Der XXY-Krieger von Janakkala

Fundsituation im Grab des „Kriegers von Janakkala“ (Moilanen et al 2021, Fig. 3).

Der Krieger mit zwei Schwertern – und drei Geschlechtschromosomen

Gastbeitrag von Tobias Möser, ursprünglich erschienen beim Netzwerk für Kryptozoologie

Bei den Vorarbeiten zur Verlegung einer Wasser-Pipeline im Oktober 1968 im südfinnischen Suontaka fanden die Mitarbeiter der Baufirma völlig unerwartet eine mittelalterliche Speerspitze, wenig später eine stark korrodierte Axt. Als sie weiter gruben, stießen sie auf eine zerbrochene Schwertklinge – Zeit, die Archäologen zu verständigen.        
Die kamen in Form des finnischen Zentralamtes für Museen und Denkmalpflege (NBA), sahen sich die Sache an und gruben 1969 weiter. Neben dem zerbrochenen Schwert fanden sie ein ungewöhnlich weit erhaltenes Skelett, zudem mehrere Broschen, ein Messer und ein weiteres Schwert. Das Grab konnten sie recht unscharf auf eine Zeit zwischen 1040 und 1174 datieren, eine Zeit, in der sich bei den Nordmannen so einiges ereignete. Doch auch die Kombination der Funde war aufsehenerregend: Die beiden Schwerter stammen aus zwei völlig unterschiedlichen Epochen. Ein mittelalterliches Langschwert lag bei dem Skelett, das andere, ein Wikinger-Breitschwert, in der Grabverfüllung.

Janakkala, hier wurde das Grab des Kriegers gefunden (Moilanen et al 2021, Fig. 1).

„Es ist für Skandinavien sehr ungewöhnlich, ein Schwert in einem Grab zusammen mit typisch weiblichen Artefakten zu finden“, erklärt Ulla Moilanen von der Universität Turku. Kriegerinnen waren in den nordischen Kulturen bekannt, aber sie waren selten. Sie kleideten und verhielten sich wie männliche Krieger. Daher fand man in ihren Gräbern auch Schwerter, aber normalerweise keinen Schmuck oder sonstige feminine Accessoires. Dies führte kurz nach der Ausgrabung zur Annahme, dass es sich um ein Doppelgrab eines Paares handeln könne. Doch hierfür war das Grab zu klein.

Der Krieger mit den zwei Schwertern

Die ungewöhnliche Kombination aus „männlichen“ und „weiblichen“ Grabbeigaben geriet jedoch in Vergessenheit. Wie so oft lag das Augenmerk auf den Waffen. Insbesondere die beiden Schwerter machten nicht nur die Archäologen auf das Grab aufmerksam. Eines der Schwerter war ein zeitgenössisch-modernes Schwert, das der Krieger vermutlich für sein Handwerk verwendete. Das andere war ein mindestens 200 Jahre älteres Wikinger-Schwert.

Grabbeigaben (Moilanen et al 2021, Fig. 2)

Die Ostung des Grabes lässt auf einen christlichen Bestattungsritus denken, das Vorhandensein des alten Schwertes könnte auf archaischere, heidnische Riten hindeuten.   
Für das ZDF war diese Zusammenstellung bereits interessant genug, eine 45-minütige Dokumentation über den „Krieger von Janakkala“ zu drehen. Neben der Arbeit der Archäologen wird dabei die Beisetzung des „Kriegers“ in Form von Einspielfilmen nachvollzogen.

Der Krieger hatte 50 Jahre Ruhe – und dann …

Irgendwann in den späten 2010er-Jahren drehte sich die Interpretation des Grabes. Moilanen et al. sprechen in der neuesten Veröffentlichung von einer Frau mit zwei Schwertern bzw. der Kriegerin. Insbesondere die moderne Analyse der Kleidungsreste und des Schmuckes lässt die Archäologen vermuten, dass hier eine Frau beerdigt wurde, kein Mann.

Leider ist von den im Grab gefundenen Knochen kaum etwas zu einer wirklichen Analyse erhalten geblieben. Bereits die Beschreibung der Ausgrabung spricht von „schwierigen Verhältnissen“. Im nassen, sauren Boden Südfinnlands waren die Knochen zu einer weichen, fast formbaren Masse umgewandelt. Die Archäologen fanden die Schienbeine, Oberschenkelknochen, das Becken, die Ellenbogengelenke, Rippen und den Schädel. Aber mehr als Fragmente der beiden Oberschenkelknochen konnten die Archäologen damals nicht bergen. Folglich ist auch jeder Versuch der Vermessung des Skelettes und der Geschlechtsdiagnose anhand von morphologischen Merkmalen unmöglich.

Trotz des direkt mit dem Körper assoziierten Langschwertes (das sonst fast nur in Gräbern von Männern vorkommt) wurde der Leichnam in typisch weiblicher Kleidung beerdigt. Obwohl ein Sarg fehlte, kann nicht von einem „schnellen Verscharren“ die Rede sein; der Grabschacht wurde sorgfältig ausgehoben, der Boden geglättet. Die Lage der Grabbeigaben deutet auf eine rituelle Beerdigung hin – hier wurde ein Mensch zu Grabe getragen, der in seinem Umfeld geachtet war.

Ein historisches Haus im Freilichtmuseum von Aland, möglicherweise lebte der Krieger von Janakkala ähnlich.

Dennoch: Die seltsame Kombination aus Accessoires für Männer und solcher für Frauen ließ den Archäologen keine Ruhe. Da heute eine Analyse historischer DNA (aDNA) beinahe Routine ist, begannen Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Anthropologie in Jena genetisches Material aus einem der beiden Oberschenkelknochenfragmente zu extrahieren.

Die Sequenzierung dieser DNA-Probe war nur mäßig erfolgreich. Wie bereits aufgrund des schlechten Fundzustandes zu erwarten, ergab sie nur wenig DNA und diese war von schlechter Qualität. Für die Experten: Nur 106.781 Sequence-Reads konnten im menschlichen Genom lokalisiert werden. Nur 8329 hatten eine Mapping-Quality von über 30, davon zeigten 2534 deutliche Post-Mortem-Schäden. Die Aussage dieser Sequenzen ist gering. Daher beschränkte sich das MPI auf die noch ausstehende Geschlechtsdiagnose.

Die genetische Geschlechtsdiagnose beim Menschen

Der moderne Mensch hat in seiner Zelle normalerweise 46 Chromosomen. 44 davon sind Autosomen, sie haben nichts mit der Geschlechtsausprägung zu tun. Die restlichen zwei stellen die Gonosomen oder Geschlechtschromosomen dar. Liegen zwei X-Chromosomen vor, ist das Individuum eine Frau. Liegt ein X und ein Y-Chromosom vor, ist es in der Regel ein Mann. Genotypen werden dann als 46,XX für eine Frau und 46,XY für einen Mann geschrieben. Während bei den meisten Autosomen eine Abweichung von der Zahl 2 nicht mit dem Leben vereinbar ist, kommt es bei Geschlechtschromosomen relativ häufig vor:

  • 45,Y0: nicht lebensfähig
  • 45,X0: Frau mit Turner-Syndrom, Häufigkeit etwa 1:2500; Patientinnen bleiben klein, sind oft gedrungen und haben mehrere, eher leichte gesundheitliche Probleme. Keine Einschränkung der Intelligenz oder der Lebenserwartung.
  • 46,XX: normaler Karyotyp für eine Frau.
  • 46,XY: normaler Karyotyp für einen Mann. In seltenen Fällen gibt es Frauen mit diesem Karyotyp
  • 47,XXY: Mann mit Klinefelter-Syndrom, ein zusätzliches X-Chromosom (siehe unten)
  • 47,XYY: Mann mit Diplo-Y-Syndrom, Häufigkeit etwa 1:600 bis 1:2000, wenig physische Symptome, schnelles Wachstum, erhöhte Körpergröße, praktisch vollkommen beschwerdefrei, keine Einschränkung der Lebenserwartung
  • 47,XXX: Frau mit Triplo-X-Syndrom, Häufigkeit etwa 1:800 bis 1:1000, kaum klinische Symptome, eher großwüchsig, Pubertät und Klimakterium verfrüht, Einschränkungen in der Lautsprache und der Feinmotorik häufig.

(Bitte beachtet die Angaben zur Karyotypforschung unten)

In den moorigen Böden Südfinnlands erhalten sich Knochen sehr schlecht.

Die bestehenden Methoden zur genetischen Geschlechtsdiagnose sind bei so schwachen Daten natürlich auch nicht die stärksten. Dennoch stellte sich deutlich heraus, dass die X und Y-Chromosomen-Reads weder für XX-Individuen (Frauen) noch für XY-Individuen (Männer) passen. Daher entwickelten die Mitarbeiter des MPI eine neue Methode, um Geschlechtschromosomen zu zählen.       
Dabei bestätigte sich ein früher Verdacht: Der Karyotyp des Kriegers von Janakkala war 47,XXY. Der Mann hatte das Klinefelter-Syndrom.

Das Klinefelter-Syndrom

Menschen mit dem Karyotyp 47,XXY tragen das Klinefelter-Syndrom. Es ist häufig unauffällig und wird bei einem bis zwei Kindern pro 1000 männlichen Neugeborenen diagnostiziert. Die Dunkelziffer liegt vermutlich sehr hoch, da Klinefelter- Patienten in der Regel unauffällig sind.
Einige klinische Genetiker vermuten, dass nur jeder 4. oder 5. Klinefelter-Junge bzw. -Mann als solcher erkannt wird.

Der komplette Chromosomensatz eines Klinefelter-Mannes: 47 XXY

Träger des Syndroms sind immer männlich, d.h. besitzen Penis und einen Hodensack mit Hoden. Weibliche Geschlechtsorgane werden nicht ausgebildet.         
Träger des Klinefelter-Syndroms sind daher keine Zwitter, auch wenn einige „Wissenschafts-Blogs“ es so schreiben.

Im Kindesalter

Bei der Geburt sind die Kinder normal entwickelt und unterscheiden sich nicht von 46,XY-Jungen. Gelegentlich kommt es zu Hodenhochstand, was aber auch andere Gründe haben kann. Ein kleiner Teil der Jungen zeigt in der Schule leichte Lernschwächen, häufig sind sie ruhiger und passiver als andere Kinder in dem Alter. Ihre Trotzphase gilt als weniger stark. Gelegentlich werden Stimmungsschwankungen und Wutausbrüche, vor allem in Verbindung mit schulischen Problemen beschrieben, hier sind Ursache und Wirkung noch nicht abschließend geklärt. Gelegentlich verzögert sich auch die motorische Entwicklung, einige Jungen bleiben ihr Leben lang etwas ungeschickt.    
Die Jungen wachsen schnell und werden etwas größer als der Durchschnitt. Bis auf einige Sonderfälle ist die Intelligenz nicht beeinträchtigt, lediglich eine Teilleistungsschwäche im sprachlichen Bereich kommt öfter vor.

In der Jugend

Da die Hoden bei Klinefelter-Jungen oft nur wenig Testosteron produzieren, kommt es in der Pubertät zu ersten sichtbaren Symptomen. Heute können nahezu alle Symptome nach einer Diagnose durch Testosteron-Gaben erfolgreich behandelt werden.          
Dieses Privileg hatte der Krieger von Janakkala natürlich nicht. Seine Pubertät trat möglicherweise verspätet ein und verlief sehr schwach. Die oft diagnostizierte Introvertiertheit traf auf andere Unsicherheiten, eine geringe Libido und die verminderte Wahrnehmung der eigenen Männlichkeit. Dazu könnte der Stimmbruch ausgeblieben sein. Weitere mögliche Symptome waren der fehlende Bartwuchs und eine leichte Verschiebung der Körperproportionen: einige Klinefelter-Männer haben vergleichsweise lange Beine und einen kurzen Oberkörper. Gelegentlich lagert sich Fettgewebe im Hüftbereich ab und es kommt zu Brustbildung.     
Keines dieser Symptome ist für Klinefelter-Männer zwingend.

Im Erwachsenenalter

Auch im Erwachsenenalter würde sich ein Testosteronmangel auswirken. Falls der Janakkala-Krieger Symptome gezeigt hat, könnte er unter einer geringeren Ausbildung der Muskulatur gelitten haben. Weiter könnte sein Bartwuchs fehlen, ebenso die männertypische Körperbehaarung. Dafür hat er sich möglicherweise nie mit dem Problem der Glatzenbildung herumschlagen müssen.
Er könnte auch unter fehlender Libido und Potenzstörungen gelitten haben. Vermutlich unbemerkt wäre eine verringerte oder fehlende Spermienproduktion geblieben. Da er vermutlich regelmäßig fetten Fisch zu sich nahm, wird sein Osteoporose-Risiko im Vergleich zu seinen heutigen Leidensgenossen eher gering gewesen sein.   
Ob der Janakkala-Krieger sehr alt geworden ist, ist fraglich. Heute haben symptomatische Klinefelter-Männer ein erhöhtes Risiko für Diabetes mellitus Typ 2, Epilepsie, Thrombosen, Brustkrebs und Depressionen.

Die Persönlichkeit des Janakkala-Kriegers

Ich gehe davon aus, dass der Janakkala-Krieger symptomatisch war. So lässt sich erklären, warum er mit Accessoires für Männer und Frauen beerdigt wurde (möglicherweise gibt es auch noch andere Erklärungen hierfür).         
Er wird ein ruhiges Kind gewesen sein, das kaum Spaß an physischen Spielen mit Gleichaltrigen gehabt hat. Möglicherweise haben Gleichaltrige ihn auch abgelehnt, weil er ungeschickt war und deswegen ab und zu einen Wutausbruch hatte. Vermutlich wird er daher mit etwas jüngeren Kindern zusammen gewesen sein.     
Wenn er in der Pubertät feststellte, dass er sich nicht so entwickelte wie junge Männer in seinem Alter, wird ihn das verunsichert haben. Das wird seine Häuslichkeit und Schüchternheit vermutlich verstärkt haben.         
Eines erscheint mir ziemlich sicher: Ein Krieger wird der „Janakkala-Krieger“ niemals freiwillig geworden sein.   
Den Grabfunden nach entwickelte er sich eher anders. Die typische Frauenkleidung macht deutlich, dass er sich nach einer eher unauffälligen Jugend aktiv die weibliche Rolle ausgesucht hat.

Flusslandschaft in Südfinnland

Wie könnte der „Janakkala-Krieger“ gelebt haben? Die Kleidung und die Grabbeigaben in Form von Speer, Axt, Messer und Langschwert, ebenso wie die aufwändig gestalteten Broschen deuten auf eine reiche, möglicherweise adelige Herkunft hin. Die adelige Herkunft wird durch die spätere Grabbeigabe, das damals bereits antike Wikinger-Breitschwert, noch unterstützt. Möglicherweise handelte es sich hierbei um ein Familien-Erbstück.    
Wenn der Janakkala-Krieger als Adeliger geboren wurde, war er kraft Abstammung Teil der Dorfgesellschaft, mit Sicherheit bald ein führender Teil. Vermutlich entsprach er bereits früh nicht den Wünschen seiner Eltern an einen adeligen Jungen: Die Schüchternheit und fehlende Körperkraft wird sich nicht gerade förderlich auf das Schwerttraining ausgewirkt haben, das adelige Kinder bekamen, sobald sie einen Stock halten konnten. Probleme mit der sprachlichen Entwicklung dürften die Eltern ebenfalls nicht erfreut haben – ein Herrscher muss in der Lage sein, seine Untertanen im Detail zu verstehen und sich präzise ausdrücken können.
Möglicherweise orientierte sich der Junge bereits im Grundschulalter mehr an Frauen, da ihre Tätigkeiten seinen Interessen und Fähigkeiten mehr entsprachen. Dies könnte nach der nur schwach ausgeprägten Pubertät zu dem Entschluss geführt haben, als Frau oder nicht-binär weiterzuleben. Ich gehe davon aus, dass der Vater des „Kriegers“ relativ früh verstarb, so dass er dieser Entwicklung nicht im Weg stand.

Nachbau eines Wikingerdorfes in Vikingagard in Schweden

Konnte die Gesellschaft eine solche nicht-binäre Rolle akzeptieren? Sicher, eine solche Entscheidung dürfte im Dorf zu einiger Irritation geführt haben. Ein Junge, der sich entscheidet, als Frau zu leben, aber dann doch ein Schwert trägt? Ungewöhnlich, aber vermutlich blieb den Untertanen nichts anderes übrig, als ihren „Chef“ oder zumindest Mitglied der herrschenden Familie so zu akzeptieren.   
Ich kann mir sogar vorstellen, dass der Janakkala-Krieger ein guter Dorfchef gewesen ist. Introvertierte Individuen neigen nicht zu spontanen und ungerechten Aktionen, weder in Form eines Gerichtes noch dazu, „mal eben“ ein anderes Dorf zu überfallen. Möglicherweise stärkte so ein Dorfoberhaupt die Ausbildung eines Rates, der sich mit den Dorfangelegenheiten befasst. Auch so etwas dürfte zur Stabilisierung und damit zum Wohlstand einer Gemeinschaft beigetragen haben.

Wikingerschiffe bei einem Reenactment in Schweden

Ich hatte überlegt, dass er hinter einem weniger introvertierten Bruder zurücktreten musste und als weniger aktives Mitglied der herrschenden Familie ein eher ruhiges Leben führte. Diesen Gedanken verwarf ich aber wieder, denn …

Der Tod des Kriegers

Das Skelett des „Janakkala-Kriegers“ zeigte keinerlei Anzeichen für einen gewaltsamen Tod. Er/sie wurde mit sehr reichhaltigen Grabbeigaben beerdigt. Beides deutet für mich darauf hin, dass dieser Mensch bis zu seinem Tod geachtet war.      
Der Fund des damals bereits historischen Wikinger-Breitschwerts ist für mich hier bedeutsam. War es ein Familien-Erbstück, dann muss man sich die Frage stellen, wieso es nach einigen Generationen „plötzlich“ nicht mehr weitergegeben wurde, sondern im Grab des „Kriegers“ landete. Hierfür habe ich – ich bin kein Archäologe, vielleicht übersehe ich etwas – nur eine Erklärung. Diese Erklärung hängt indirekt auch mit dem Klinefelter-Syndrom zusammen: Der Krieger konnte keine Kinder zeugen. Die Dynastie war mit diesem Menschen beendet, es gab niemanden mehr, an den er das Schwert vererben konnte.

Anmerkungen zur Karyotypforschung

Die Karyotypforschung ist nicht unbedingt ein Ruhmesblatt der Humanbiologie. Patienten mit Trisomien (ein Autosom kommt dreimal vor) leiden an einer Vielzahl von Einschränkungen. Daher begannen frühe Untersuchungen damit, dass Genetiker in Heimen für Menschen mit Behinderungen nach speziellen Symptomgruppen, den Syndromen suchten. So konnten sie die Ursache für das Down-Syndrom (Trisomie 21), das Pätau-Syndrom (Trisomie 13) und das Edwards-Syndrom (Trisomie 18) entdecken.
Nachdem diese Einrichtungen „abgegrast“ waren, begann man im Gefängnis zu suchen. Dabei untersuchte man 1968 auch auf die nahezu symptomlose Trisomie XYY. Da sie in Gefängnissen sehr viel häufiger diagnostiziert wurde als draußen, schloss man auf einen „kriminellen Karyotyp“. Die Annahme, ein überzähliges Y-Chromosom (das Männlichkeit determiniert) würde kriminelles Verhalten auslösen, passte hervorragend in eine Zeit eines aufstrebenden und militanter werdenden Feminismus.  
Doch bald stellten sich methodische Fehler heraus: Bei den Gefängnisinsassen ließ sich nahezu jeder testen, sei es, weil er keine Wahl hatte, oder weil eine solche Untersuchung die Langeweile vertrieb oder Vergünstigungen brachte. „Draußen“ wurden nur Menschen getestet, die unerklärliche gesundheitliche Probleme hatten – und Träger von XYY sind in nahezu allen Fällen gesund. Spätere Untersuchungen zeigten, dass der Anteil an 47,XYY-Männern im Gefängnis nur minimal höher war, als in der Gesamtbevölkerung. Diese Erhöhung ließ sich auch anders erklären. Als sich dann auch noch herausstellte, dass nur wenige der inhaftierten XYY-Träger wegen Gewaltverbrechen saßen, war die Blamage komplett.         
Dieses Vorurteil hat sich gehalten und wurde 24 Jahre nach der Studie noch im Film Alien 3 missbraucht.       
Generell scheint es so zu sein, dass Chromosomenabweichungen mit geringer oder ohne Symptomatik häufig unentdeckt in der Bevölkerung vorkommen. Kein Wunder, wer lässt schon ohne Grund seinen Karyotyp untersuchen?

Möge der Krieger von Janakkala seinen / ihren Frieden finden.

„Kriegergrab“? Anmerkungen zur archäologischen Quellenkritik.

Kommentar von Leif Inselmann

In der medialen Rezeption wird die im Grab von Janakkala mit Waffen bestattete Person durchweg als „Krieger“ bezeichnet, was unweigerlich Assoziationen mit dem populären Bild der Wikinger erweckt. Der Fall erinnert hierbei stark an die Kontroverse um die „Schildmaid von Birka“, als 2017 die neue genetische Geschlechtsbestimmung einer reichen Waffenbestattung als endgültiger Beweis für kämpfende Wikinger-Kriegerinnen präsentiert wurde.[1]     
In beiden Fällen ist eine solche Interpretation jedoch problematisch, was vor allem in Fehlvorstellungen über das Konzept des „Kriegers“ sowie die Aussagekraft von Grabbeigaben begründet ist.

1. Was verstehen wir in der Wikingerzeit unter einem „Krieger“?

Der Begriff impliziert, eine historische Person sei vor allem und dauerhaft als Krieger zu betrachten. Entgegen dem in der Populärkultur geprägten Bild gab es in der skandinavischen Wikingerzeit jedoch kaum Personen, die „hauptberuflich“ dem Kriegshandwerk nachgingen. Waren der wohlhabende Grundbesitzer, der in seiner Jugend einmal auf einen Raubzug mitfuhr, der Händler, der zum Schutz auf Reisen Waffen mit sich trug, oder der einfache Bauer, der ein oder zweimal in seinem Leben zur Verteidigung seines Hofes oder der Teilnahme an einem Aufgebot gezwungen wurde, Krieger? Selbst unter den Personen, die im Laufe ihres Lebens tatsächlich einmal in Kampfhandlungen beteiligt waren (was nicht wenige gewesen sein dürften), gab es doch kaum solche, deren gesellschaftliche Rolle man in erster Linie als „Krieger“ definieren würde. Noch schwieriger wird diese Frage in Hinblick auf die Aussagekraft von Grabbeigaben.

2. Sind Waffenbeigaben in der Bestattung ein Beleg dafür, dass es sich bei der bestatteten Person um eine*n Krieger*in handelte?

Dieser Schluss liegt nahe, entspricht aber nicht der archäologischen Realität. Grabbeigaben spiegeln eben nicht direkt die Tätigkeiten, die eine Person zu Lebzeiten ausübte: Eine Bestattung in einem Boot ist kein Seefahrer, eine mit Rasierbesteck kein Barbier – und eine mit Waffen nicht notwendigerweise ein Kämpfer.         
Vielmehr repräsentiert die Grabausstattung einen Status bzw. eine soziale Identität, die mit den tatsächlichen Leistungen des Individuums wenig zu tun haben muss. So finden sich Waffenbeigaben in der Wikingerzeit nicht nur in Männer- und (seltener) Frauengräbern, sondern auch in Bestattungen kleiner Kinder, für die eine Rolle als aktive Krieger zu Lebzeiten nicht in Frage kommt. Insbesondere die Ausstattung von Kindern gilt hierbei als Beleg für einen Status, der nicht durch Taten erworben, sondern durch Geburt bestimmt war: Waffen waren vielmehr Statussymbole, über die sich bestimmte Gesellschaftsgruppen definierten.        
Die konkrete, religiös-symbolisch-kulturelle Bedeutung von Waffenbeigaben in der Wikingerzeit kennen wir heute nicht mehr – dafür fehlen schlichtweg aussagekräftige (Schrift)Quellen. Dass ein Toter jedoch einfach die Objekte ins Jenseits mitnahm, die er im Diesseits gebrauchte, ist angesichts der Befunde zu kurz gedacht. Es sind zuallererst die Lebenden, die Grabbeigaben zusammenstellen und sie letztlich auch rezipieren: Die Hinterbliebenen statteten den Verstorbenen mit wertvollen Gaben aus, die bei der Bestattungszeremonie sichtbar waren – so bekräftigten sie den Status des Toten gegenüber anderen Menschen und ggf. jenseitigen Mächten, aber ebenso auch ihren eigenen Reichtum sowie ihre Pietät dem Toten gegenüber (und damit auch ihren Anspruch auf das materielle wie symbolische Erbe).[2]
Entsprechend den unterschiedlichen sozialen Rollen gibt es im Grabritus vieler Kulturen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Aus diesem Grund wurde das Geschlecht eines Toten in der früheren Archäologie meist über die Beigaben bestimmt, wobei Waffen somit Männer indizierten. Angesichts anthropologischer und auch genetischer Möglichkeiten der Geschlechtsbestimmung sowie Funden, die danach eben nicht mehr der beliebten Heuristik entsprechen, wird dieses „archäologische Geschlecht“ in der Archäologie jedoch seit längerer Zeit mit Vorsicht betrachtet. Waffenbeigaben repräsentieren nicht unmittelbares Kriegertum, sondern sind Attribute sozialer Rollen – Rollen, die mitunter ebenso von Frauen, nichtbinären Personen und sogar Kindern eingenommen bzw. in der Bestattung repräsentiert werden konnten. Heute spricht man in der Archäologie auch lieber von „Waffengräbern“ bzw. „Gräbern mit Waffenbeigabe“ als von „Kriegergräbern“.

3. Was bedeutet dies für das Grab von Janakkala?

Der Tote von Janakkala ist mit zwei Schwertern, darunter einem modernen und einem altertümlichen, sowie wertvollem Schmuck bestattet worden. Diese reiche Ausstattung repräsentiert ohne Zweifel die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Elite – und einer damit verbundenen Identität, die von den Hinterbliebenen anerkannt wurde.       
In diesem Kontext könnten die Waffen für die theoretische Befähigung zum Kriegshandwerk, aber auch abstrakter für Herrschaft, Rechtsprechung, Unabhängigkeit oder eine Rolle als Anführer gestanden haben – und sei es im Rahmen einer Kultur bzw. sozialen Gruppe, die dieses Ideal schlichtweg voraussetzte. Insbesondere das bereits damals antike Schwert ist schwerlich als Gebrauchsgegenstand zu deuten. Vielmehr verweist es auf eine weit zurückreichende Tradition, womöglich verbunden mit einem Aspekt der Legitimation. All dies ist zumindest der Anspruch, den die Hinterbliebenen dem Verstorbenen zuschrieben, indem sie es in der Grabausstattung verwirklichten – ganz unabhängig von der tatsächlichen Biografie des Toten.
Dass der „Krieger von Janakkala“ also jemals selbst gekämpft hat, ist nicht auszuschließen, aber durch die Grabbeigaben ebenso wenig zu belegen. Auf jeden Fall war er ein sozial hochstehendes Mitglied einer Gesellschaft, die sich symbolisch über Waffen definierte. Wie die damalige Gesellschaft die möglicherweise abweichende Geschlechtsidentität der Person betrachtete, ist eine spannende Fragestellung, jedoch ohne einschlägige Schriftquellen kaum zu beantworten.

Quellen

Edberg, R. 2020: Some comments on the interpretation of Birka grave Bj 581 (Üs. von ders. 2019: Död amazon på Birka? En debatt. Marinarkeologisk tidskrift nr. 3, 2019, 20–22).

Hedenstierna-Jonson, C. 2017: A female Viking warrior confirmed by genomics. Physical Anthropology 2017, 1-8.

Kaptorga 2018: Die Schildmaid aus Birka – Bedeutung von Waffenbestattungen  + Kommentar 2019.

Finnish Heritage Agency 1968: Kertomus myöhäisrautakautisen ruumishaudan tutkimisesta Suontaan kartanon Vesitorninmäessä Tyrvännön pitäjässä 25.10.1968. Unpublished excavation report, Helsinki.

Moilanen, U. u.a. 2021: A Woman with a Sword? – Weapon Grave at Suontaka Vesitorninmäki, Finland. European Journal of Archaeology 2021, 1–19.

Renfrew, C. 20003: Archaeology: Theories Methods and Practice, London.

ZDFinfo 2015: Mysterien des Mittelalters: Der Krieger von Janakkala

Wikipedia zum Karyotyp, Turner-Syndrom, Klinefelter-Syndrom und XYY-Syndrom.


[1] These bei Hedenstierna-Jonson 2017; Kritik u.a. bei Edberg 2020 und Kaptorga 2018.

[2] Vgl. Renfrew 2000, 195:
„One must take into account that what is buried with the deceased person is not simply the exact equivalent either of status or of material goods owned or used during life. Burials are made by living individuals, and are used by them to express and influence their relationships with others still alive as much as to symbolize or serve the dead. But there is nevertheless often a relationship between the role and rank of the deceased during life and the manner in which the remains are disposed of and accompanied by artifacts.“
Ebd., 405: „405: „Archaeologists today recognize that the grave-goods in a burial are chosen to give a representation or “construction” of the identity of the deceased individual.“