Cargo-Kulte

Christoph Columbus landet in Amerika und präsentiert den Einheimischen unverständliche Gegenstände (in der Vorstellung des 19. Jahrhunderts)

In der Prä-Astronautik gelten die Cargo-Kulte als Beweis dafür, dass Menschen auf Astronautenbesuche so reagieren würden, wie es sich Däniken vorstellt: „(Als Cargo-Kulte) beschreibt (man) religiöse Verhaltensformen primitiver Menschen, die Gegenstände der technischen Zivilisation erhalten und diese als göttlich und himmlisch verehren“[1], schreibt Fiebag und meint, als erstes habe dieses Phänomen Christoph Columbus bemerkt, der von den Indios als Gott verehrt worden sei.[2]

All das ist falsch. Erstens gibt es natürlich keine „primitive Menschen“ – das ist ein rassistischer Begriff, den man nicht verwenden sollte. Zweitens verstehen Volkskundler, von denen Fiebag den Begriff Cargo-Kulte übernommen hat, darunter etwas vollkommen anderes. Drittens wird kein Ethnologe die Darstellung Columbus‘ ernsthaft glauben: Wie soll ein Europäer, der die Sprache der Indios nicht kennt, wissen, was gerade gesagt wird? Columbus deutete Gesten und Worte, die er nicht verstand. Was die Indios zu diesem ersten Kontakt zwischen Amerika und Europa dachten, wissen wir nicht! Columbus hielt sich für von Gott auserwählt und übertrug diese Fantasien auf das Verhalten der Indianer.[3]  
Was aber sind Cargo-Kulte wirklich? Es sind (für die Ethnologen) eine Gruppe von religiösen Bewegungen mit eschatologischen und deutlich antikolonialistischen Inhalten, die ab 1875 als „Reaktion der Eingeborenenkulturen auf die Konfrontierung mit dem Christentum und der europäischen Zivilisation“ in Neuguinea und Melanesien entstanden sind.[4]         
Cargo-Kult ist also ein zeitlich und geographisch exakt definierter Begriff. Er hat nichts mit Columbus, Drake oder anderen Entdeckern zu tun. Als die Europäer und Amerikaner in Neuguinea und Melanesien Stützpunkte gründeten, brachten sie viele nützliche Güter, darunter neue Früchte und Tiere, Materialien wie Eisen und später Kunststoffe mit. Als die Weißen – weil sie ihre Kolonien oder Militärstützpunkte aufgaben – wieder gingen, fehlten den Einheimischen diese Luxusgüter, dieses „cargo“ (Cargo ist das englische Wort für „Ladung/Fracht“).     
Die Einheimischen, die natürlich keine „primitiven Menschen“ sind, sondern Homo sapiens sapiens wie wir, dachten, dass bei ihren Ahnen, wo an nichts Mangel herrschte, diese Güter ebenfalls im Überfluss vorhanden sein müssten. Da aber die Weißen, und nicht sie, das cargo erhalten hatten, nahmen sie – innerhalb ihres traditionellen Ahnenkults, bei dem die Verstorbenen für die Lebenden sorgen – an, dass weiße Zauberer den Ahnen diese für die Insulaner bestimmten Güter unter einem Vorwand abgeluchst hätten. Die Weißen waren also Betrüger, die den Einheimischen und ihren Ahnen Nahrung und Kleidung gestohlen hatten.          
Kaum war diese Vorstellung verbreitet, verkündeten einheimische Propheten die Ankunft von Schiffen mit „cargo“, den europäischen Kulturgütern, die die Ahnen der Bevölkerung bringen wollten. Diese Propheten, die auch verbreiteten, die Ahnen wünschten, dass die weißen Zauberer vertrieben würden, erfreuten sich – aufgrund der traurigen ökonomischen Lage der Insulaner – raschen Zulaufs. Die Cargo-Kulte sind eine Reaktion auf den Kontakt der einheimischen Kultur mit der europäischen, doch sie verehren nicht europäische Güter, sondern ihre Ahnen. Auch ist das cargo nicht „technisch“, sondern alltäglich. Cargo-Kulte sind eine Mischung aus eigenen Traditionen und Christentum, oder, in den Worten der Volkskundler und Cargo-Kult-Experten Uplegger und Muehlmann eine „produktive psychologische Antwort der Eingeborenen auf die Konfrontation mit dem Christentum und der europäischen Zivilisation.“[5] 
Cargo-Kulte, zumindest so, wie der Begriff wissenschaftlich definiert ist, haben nichts mit als Gott verehrten Weißen und nichts mit als himmlisch verehrten technischen Geräten zu tun. Im Gegensatz, die Weißen sind gerade nicht Götter, sondern böse Zauberer. Auch sind Cargo-Kulte kein Beleg dafür, wie neue Religionen entstehen: Cargo-Kulte sind die traditionelle, nun aber modifizierte Religion der Einheimischen. Sie haben zudem nichts mit Technologie zu tun, und sie entstanden als Reaktion auf eine bestimmte Ideologie der Weißen, nämlich den christlich legitimierten Kolonialismus des letzten Jahrhunderts. Dass hin und wieder auch technische Produkte, etwa Flugzeuge oder Radios, als Elemente in die Cargo-Kulte aufgenommen und in Holz imitiert wurden, ist nicht zu bestreiten. Aber sie machen deren Charakter nicht aus.        
Letztlich ist festzustellen, daß die Paläo-SETI erneut – in ihrem Versuch, wissenschaftlichen Sprachduktus zu imitieren – einen Fachbegriff vollkommen falsch benutzt hat.

Literatur

Fiebag, J. 1986: Die geheime Botschaft von Fatima, Tübingen.

Mühlmann, W. E. (Hg.) 1961:. (Das definitive Werk zu Cargo-Kulten)

Sale, K. 1990: Das verlorene Paradies – Christoph Kolumbus und die Folgen, München.

Uplegger, H. / Mühlmann, W. E. 1961: Die Cargo-Kulte in Neuguinea und Insel-Melanesien, in: W. E. Mühlmann (Hg.), Chiliasmus und Nativismus, Berlin, 165–189.


[1] Fiebag 1986, 95 f.

[2] ebd., 93.

[3] vgl. dazu Sale 1990, 228 ff.

[4] Uplegger/Mühlmann 1961, 165.

[5] Uplegger/Mühlmann 1961, 185.