein sonstiger archäologischer Kontext, der für die angenommene Kultur auch weitere Funde in Form von Siedlungsspuren, Begräbnissen etc. erwarten ließe, existiert nicht.1:231

Als Hersteller der Relikte ist von James Scotford auszugehen. Sämtliche Funde geschahen durch diesen oder in seiner Anwesenheit bzw. an Stätten, zu denen er die Ausgräber führte. Nach seinem Tod wurden keine weiteren Artefakte gefunden.1:231 Walter Wyman, der Scotford für den Ankauf indianischer Artefakte besuchte, berichtete aus eigener Anschauung, wie jener neue Artefakte in seinem Keller herstellte. Dies deckt sich mit der Aussage von Scotfords Stieftochter, die ebenfalls schriftlich die Herstellung der Objekte durch Scotford bezeugte.2:54

Rezeption

Bis heute verteidigen Anhänger die Echtheit der Objekte. Als vielleicht einflussreichstes Werk ist The Mystic Symbol von Henriette Mertz zu nennen, die selbst fünfzehn Stücke untersuchte und für authentisch befand. Als Argument führt sie vor allem die große Zahl sowie mutmaßliche stilistische Verschiedenheit an, die für eine größere Zahl von Herstellern sprächen. Nach Mertz‘ Interpretation gehen die Michigan-Relikte auf spätantike Christen zurück, die vor den Christenverfolgungen unter Decius und Diokletian nach Amerika flohen. Das titelgebende „mystische Symbol“ sei eine an Keilschrift angelehnte Schreibung I H S, eine Abkürzung des Namens Gottes.3147 f Auch Luc Bürgin sieht in seinen Büchern Geheimakte Archäologie sowie Lexikon der Verbotenen Archäologie den Fall als ungelöst an und ergreift Partei für die Echtheit der Stücke; die Gegenargumente werden nicht rezipiert.4:149-154

Quellen

2Kenneth L. Feder: Archaeological Oddities. A Field Guide to Forty Claims of Lost Civilisations, Ancient Visitors, and Other Strange Sites in North America. Rowman & Littlefield, Lanham/London 2019, 49-56.

Francis W. Kelsey: Some Archeological Forgeries from Michigan. American Anthropologist, New Series 10/1 (1908), 48-59.

3Henriette Mertz: The Mystic Symbol. Mark of the Michigan Mound Builders. Ancient American Magazine, Colfax 2004.

1Richard B. Stamps: Tools Leave Marks: Material Analysis of the Scotford-Soper-Savage Michigan Relics. Brigham Young University Studies 40/3 (2001), 210-238.

Rezeption: 4 Luc Bürgin, Lexikon der verbotenen Archäologie (149-154), Geheimakte Archäologie (63-72)

Titelbild: Kelsey 1908, Pl. VI.