Wenn Runologen sich täuschen – Irrungen und Fälschungen

Die Runen von Runamo, nach Erik Dahlberg, Suecia Antiqua.

Aus den unterschiedlichsten Gründen – vor allem aus Nationalstolz oder Geltungssucht – kommt es bei Neufunden von Runensteinen oder mit Runen verzierten Schmuckstücken immer wieder zu Betrügereien. Manche Forscher waren früher so enthusiastisch, dass sie schnell einer Selbsttäuschung aufsaßen. Und mache in privatem Rahmen geritzten Runen werden nur wenige Jahre später entdeckt und zu echten Zeugnissen aus altersgrauer Zeit erklärt. In diesem Abschnitt soll es um Irrungen und Fälschungen rund um die Futhark-Buchstaben gehen.
Der bedeutendste und am längsten währende aller Irrtümer spielte sich in Schweden ab. Auf den Felsen einer Waldlichtung bei Runamo nahe Blekinge wollten Gelehrte die umfangreichste je entdeckte Runeninschrift aufgespürt haben.      
Von der Inschrift berichtete bereits der dänische Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus (um 1160 bis nach 1208): „Im der Provinz Blekinge ist ein Felsgrat mit einem Pfad, der dort entlangführt. Und auf dem ganzen Pfad sind eigentümliche Schriftzeichen. Man sieht sie den ganzen Weg bis hin zum Meer in der Wildnis von Varend, und zwei Zeilen ziehen sich lange daran entlang, je eine an beiden Seiten des Weges. Der Zwischenraum zwischen den Zeilen ist schmal, und auf der Oberfläche sind Runenbuchstaben. Auch wenn sich der Weg über Berg und Tal hinzieht, findet man Spuren der Runeninschrift auf der gesamten Länge des Weges.“           
Der isländische Runenexperte Professor Finnur Magnusson untersuchte den Felsen für die Königliche Gesellschaft von Dänemark. Den ganzen Sommer 1833 wurden die Runen kopiert, dann veröffentlichte Magnusson nach Jahren intensiver Arbeit, in denen er zunächst den Code der Geheimrunen zu knacken hatte, seine Übersetzung in den Jahrbüchern der Gesellschaft. Die Runen, von rechts nach links gelesen, stellten sich als fünf Gedichte in strengstem Metrum heraus, die in altnordischen Versen den Sieg Harald Hildekinds über König Sigurd Ring im Jahre 395 feierten.

„Hildekind eroberte das Königreich
Gardar ritzte die Runen
Ola sprach den Eid
[…]
Möge Odin den Zauber heiligen
Möge König Ring
In den Staub fallen
(Inschrift unleserlich)
Elfen, Götter der Liebe
(sollen in Ruhe lassen) Ola
Odin und Freya
Und das Geschlecht der Asen
Musst vernichten, vernichten
Unserer Feinde
Verleihet Harald
Großen Sieg.“

Das war so lange eine Sensation, bis sich herausstellte, dass die „Runen“ einen ganz natürlichen Ursprung hatten. Wenige Jahre später nämlich fand der schwedische Geologe Berzelius heraus, dass es sich bei den vermeintlichen Runen nur um Risse und Spalten in einer Steinader im Felsen gehandelt hatte. Viele frühe Runenbücher des 19. Jahrhunderts betrachten dennoch die Runamo-Runen als echt und leiten eigene Konstrukte von den von Magnusson gefundenen Formen und Binderunen ab. Denn um die Haarrisse als Buchstaben lesen zu können, musste der Gelehrte so manche Binde- und Geheimrune voraussetzen.

Zwei Lesarten der Inschrift von Runamo, nach Finnur Magnusson.

Über die Runamo-Inschrift herrscht heute Übereinstimmung unter den Forschern, bei manchen Funden ist aber unklar, ob es sich um Fälschungen handelt oder nicht. Wie bei manchen frühen Runen, man denke an die Fibel von Meldorf, sind sich die Experten uneins. Ein Walbeinkästchen aus der Stiftskirche in Bad Gandersheim in Niedersachsen mit einer Futhorc-Beschriftung im Stile des 8. oder 9. Jahrhunderts ist für Klaus Düwel von zweifelhafter Echtheit, es gilt generell aber als authentisches Relikt des frühen Mittelalters. „Ich segne dich im Zeichen des Kreuzes“, lauten die Runen auf der Innenseite des Deckels nach Tineke Looijenga und Theo Vennemann, „[mit] Krankenöl im Namen Christi“. Dabei steht eine Sternrune teilweise als Laut-, teilweise als Begriffsrune. 
Ein kurioses Stück war sicherlich eine bilingual Hebräisch und Nordisch beschrifteter Stein. Dr. Mielziner aus Kopenhagen berichtete 1863 über ein „in Schweden gefundenes Epitaphium des Aschkenas ben Gomer“. Aschkenasen sind die Juden aus dem mitteleuropäischen Raum, der Verstorbene war also jüdischen Glaubens. Dass sie in Skandinavien im Mittelalter, wie ihre Landsleute, etwas in Runen eingeritzt haben könnten, ist zunächst einmal gar nicht so unwahrscheinlich. Nach Dr. Mielziner „wurde [die Grabinschrift] im Jahr 1830 ganz zufällig auf dem sogenannten Giesseberg in der Nähe von Falköping einige Fuß unter der Erdoberfläche gefunden und besteht aus einem 4 ½ Fuß [1,35 m] hohen Kalksteine, der mit Inschriften und Figuren bedeckt ist. Oben ist ein Schiff mit Mast, Segel und Rudern zu sehen. Darunter steht eine in zwei Reihen geordnete hebräische Inschrift, deren Buchstaben groß und theilweise leserlich sind. […]   
Unter dieser Inskription sieht man neben einander einen Vogel mit getrenntem Schnabel und ausgebreiteten Flügeln nebst einem vierfüßigen Thiere, das einen Wolf oder einen Bären vorstellen soll. Ganz unten befindet sich eine schlangenförmige Runenschrift. Diese wurde seiner Zeit von den runenkundigen Brüdern Jonas und Eric Mellin, welche dem in ihrer Nachbarschaft aufgefundenen Steine besondere Aufmerksamkeit schenkten, dahin gedeutet: ‚Für den weit berühmten Aschkenas, seinen Stammvater, für Riphat und Thorgarma errichtete König Gylfe diesen Stein.‘ Sowohl die hebräische Inschrift, als die Runenschrift sprechen somit von Aschkenas. Die erste scheint sagen zu wollen, daß der genannte Aschkenas an der Stelle gestorben, wo der Stein errichtet worden.“        
Das bedeutete: Ein schwedischer König betrachtete einen Juden als seinen Vorfahren und adelte so seine Sippe „Daß Jemand mit diesem Runensteine ein falsum begangen haben sollte, war ein Gedanke, den sie mit aller Kraft von sich wiesen. Und doch ist es augenscheinlich, daß hier ein wissenschaftlicher Betrug vorliegt. Abgesehen von allen andern Unwahrscheinlichkeiten ist es genug, daß die Runen von der allermodernsten Art sind.“ Im protestantisch geprägten Schweden adelte es offensichtlich im 19. Jahrhundert, wenn man sich vom Volk Gottes ableiten konnte! Angesichts der Fälschungen, die man mit Runen später noch anstellte, um die die Überlegenheit einer „germanischen Rasse“ zu belegen, ist das eine sehr harmlose Geschichtsverdrehung gewesen!

In Schottland behandelte die Royal Society of Antiquaries, also die Königliche Gesellschaft für Altertumskunde, 1927 einen anderen Fall. „Ein hoher Stein“, berichtete die Presse, „der in einem Garten eines Hotels in Oykell Bridge, Ross-shire, gefunden wurde, trug eine Inschrift mit Runenlettern, die die Gelehrten lange Zeit verwirrte. Es stellte sich dann heraus, dass vor etwa 50 Jahren ein englischer Angler, als das Wasser niedrig und es um das Fischen schlecht stand, einen Stein aus dem Flussbett schleppte und wenig später vier Forscher auf einer Urlaubsreise sich damit amüsierten, indem sie ihre Namen und Initialen in Runenbuchstaben auf den Stein schnitten.“ Wie bei so manchem deutschen Runenstein wurde auch hier ein Freizeitspaß zur „wissenschaftlichen Entdeckung“, bis er aufgeklärt werden konnte.

Eine weiter Art von Fälschung ist der bewusste Betrug, um rassistische Vorstellungen zu untermauern. Ein gutes Beispiel dafür sind die sogenannten Deventer-Knochen.      
1946 bot C. A. Viester aus Deventer dem Rijksmuseum, Leiden, zwei Knochen zum Kauf an, in die kombiniert bronzezeitliche Motive und Runen geritzt waren. Ein Rinderrippenfragment wies Muster auf, wie man sie aus der vorkeltischen Zeit kannte, der Unterkiefer eines Rindes Wagen- und Menschendarstellungen vom bronzezeitlichen Typus, dazu die Runen (älteres und jüngeres Futhark gemischt) z/R, h, k und g.          
Die Knochen wiesen Patina auf, die allerdings von den Runen und Illustrationen durchschnitten war, bis der noch unverwitterte Knochen frei lag: „Sämtliche Gravuren […] widersprechen diesem Verwitterungsstatus.“  
Die Forscher vermuteten eine Fälschung, und zwar zur Nazi-Zeit, und sie konnten das belegen. Datierungen ergaben, dass die Knochen hochmittelalterlich waren, jünger als Bronze- und Germanenzeit. Sämtliche Illustrationen hatten Vorbilder in Ausgaben der Zeitschrift „Hamer“, dem Organ der Volksche Werkgemeenschap, dem niederländischer Ableger des deutschen Ahnenerbes, die zwischen Mai 1941 und Februar 1943 erschienen waren. Belegt werden sollte wohl vor allem der bronzezeitliche Ursprung des Runenalphabets – allerdings, wie die Forscher Peter Pieper, Thijs J. Maarleveld und A. J. Timothy Jull amüsiert feststellten, von einem „runenunkundigen“ Fälscher, denn die Inschrift ist durch und durch sinnlos.     
Auch ein Knochenpfriem aus Maria Saal in Österreich, 1924 entdeckt, war zwar aus Spaß von einem Soldaten des Alpenjägerregiments geritzt worden, galt aber nach seiner zufälligen Auffindung völkischen Theoretikern als Beleg für Ursprung der Runen im Alpenraum im 1. vorchristlichen Jahrhundert!       
Klaus Düwel listet als wahrscheinliche Runenfälschungen aus Deutschland die Fibel von Kärlich bei Koblenz auf, die Felsritzung aus der Höhle Kleines Schulerloch bei Kehlheim an der Donau, die Steine von Coburg, Rubring und Rügen, ein Serpetinobjekt aus Trier und einen Goldring von Illertissen mit einer Inschrift im älteren Futhark (in diesem Falle sei die Täuschung wissenschaftlich bewiesen). Manchen dieser Funde sind wir bereits begegnet.
Die merowingerzeitliche Fibel von Kärlich trug die Aufschrift „wodani hailag“ – dem Wotan heilig, und scheint von einer Buchvorlage falsch abgeschrieben zu sein. Unsicherheit besteht noch über den Fund von Trier – er „fällt in die Rubrik der Zweifelsfälle“, erklärt Arnulf Krause. Das 3 cm lange und 2,3 cm breite Objekt aus Serpentin, das von gelb bis schwarz schimmert, weist die Worte wilisa und wairwai auf und wurde im Februar 1978 in Trier an der Ecke Windmühlenstraße/Böhmerstraße gefunden. Nur weitere Untersuchungen können seine Authentizität belegen.  
Runen wurden aber nicht nur im deutschsprachigen Raum gefälscht oder falsch gedeutet. In Gallavesa am Garlatesee, dem östlichsten Ausläufer des Comer Sees, wurde die gefälschte Inschrift „Sergius ritzte den Stein nach Rusenkl, dein Gott helfe der Seele“ entdeckt, in Frankreich beim entsprechend benannten Ort Runes östlich von Florac (Département Lozère) fand sich eine Inschrift, bei der es sich um das Imitat eines echten Runensteins handelte. Selbst aus Finnland, dem einzigen Staat Skandinaviens ohne Runensteine, half man diesem Mangel in der Gemeinde Vöra im Westen des Landes nach!         
Einen Runenstein soll es sogar in Spanien geben – doch auch hier wird das Wort Rune, wie in vielen Ländern, analog etwa zum Wort Hieroglyphe, ganz einfach im Sinne „unlesbare“, „unverständliche“ Schrift gebraucht. Spanische Zeitungen berichteten regelmäßig über Entdeckungen von Runensteinen, meinten aber stets nur, dass diese Steine den Lesern unverständliche Zeichen trugen. Es handelt sich nicht um Fälschungen, sondern – wie bei Runamo, um einen Irrtum. Die Tageszeitung „La Vanguardia“ aus Barcelona meldete zum Beispiel am 21. Juli 1923 (auf S. 7), bei Tarragona habe man Zeugnisse der fortgeschrittenen gräko-iberischen Kultur entdeckt, darunter „Runensteine in Jérica“. Sie trugen wohl eher Inschriften in den rechtsläufigen iberischen Buchstaben des 5. bis 4. vorchristlichen Jahrhundert, die mit ihren eckigen Formen an Runen erinnern.

Bleiblech von La Serreta (Alcoi) mit gräko-iberischen Buchstaben.
(Foto: I. Tautintanes, Wikimedia)

Zum Abschluss stehe folgender, durch und durch fantastische Bericht aus der „La Vanguardia“ vom 31. Dezember 1881 (S. 3): „Die Gazetta de Tortosa berichtet über die folgende Tatsache, offenbar eine Parodie auf das Abenteuer in der Cueva de Montesinos [Anspielung auf eine Episode in „Don Quijote“]: ‚Eine Person aus dieser Stadt wurde gestern, am 28. Dezember, dem Tag der unschuldigen Kinder, Opfer eines einzigartigen Streiches. Folgendes wird berichtet: Er erhielt einen Brief, der von mehreren Freunden, die sich auf der Jagd befanden, unterzeichnet war und der wie folgt lautete: ‚Wir gruben am Hang eines Hügels bei Regues ein Loch, um einen Jagdansitz anzulegen, und stießen dabei auf einen tiefen Hohlraum, den wir bald erkunden wollen. Nachdem wir alle Hindernisse beiseite geschafft hatten, befanden wir uns in einem Gang, der bearbeitet schien und voller unverständlicher, weil verwitterter Runeninschriften war. Der Gang führte zu einem geräumigen Raum von bemerkenswert erhaltener arabischer Bauweise, in dessen Mitte zwei prächtige Gräber mit einzigartigem und unbeschreiblichem Reichtum standen. Neugierig öffnete wir mit Leichtigkeit eine Art von Deckel, der diese Gräber bedeckte, und wir fanden – was nicht verwunderlich war – zwei Mumien, eine in jedem Grab, auf einer Art Sockel, wohl aus Silber und filigran gearbeitet. Die Mumie aus dem rechten Grab ist die einer jungen Frau, die andere die eines Mannes, beide von enormer Statur. Er trägt ein schönes Stirnband, das echt und von unschätzbarem Wert ist; eine große Perlenkette schmückt seinen Hals; seine Finger sind mit Ringen bedeckt und in jedem Ohr steckt ein Karfunkel unbekannter Größe. Er trägt eine kostbare Kaiserkrone und ein großes Zepter in der rechten Hand. Von einer solch unerwarteten Entdeckung noch ganz gefangen, bitten wir Sie, persönlich vorbeizukommen, um die Wunder dieser wichtigsten Entdeckung zu bezeugen.‘ Der Brief endete hier. Aus Neugier reiste besagte Person gestern Morgen ab und wurde von seinen Freunden empfangen, die laut lachten.“

Dieser Text ist ein Ausschnitt aus dem Buch „Runen: Geschichte und Mythos einer rätselhaften Schrift“ von Ulrich Magin (Nikol, Hamburg 2021, ISBN‏: ‎ 978-3868206159).