Godzilla in Assyrien – Altorientalische Mythen und der moderne Monsterfilm

Nach mehrmaligen Aufschüben ist es nun endlich soweit: Am 01. Juli 2021 ist der lang erwartete Monster-Blockbuster Godzilla vs. Kong ins Kino gekommen, vierter Teil des sogenannten MonsterVerse. Diesen Anlass möchte ich nutzen, um einige interessante Aspekte des Vorgängerfilms herauszuarbeiten.

2019 erschien der Film Godzilla II: King of the Monsters, Fortsetzung von Godzilla aus dem Jahr 2014. Gemeinsam mit Kong: Skull Island (2017) und dem jüngst erschienenen Crossover Godzilla vs. Kong (2021) bilden diese das MonsterVerse der Filmgesellschaften Legendary Entertainment und Warner Bros. Die Handlung ist schnell zusammengefasst: Eine Gruppe gigantischer Ungeheuer, die sogenannten Titanen, leben seit Jahrmillionen auf der Erde. Das rund einhundert Meter große Meeresreptil Godzilla ist ihr König – ein „ökologisches Korrektiv“, das die anderen Monster in Schach hält. Nun aber wird im Eis der Antarktis der eingefrorene Körper eines ebenso mächtigen Ungeheuers entdeckt und – wenig überraschend – fahrlässig befreit: „Monster Zero“ alias Ghidorah, ein dreiköpfiger Drache mit der Fähigkeit, Blitze zu spucken. Dieser macht Godzilla seine Herrschaft streitig – und zwei Alphatiere kämpfen um das Schicksal der Welt …

Was aber hat diese scheinbar so moderne Geschichte, Produkt Hollywoods in der Tradition japanischer Monsterfilme, mit altorientalischer Mythologie zu tun? Auf den ersten Blick manches, auf den zweiten noch mehr. Denn neben einigen direkten Anspielungen zeigen sich auch auffällige Parallelen zu tatsächlich uralten Mythen …

1. Eine (nicht ganz) unbekannte Zivilisation

Menschenköpfige Stiere im Louvre (Bild: David Monniaux)

Als Godzilla im späteren Verlauf des Filmes in den Tiefen des Meeres verschwindet, folgt ihm der menschliche Wissenschaftler Dr. Serizawa (Ken Watanabe) mit einem U-Boot – und entdeckt eine geheimnisvolle Parallelwelt tief unter dem Ozean: In den Höhlensystemen der Hohlwelt erstrecken sich die Ruinen einer urzeitlichen Zivilisation, die Godzilla und seinesgleichen einst als Götter verehrte. Doch wirken manche von deren monumentalen Relikten bemerkenswert vertraut:     
Der Eingang zur unterseeischen Stadt wird flankiert von zwei Torwächterfigurinen – riesigen, menschenköpfigen Stieren mit langen Bärten und Hörnerkronen. In ihrer Erscheinung sind diese Sphingen direkt aus dem Alten Orient übernommen: Als monolithische Monumentalstatuen flankierten sie einst die Tore der neuassyrischen Paläste von Assur, Nimrud (Kalḫu), Khorsabad (Dūr Šarrukīn) und Ninive – „um die Türschlösser zu bewachen“, wie der assyrische König Asarhaddon (680–669 v. Chr.) in einer Inschrift beschreibt.[1]    
Ihre Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert machte die Stierkolosse zu den wohl prominentesten Relikten des antiken Mesopotamien – bis heute gehören sie zu den eindrucksvollsten Exponaten der großen Museen von London, Paris, Berlin, New York und Bagdad. Der antike Name der Stierkolosse ist durchaus umstritten – obwohl in der Literatur häufig als Lamassu oder Šedu angegeben, ist möglicherweise eher der Titel Aladlammu korrekt.[2]         
Als Mischwesen vereinigen diese die Eigenschaften von Stier oder Löwe (Körper), Vogel (Flügel), Mensch (Kopf) und Gott (Hörnerkrone) – im Falle eines Statuenpaares aus Nimrud kommen zudem noch Schuppen und Kopfbedeckung eines Fisches hinzu. Manche Siegelbilder zeigen einen Aladlammu im Kampf mit Göttern oder Menschen. Doch scheint das Wesen wie manch anderes mesopotamische Monster von einem Gott besiegt und daraufhin zum Schutzwesen domestiziert worden zu sein: Nicht nur hält es als Torwächter Unglück von den Palästen der Könige ab – auch den gewöhnlichen Menschen diente es auf kleinen Roll- und Stempelsiegeln noch bis in die Zeit der Sassaniden als Glückssymbol.[3]

Bei genauerem Hinschauen ist in der geheimnisvollen Unterwasserwelt Godzillas für einen winzig kurzen Augenblick noch ein weiteres mythisches Wesen zu erkennen: Auf einem Turm steht die nur silhouettenhaft zu erkennende Statue eines doppelt geflügelten Humanoiden: Bei diesem handelt es sich um Pazuzu, einen der bekanntesten Dämonen Mesopotamiens. Als Beherrscher der eiskalten Winde, die er sich im Gebirge Untertan machte, ist er eine ständige Bedrohung für die Menschen. Erhalten sind verschiedene keilschriftliche Ritualtexte, die vor seinen Kräften schützen sollen.

Doch ebenso wie im Falle der menschenköpfigen Stierkolosse konnte auch seine Macht umgelenkt und zum Guten genutzt werden: So dient eine Beschwörung an Pazuzu der Abwehr anderer böser Dämonen, allen voran der tödlichen, löwenköpfigen Lamaštu.[4] So ist die plastische Darstellung eines Pazuzu auch etwa auf der berühmten Bronzeplatte AO 22205 zu finden, wo er gewissermaßen von oben die Verbannung der bösartigen Dämonin überwacht. Als Amulett getragen, galt der Kopf des Pazuzu als wirkmächtiger Schutz gegen böse Geister.
Dem modernen Kinogänger mag Pazuzu jedoch vor allem aus einem anderen Kontext bekannt sein: Die Entdeckung seiner Statue bei einer Grabung in der nordmesopotamischen Stadt Hatra läutet im Horror-Klassiker Der Exorzist (1973) die Handlung ein, in deren Folge der fortan unsichtbare Pazuzu Besitz von dem Mädchen Regan (Linda Blair) ergreift.

Ein weiteres mesopotamisches Motiv findet sich schließlich im Abspann des Films, wo eine Aneinanderreihung historischer Abbildungen und moderner Nachrichtenmeldungen einen Ausblick auf den weiteren Kontext der Titanen gibt. Dabei für einen kurzen Moment zu sehen: Ein altorientalischer Gott im Kampf mit einem geflügelten Mischwesen:      
Es handelt sich hierbei um ein Relief aus dem Ninurta-Tempel der assyrischen Residenzstadt Kalḫu (modern Nimrud), die Umzeichnung entnommen aus Austen Henry Layards Monuments of Nineveh (Layard 1853a, Pl. 5).       
Abgebildet ist angesichts des Fundortes wahrscheinlich der Gott Ninurta, der gegen den Anzu-Vogel kämpft. Das akkadische Anzu-Epos berichtet davon, wie dieses Mischwesen aus Vogel und Löwe die Ordnung der Welt aus den Fugen hebt, indem es die mächtige Schicksalstafel des Götterkönigs Enlil stielt. Daraufhin wird der Kriegergott Ninurta, Sohn Enlils, ausgesandt, um die Tafel zurückzugewinnen. Ninurta attackiert Anzu mit Pfeilen, die dieser mit seiner kosmischen Macht jedoch zurücksenden kann. Erst nach einem Ratschlag des Weisheitsgottes Ea gewinnt der Krieger die Überhand: Nachdem er ihn ermüdet und durch einen Sturm seiner Federn beraubt hat, trifft Ninurta Anzu mit einem Pfeil und tötet ihn.[5] Die Ordnung ist somit wiederhergestellt – und auch in diesem Fall wird der Anzu-Vogel fortan zu einem Symboltier Ninurtas, das dessen Tempel schmückt.

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist Godzilla7.png

Ein letztes Detail mesopotamischen Ursprungs ist leicht zu übersehen: Als auf der ganzen Welt die verschiedenen Titanen erwachen, sind auf einem Computerbildschirm kurz die Positionen mehrerer Ungeheuer zu sehen. Die Namen dieser für das MonsterVerse neu gestalteten Monster (ohne Vorbild in den japanischen Godzilla-Filmen) sind durchweg von Ungeheuern verschiedener Mythologien inspiriert: Abaddon, Amhuluk, Baphomet, Behemoth, Bunyip, Leviathan, Methuselah, Mokele-Mbembe, Quetzalcoatl, Scylla, Sekhmet, Tiamat, Typhon und Yamata no Orochi (darunter nur Behemoth, Methuselah und Scylla tatsächlich im Film zu sehen).[6] Jedes dieser Wesen würde einen mythologischen Exkurs rechtfertigen, doch sei sich auf das eine mit mesopotamischem Ursprung konzentriert:  
Tiamat (auch Tiāmtu), der personifizierte Salzwasserozean, erscheint im babylonischen Nationalepos Enūma Elîš als „Urmutter“ des Kosmos, die zusammen mit ihrem Partner Apsû die ersten Gottheiten erzeugt. Später plant sie, die jüngeren Götter zu vernichten, und gebiert dazu eine Armee von Ungeheuern. Nur der junge Gott Marduk wagt es, gegen sie in den Kampf zu ziehen. Er tötet Tiamat und erschafft aus ihrem Körper die bekannte Welt, zu deren König er von den anderen Göttern ernannt wird. Uneindeutig ist in den Mythen ihre tatsächliche Gestalt – neben ihrer Natur als uranfänglicher Ozean legen manche Textstellen und Abbildungen auch eine drachenartige oder sogar bovine Gestalt nahe.[7]       
Im Film wird Tiamat in Stone Mountain (Georgia, USA) verortet, ist selbst jedoch nicht zu sehen. Zu ihrem ersten tatsächlichen Auftritt kam es im Comic Godzilla Dominion (2021), wo sie in Gestalt eines blauen Schlangendrachen gegen Godzilla kämpft.[8]

2. King Ghidorah – schon im alten Assyrien bekannt?

Der Schwarze Obelisk (Layard 1853, Fig. 56)

Mit dem Aufstieg des dreiköpfigen Ungeheuers Ghidorah scheint im Film die Apokalypse auf Erden ausgebrochen: Stürme verwüsten die Erde, die übrigen Titanen erheben sich gegen die Menschen. Im Hauptquartier der Monster-Organisation Monarch diskutieren indes die Experten angespannt über die Natur des übermächtigen Drachen. „Ich hab mal einen Zusammenhang hergestellt“, verkündet da Dr. Ilene Chen (Ziyi Zhang) und offenbart eine antike Inschrift auf ihrem Computer:

„Es erzählt von einem großen Drachen, der vom Himmel gefallen ist – eine Hydra, so gewaltig, dass sie sowohl Menschen als auch Götter verschlang.“[9]

Sein Name laut der Legende: „Ghidorah – Der Eine, der Viele ist.“          
Während das Bild auf der linken Seite an die in verschiedensten Weltregionen vorzufindenden Felszeichnungen angelehnt ist, handelt es sich bei dem Relief und Keilschrifttext zur Rechten eindeutig um eine Inschrift aus dem antiken Mesopotamien.
Kann dies stimmen? Berichtet tatsächlich ein über zweitausend Jahre alter Text aus dem antiken Sumer, Babylon oder Assyrien von jenem dreiköpfigen Ungeheuer, das sich im japanischen Film Frankensteins Monster im Kampf gegen Ghidorah von 1964 erstmalig einem neuzeitlichen Publikum offenbarte? Oder handelt es sich einfach nur um einen pseudomythologischen Hintergrund, spontan erfunden für einen modernen Fantasyfilm?  

Tatsächlich wird in der Szene eine reale Inschrift gezeigt: Bei dieser handelt es sich um den sogenannten Schwarzen Obelisken (rechts). Die Stele des neuassyrischen Königs Salmanassar III. (reg. 858–824 v. Chr.) wurde 1846 in der einstigen Residenzstadt Nimrud (ass. Kalḫu) gefunden und befindet sich heute im British Museum in London. Entnommen ist die Umzeichnung dem bekannten Bildband The Monuments of Nineveh des Ausgräbers Austen Henry Layard von 1853. 
Mit einem mythischen Drachen hat das Relikt allerdings nichts zu tun: Es handelt sich bei dem Text um eine konventionelle Königsinschrift, die in chronikartiger Form die Ereignisse der Regentschaft König Salmanassars beschreibt.[10] Im Neuassyrischen Reich bedeutet dies vor allem: Seine zahlreichen erfolgreichen Kriege sowie die umfangreiche Beute und Tributleistungen, die er von eroberten und verbündeten Ländern erhielt.

Ebenso eine Erfindung ist die Neudeutung des Namens Ghidorah als „der Eine, der Viele ist“. Im Sumerischen ließe sich das Wort als Gidura (gi-du7.r-ra)[11] durchaus übersetzen – mit der Bedeutung „das vollkommene Schilfrohr“. Tatsächlich stammt der Name des ursprünglich japanischen Filmmonsters jedoch von der Hydra der griechischen Mythologie, die auf Japanisch Hidora (ヒドラ) heißt.[12]

Und der Mythos?       
Auch dieser existiert so nicht in der mesopotamischen Mythologie. Doch es wäre nicht verwunderlich, wenn er es täte – handelt es sich doch um eine Kombination von Motiven, die in den Mythen des Alten Orients allesamt durchaus bezeugt sind.          
Im Gilgameš-Epos etwa kommt auf Veranlassung der Göttin Ištar der Himmelsstier vom Himmel herab. Er ist so groß und mächtig, dass seine Anwesenheit das Marschland austrocknet und den Wasserspiegel des Flusses Euphrat senkt. Sein bloßes Schnauben öffnet Gruben, in die hundert und noch einmal zweihundert Männer stürzen.[13] Auch die bereits erwähnte Dämonin Lamaštu ist vom Himmel herabgekommen – verbannt von ihrem Vater, dem Himmelsgott Anu, wegen ihrer bösen Pläne.[14] 
Ebenso sind mehrköpfige Drachen in der mesopotamischen Mythologie gut belegt: Mehrere Abbildungen aus der späten frühdynastischen bis akkadischen Zeit (ca. 2500–2300 v. Chr.) zeigen ein siebenköpfiges, schlangen- und katzenähnliches Mischwesen, aus dessen Rücken Strahlen (möglicherweise Flammen oder „Schreckensglanz“) aufsteigen. Es wird von einem oder zwei Göttern bekämpft. Erst Jahrhunderte später ist ein solches Wesen auch in Texten belegt: Angen dima („Wie der Himmel geschaffen“) und Lugale u melimbi nirĝal („König, Sturm, dessen Schreckensglanz fürstlich ist“) sind zwei sumerische Epen über den Kriegergott Ninurta aus neusumerischer (ca. 2100–2000) oder altbabylonischer (2000–1600 v. Chr.) Zeit. Sie erwähnen neben diversen anderen Ungeheuern auch Muš-saĝ-umun, eine „siebenköpfige Schlange“, die der Gott im Bergland erschlagen und als Trophäe an seinem Streitwagen befestigt habe.[15] Möglicherweise gehen auf diese oder eine verwandte Überlieferung auch die Mythen und Sagen um sieben- bzw. mehrköpfige Schlangendrachen in angrenzenden Kulturen zurück: der Litanu des ugaritischen Baal-Zyklus, der dem biblischen Leviathan entspricht, der siebenköpfige Drache in der Offenbarung des Johannes, der vom Gott Indra besiegte Drache Vrtra der indischen und nicht zuletzt die Hydra der griechischen Mythologie.[16]

Shin Godzilla (2016)

All diese Ungeheuer sind in ihren jeweiligen Überlieferungen eine Bedrohung für Götter und Menschen gleichermaßen, wie der fiktive Mythos es über Ghidorah berichtet. Mehr noch als alle anderen ähnelt aber eine antike Überlieferung den Ereignissen des aktuellen Kinofilms: Die Rede ist vom Labbu-Mythos.

3. Labbu und die Philosophie der Monster

Der Mythos von Labbu ist auf einer einzigen Tontafel (Rm 282) aus der Bibliothek des Königs Assurbanipal (669–631 v. Chr.) in Ninive erhalten. Aufgrund von Beschädigung der Tafel nur unvollständig erhalten, berichtet der Text sehr komprimiert von Erschaffung und Tötung eines Drachen von unglaublichen Proportionen: 

(1)itanḫū ālāni nišī da….           Ermattet waren die Städte und Menschen […],
(2)indaṭā nišī e[…          heruntergekommen das Volk.
(3)ana ikkillišina u[l iṣallal Enlil]Wegen ihres Geschreis [kann Enlil nicht schlafen.]
(4)ana rimmatišina ul iṣab[bassu šittu]Wegen ihres Gebrülls ergriff ihn [der Schlaf] nicht.
(5)mannumma ṣēra [ullad]        “Wer wird die Schlange gebären?
(6)tâmtumma ṣēra [lilid]Das Meer wird die Schlange gebären!“
(7)Enlil ina šamê iteṣir [ …Enlil zeichnete sie an den Himmel.
(8)50 bēra mūrakšu 1 bēra [rupussu]50 Doppelstunden (540 km) war ihre Länge,
1 Doppelstunde (10,8 km) ihre Breite.

Die Ausgangssituation ist ein aus mesopotamischen Mythen durchaus bekanntes Motiv[17]: Die Menschen haben sich auf Erden so stark vermehrt, dass ihr Geschrei den Götterkönig Enlil vom Schlafen abhält. Dieser beschließt die Erschaffung eines Ungeheuers, wohl um die nervtötenden Sterblichen zu dezimieren. Er zeichnet das Bild einer Schlange an den Himmel, das (personifiziert und numinos gedachte) Meer gebiert das Ungetüm. Mit einer Länge von hunderten Kilometern degradiert Labbu selbst die größten Kaijus moderner Monsterfilme zu winzigem Ungeziefer.      
Doch kaum hebt das Ungeheuer seinen mächtigen Schwanz, werden die Götter selbst von Furcht ergriffen und beschließen auch schon wieder seine Vernichtung. Der nordmesopotamische Kriegsgott Tišpak wird von der Götterversammlung aufgefordert, Labbu gegenüberzutreten und ihn zu vernichten – als Belohnung für die Rettung des Landes winkt ihm die Königsherrschaft unter den Göttern. Da der Text an dieser Stelle abbricht, erfahren wir nicht, ob es tatsächlich Tišpak oder ein anderer Gott ist, der nun in den Kampf zieht – doch auf der Rückseite der Tafel lesen wir den Ausgang der Konfrontation: Der heldenhafte Gott attackiert Labbu zunächst mit Sturm und Wolken, dann erschießt er ihn mit einem Pfeil. Drei Jahre, drei Monate, ein Tag und eine Nacht lang fließt das Blut des riesenhaften Ungetüms. Das Ende ist nicht mehr erhalten, doch können wir davon ausgehen, dass der Sieger nun in der Tat zum König ernannt wird.[18]

Betrachtet man die einzelnen Handlungsbausteine, zeigen sich bemerkenswerte Übereinstimmungen des altorientalischen Mythos mit dem modernen Godzilla-Franchise und insbesondere dem neuen Teil King of the Monsters.       
Für die Herkunft Labbus bietet der Mythos sehr komprimiert zwei Bilder – womöglich Zeichen von ursprünglich unterschiedlichen Varianten des Erzählstoffs, die im vorliegenden Text miteinander verbunden worden: Wie auch Godzilla seit nunmehr über 30 Filmen taucht Labbu aus dem Meer auf, wie der außerirdische Ghidorah nimmt er im Himmel erstmals Form an. Eine erstaunliche Parallele: Im Jahr 2018 gab die Raumfahrtbehörde NASA die Benennung eines neu kartierten Sternbildes als Godzilla bekannt[19] – nach über zweitausend Jahren ist somit also erneut ein legendärer Meeresdrache an den Himmel gezeichnet worden.      
Tatsächlich nehmen die Drachenmonster in beiden Überlieferungen auch eine ähnliche narratologische Funktion wahr: Während die als Gebrüll versinnbildlichte Überbevölkerung der Menschheit die Erschaffung Labbus motiviert, waren es im japanischen Originalfilm ausgerechnet amerikanische Atombombentests, die den im Meer ruhenden Godzilla aus seinem äonenlangen Schlaf erwecken und zum Angriff auf Tokio veranlassen. In beiden Geschichten also fungiert der Drache als ein Korrektiv für die Menschheit, deren unbedachter „Lärm“ die unerbittliche Vergeltung der natürlichen/göttlichen Ordnung heraufbeschwört.           
Im antiken Mythos ebenso wie im Film King of the Monsters geht es zudem um Königsherrschaft, die mit dem Sieg über ein mächtiges Ungeheuer verbunden ist: Auch Godzilla muss den mächtigen Widersacher King Ghidorah im Kampf bezwingen, um seinen Titel als „König der Monster“ und damit die Ordnung der Welt wiederherzustellen.

Godzilla II: King of the MonstersLabbu-Mythos
[Atombombentests erwecken Godzilla.]Lärmende Menschheit motiviert Erschaffung von Labbu.
Godzilla kommt aus dem Meer.Das Meer gebiert Labbu.
Ghidorah kommt vom Himmel.Enlil zeichnet Schlange an den Himmel.
Ghidorah verschlingt Menschen und Götter.Labbu bedroht Menschen und Götter.
Menschen beraten.Götter beraten.
Nur ein Held (= Godzilla) kann Ghidorah besiegen.Nur ein Held (= Tišpak?) kann Labbu besiegen.
Der Sieger wird König der Monster sein.Der Sieger wird Königtum ausführen.
Godzilla tötet Ghidorah.[Tišpak] tötet Labbu.
Godzilla ist König der Monster.[Tišpak ist König der Götter(?).]

Bei seinem ersten Auftritt von 1954 noch ein zerstörerisches Ungeheuer, wandelte sich Godzilla in den meisten folgenden Filmen zum Mitstreiter der Menschheit gegen andere, noch bedrohlichere Monster – eine Entwicklung, der auch die aktuellen amerikanischen Filme folgen. Wie bereits an Aladlammu, Pazuzu und Anzu verdeutlicht, ist eine solche „Domestizierung“ des Monsters auch für mesopotamische Mythen typisch: Einmal von einem Gott besiegt, werden die zuvor bedrohlichen Geschöpfe zu Schutzmächten, deren Abbilder als Dekorelemente und in verschiedensten Ritualen gegen böse Mächte Verwendung finden.    
Klar verdeutlicht wird dies im Epos Enūma Elîš: Marduk, der Stadtgott von Babylon, kämpft gegen die uralte Meeresgottheit Tiamat, die eine ganze Gruppe von Ungeheuern (darunter Skorpionmensch, Fischmensch, Sturmdämon, verrückter Hund und mehrere giftige Schlangendrachen) befehligt. Während er sie tötet und aus ihrem Leib die bekannte Welt erschafft, werden die Monster niedergeworfen und gebunden.[20] Abbilder von ihnen stellt Marduk am Apsû, der Residenz seines Vaters Ea, auf[21], was die Situation realer Tempel spiegelt. Aus verschiedenen Ritualtexten wissen wir, dass Figurinen genau dieser Ungeheuer in der historischen Religionspraxis als Abwehrmaßnahme gegen Dämonen verwendet wurden.[22]

4. Monster damals und heute

King Kong vs. Godzilla (Die Rückkehr des King Kong, 1962)
Akkadzeitliche Siegelabrollung: Stiermensch (kusarikku) vs. Löwe / Sechslockiger Held (laḫmu) vs. Stier (Collon 2005, Abb. 99)

Der Film Godzilla II: King of the Monsters adaptiert an mehreren Stellen explizit mesopotamische Bildmotive (Schwarzer Obelisk, Stierkolosse, Pazuzu, Ninurta gegen Anzu). Wahrscheinlich eher unabsichtlich, doch gerade deshalb umso spannender sind dagegen die inhaltlichen Parallelen der phantastischen Erzählstoffe beider Zeitalter:

  • Erst der „Lärm“ der Menschen veranlasst das Erscheinen eines Ungeheuers, das somit eine gewisse Form von Gesellschafts- bzw. Zivilisationskritik repräsentiert. Sein zerstörerisches Werk kann einerseits dazu dienen, eine vermeintliche „natürliche Ordnung“ wiederherzustellen (Labbu, Godzilla), diese aber auch in fundamentaler Weise bedrohen (Labbu, Ghidorah).
  • Heimat der Monster sind Randbereiche der bekannten Welt – Ozean, Gebirge und Himmel / Weltraum.
  • Der Sieg über ein Ungeheuer dient als Legitimation für (Königs)Herrschaft (Labbu, Anzu, Enūma Elîš, King of the Monsters).
  • Beliebte Monster wandeln sich trotz, ja gerade wegen ihrer Kraft und Gefährlichkeit zu Beschützern der Menschheit gegen andere übernatürliche Bedrohungen.

Haben sich Medien und gesellschaftliche Stellung auch gewandelt, sind doch manche Handlungsmotive heute noch genauso beliebt wie einst im antiken Mesopotamien. Spektakuläre Monsterfilme sind nicht einfach nur Trash – sondern gewissermaßen letztes Stadium einer fast fünftausend Jahre andauernden Erzähltradition.

5. Quellen

Collon, D. 2005: First Impressions. Cylinder Seals in the Ancient Near East, London.

Farber, W. 2014: Lamaštu. An Edition of the Canonical Series of Lamaštu Incantations and Rituals and Related Texts from the Second and First Millennia B.C. MC 17, Winona Lake.

George, A. 2003: The Babylonian Gilgamesh Epic. Introduction, Critical Edition and Cuneiform Texts. Volume I, Oxford/New York.

Grayson, A. K. 1996: Assyrian Rulers of the early First Millennium BC II (858-745 BC). The Royal Inscriptions of Mesopotamia. Assyrian Periods (RIMA) Volume 3, Toronto.

Hecker, K. 1994: Das Anzu-Epos, in O. Kaiser (Hg.), Mythen und Epen II. Texte aus der Umwelt des Alten Testaments 3/4, Gütersloh, 745–759.

Heeßel, N. 2002: Pazuzu. Archäologische und philologische Studien zu einem altorientalischen Dämon. Ancient Magic and Divination IV, Leiden/Boston/Köln.

Lambert, W. G. 2013: Babylonian Creation Myths. Mesopotamian Civilizations 16, Winona Lake.

Layard, A. H. 1853: The Monuments of Nineveh. From Drawings on the Spot, London.

Layard, A. H. 1853a: A second series of the monuments of Nineveh: including bas-reliefs from the Palace of Sennacherib and bronzes from the ruins of Nimroud ; from drawings made on the spot, during a second expedition to Assyria, London.

Rendsburg, G. A. 1984: UT 68 and the Tell Asmar Seal. Orientalia 53/4, 448–453.

Ritter, N. C. 2011: Die andere Sphinx – Torwächter und Schutzwesen in Assyrien, in: L. Winkler-Horaček (Hg.), Die Wege der Sphinx. Ein Monster zwischen Orient und Okzident, Rahden, 67-77.

Uehlinger, C. 1995: Drachen und Drachenkämpfe im Alten Vorderen Orient und in der Bibel, in: B. Schmelz / R. Vossen (Hg.), Auf Drachenspuren. Ein Buch zum Drachenprojekt des Hamburgischen Museums für Völkerkunde, Bonn, 55–96.

Wiggermann, F. 1992: Mesopotamian Protective Spirits. The Ritual Texts. Cuneiform Monographs 1, Groningen.

Worthington, M. / Heffron, Y. 2013: Tiāmtu. RlA 13, 643–645. (1/2/3)

Mehr zum Alten Orient in der Populärkultur:
Altorientalische Flügelstiere (Aladlammû) in Film und Fernsehen
Eternals und der Alte Orient


[1] Ritter 2011, 69.

[2] Ebd.

[3] Ebd., 74 f.

[4] Heeßel 2002, 62.

[5] Vgl. Hecker 1994.

[6] Gojipedia: MonsterVerse

[7] Worthington / Heffron 2013, 644 f.

[8] Gojipedia: Tiamat

[9] ca. 1:11–1:12.

[10] Inschrift siehe in RIMA 3.0.102.014 (= Grayson 1996, 62–71) oder online CDLI P463797.

[11] Im Sumerischen existiert kein Buchstabe /o/.

[12] Godzilla-Wiki: King Ghidorah.

[13] SB Gilgameš-Epos 6:116–122 (George 2003, 627).

[14] Lamaštu 1:111–113 (Farber 2017, 115).

[15] Lugale u melimbi nirĝal 133 (ETCSL 1.6.2) / Angen dima 40,63 (ETCSL 1.6.1)

[16] Uehlinger 1995, 59 f.

[17] Im Atram-ḫasis-Epos motiviert der Lärm der Menschen den Gott Enlil zu verschiedenen Katastrophen, deren letzte die bekannte Sintflut ist. Ebenso sind es im Epos Enūma Elîš die jungen Götter selbst, deren Lärm die älteren Numina Apsû und Tiamat zum Versuch ihrer Vernichtung reizt.

[18] Labbu-Mythos siehe bei Lambert 2013, 361–365.

[19] Iliana Redman (Sumikai, 20.10.2018): NASA stellt Godzilla-Sternenkonstellation vor.

[20] Enūma Elîš 4:115–118 (Lambert 2013, 100–103).

[21] Enūma Elîš 5:73–76 (Lambert 2013, 92 f).

[22] Vgl. Wiggermann 1992, 145 ff.