Stonehenge – Ein prähistorisches Observatorium?
Stonehenge zur Sommersonnenwende (Bild: Simon Wakefield, Wikimedia Commons CC BY 2.0)
Es ist eine Theorie, die jedes Jahr erneut als aufsehenerregende Entdeckung in den Tageszeitungen und populären Magazinen gefeiert wird: dass megalithische Steinkreise, allen voran die Kreisgrabenanlagen von Stonehenge in Südengland, komplizierte jungsteinzeitliche Observatorien zur Berechnung von Mond- und Sonnenfinsternissen sind. Was ist dran an dieser Behauptung? Sind die Steinkreise der Jungsteinzeit und Bronzezeit tatsächlich astronomisch ausgerichtet? Sind es, wie die Zeitungen und einige Forscher schreiben, tatsächlich „Computer“?
Um diese Frage zu beantworten, ist ein Exkurs in die verschiedenen Entdeckungen nötig, die schließlich zu der Computertheorie führten.
Im Mittelalter glaubte man, dass Kobolde oder Riesen die Großsteinbauten mit Zauberkräften errichtet hätten. Mit der Renaissance und der Wiederentdeckung der klassischen römischen und griechischen Baukunst galten die großen Steinmonumente nur noch als krude, barbarische Imitation der architektonischen Wunder der Antike.
Das führte dazu, dass die Monumente nicht mehr wie zuvor mit abergläubiger Scheu betrachtet wurden. Sie wurden zerstört, missachtet, vergessen.
Im 18. Jahrhundert revolutionierte dann der englische Gelehrte William Stukeley das Bild der Megalithen. Seiner Ansicht nach waren sie die Tempel und Opferstätten eines keltischen Stammes. Druiden, die er als in Ägypten und Asien ausgebildete Priester sah, hatten die Megalithen als große Erdschlangen errichtet. Megalithen galten nun wieder als Zeugen einer zwar barbarischen, doch eigenen britischen Vergangenheit. Obwohl immer noch der Irrglaube herrschte, alle Kultur sei aus dem Orient gekommen, sah Stukeley die Monumente nicht mehr länger als unbeholfene Imitationen ägyptischer Vorbilder an (tatsächlich wurden die ersten Dolmen in Irland und Westfrankreich um 4700 v. Chr. erbaut, ca. 2.000 Jahre vor der ersten Pyramide).
Der nächste Megalithentheoretiker von Bedeutung war Professor Norman J. Lockyer, der Begründer der modernen Megalithinterpretation. Lockyer hatte 1894 das Buch The Dawn of Astronomy veröffentlicht, eine Untersuchung der astronomischen Orientierungen altägyptischer Tempel. Er beschäftigte sich dann mit der Ausrichtung der heimischen britischen Steinkreise. Er entdeckte, dass zahlreiche Monumente in der Umgebung von Stonehenge auf geraden Linien lagen: So stand etwa die Kathedrale von Salisbury auf einer Geraden, die Stonehenge über die Kathedrale von Old Sarum mit dem Ringwall Clearbury Camp verband. Die Hauptachse des Heiligtums, fand Lockyer heraus, war auf die Sommersonnenwende hin ausgerichtet.
Er veröffentlichte seine Ergebnisse in einem Buch, das 1909 in London erschien (Stonehenge and Other British Stone Monuments Astronomically Considered, „Stonehenge und weitere britische Steindenkmäler unter astronomischen Gesichtspunkten“), sowie in mehreren Artikeln in populärwissenschaftlichen Zeitschriften und der Illustrated London News.
In diesen Werken finden sich zahlreiche Karten, die Steinkreise und ihre astronomischen Ortungslinien zeigen. Nach Lockyers Ansicht waren die Kreistempel hauptsächlich auf die Auf- und Untergangspunkte von Sonne und Mond ausgerichtet, aber auch auf besonders helle oder bedeutende Fixsterne.
Lockyer vermutete, dass die Druiden, die die Kreise errichtet hatten, eine Art „Priester-Astronomen“ gewesen seien. Sie stammten (wieder einmal) aus Ägypten, wo sie in Astronomie und Astrologie unterrichtet worden waren und gelangten per Schiff auf die britischen Inseln. Sie übten ihre Kunst in Steinkreisen und Dolmen aus.
Eine astronomische Ausrichtung fand Lockyer nicht nur bei Stonehenge. Er untersuchte weitere im 2. und 3. vorchristlichen Jahrtausend errichtete Steinkreise im Distrikt von Lands End in Cornwall. Im Steinkreis von Tregeseal, bei St. Just, errichteten Lockyer und gleichgesinnte Forscherfreunde im Jahre 1907 eine Holzhütte, um auch bei widriger Witterung die Sonnen- und Mondpositionen vom Steinkreis aus beobachten zu können.
Lockyer stellte fest, dass bestimmte Sterne, etwa Arktur und die Plejaden, hinter bestimmten Markierungen am Horizont aufgingen. Andere Ortungsmarken wiesen auf die Sommersonnenwende und den Sonnenaufgang am 01. Mai hin – etwa zu der Zeit von 2330 bis 1270 v. Chr..
Lockyer zog eine Lehre aus seinen Erkenntnissen: Die alten Druiden waren nicht, wie noch Stukeley geglaubt hatte, blutrünstige und machtgierige Priester, sondern Wissenschaftler mit erstaunlichen mathematischen Kenntnissen.
Alfred Watkins, ein Geschäftsmann aus Herefordshire, schuf eine Art Synthese aus den bisher geäußerten Theorien, als er 1922 in seinem Buch Early British Trackways („Frühe britische Straßen“) behauptete, alle megalithischen Bauten seien miteinander durch kerzengerade Wege und heilige Linien, die er „ley“ nannte, verbunden. Diese Linien, so Watkins in seinen weiteren Büchern The Old Strait Track und The Ley Hunter‘s Manual, wiesen häufig auf wichtige astronomische Daten hin, besonders die Sommersonnenwende.
Watldns besuchte im Sommer 1921 das Dorf Blackwardine. Als er seine Route auf einer Landkarte betrachtete, bemerkte er, dass mehrere Ringwälle und römische Lager der Gegend auf einer geraden Linie lagen. Durch weiteres Studium der englischen topographischen Karten fand er heraus, dass das die Regel, nicht die Ausnahme war: Menhire (Steinsäulen), Steinkreise, Dolmen, Ringwälle und vor der Reformation erbaute Kirchen fielen häufig auf gerade Linien.
Watkins selbst dachte, diese Linien seien ein altes Wegesystem im vorrömischen Britannien gewesen – eine Annahme, die heutige Verfechter der Ley-Theorie (Devereux und Michell) nicht mehr unterstützen. Man vermutet jetzt, dass diese Linien eher einen symbolischen Charakter hatten und die Fruchtbarkeit des von ihnen überspannten Landes sichern sollten. Obwohl Archäologen die Existenz von Leys nicht akzeptieren, fallen doch viele der von Watkins entdeckten Linien mit Ortungslinien der Steinkreise zusammen, die von der Wissenschaft anerkannt sind. Da sich hauptsächlich Okkultisten der Leys angenommen haben, steht eine objektive Bewertung von Watkins Ideen noch aus. Anerkannt ist allerdings, dass megalithische Monumente nicht isoliert in der Landschaft stehen, sondern miteinander verbunden und astronomisch ausgerichtet sind.
Die Idee, dass Stonehenge und andere megalithische Monumente etwas mit astronomischen Ereignissen zu tun haben könnten, lag also in der Luft, als Mitte der sechziger Jahre der amerikanische Astronom Gerald Hawkins beschloss, die These, Stonehenge sei ein Observatorium gewesen, per Computer zu belegen.
Wie der Grundriss der Anlage zeigt, besteht Stonehenge aus mehreren konzentrischen Kreisen, die teils durch Menhire, teils durch die sogenannten Trilithen (Steintore) und teils durch Gräben und Erdwälle gebildet werden. Diese insgesamt sechs konzentrischen Kreise sind in fünf Bauphasen (I, II, a, b, c) ab etwa 3100 v. Chr. über 2000 Jahre hinweg angelegt, abgerissen und umgebaut worden.
Im Inneren des Erdwalles befinden sich 56 Erdlöcher, die aus der ersten Bauphase stammen. Sie enthielten Erde und Reste von Leichenverbrennungen. Möglicherweise befand sich in dieser Bauphase bereits eine Holzkonstruktion im Innern der Anlage.
In der zweiten Phase wurde zu dieser Anlage eine Art Kimme und Korn aus Menhiren hinzugefügt, von denen jetzt noch der Heel-Stone außerhalb des Erdwalles erhalten ist. Die mächtige Avenue, eine Prachtstraße, die von Erdwällen begrenzt wird, wurde angelegt. Die durch die Steine und die Avenue gebildete Hauptachse ist gegen den Sonnenaufgang zur Sommersonnenwende hin orientiert. Erst in der dritten Bauphase wurden die berühmten Trilithen errichtet, die hufeisenförmige Konstruktion aus gewaltigen Monolithen im Zentrum des Baus. Zusammen mit einem Kreis aus sogenannten Blausteinen (die extra aus Wales herbeigeschafft wurden) bilden sie die Hauptmarkierungspunkte der von Hawkins postulierten Observationslinien. Der Sarsenkreis stammt allerdings schon aus der zweiten Bauphase. Er basiert auf der Zahl 30. Wenn man auf einem Plan alle Gräben, Menhire, Stein- und Holzkonstruktionen einträgt, erhält man ein scheinbar unentwirrbares Bild – eben den Grundriss, den Hawkins als Ausgangspunkt seiner Berechnungen nahm.
Der französische Archäologe und Megalithexperte Jean-Pierre Mohen erläutert in seinem Buch Megalithkultur in Europa, wie Hawkins sich die Funktionsweise von Stonehenge vorstellt (S. 36 f):
„Im Zentrum der Anlage werden die Trilithen, die in der Form eines nach dem Sonnenaufgang der Sommersonnenwende ausgerichteten Hufeisens aufgestellt sind, von 30 Steinpfeilern umgeben, die horizontale Verbindungsblöcke tragen, die sogenannten „Sarsen Stones“. Zwei Reihen von 30 Gruben sind in zwei konzentrischen Kreisen parallel zu den Pfeilern abgeordnet. Für Hawkins entspricht das auf der Zahl 30 basierende System dem Mondmonat oder der Mondumlaufzeit, in der er alle seine Phasen durchläuft. Ein als Zeiger benutzter Pfosten oder Stein erlaubt, sich in diesem Zyklus zurechtzufinden. Die Zahl 56 entspricht der Anzahl der Pfostenlöcher, den sogenannten „Löchern von Aubrey“, die die gesamte Anlage umgeben. Sie entspricht 56 Jahren, dem dreifachen Mondzyklus von 18,6 Jahren, das heißt 223 Umlaufzeiten, nach denen der Mond wieder die gleiche Position am Himmel einnimmt. Man hatte 18,6 mit 3 multiplizieren müssen, um eine praktisch ganze Zahl zu erreichen. Indem er jeden Tag den „Zeiger“ um ein Loch auf dem System von 56 Jahren weiterrückte, erhielt der prähistorische Beobachter die Position des Tages im Mondmonat. Da die Mond- und Sonnenfinsternisse (4 oder 5 mehr oder weniger totale im Jahr) ungefähr am gleichen Datum alle 9 Jahre mit verschiedenen und alle 18 Jahre mit ähnlichen Phasen stattfinden, war es möglich, die Finsternisse selbst nach der Beobachtung eines ersten kompletten Zyklus vorauszusehen. Diese Voraussagen konnten nur annähernd sein, sie wurden nach und nach durch die Untersuchung der Extrempositionen bestimmter Gestirne überprüft. Man konnte dadurch leicht den Jahreszyklus am Tag der Sonnenwende überprüfen. In dem komplexen Kreis von Stonehenge hat Hawkins besonders hervorgehobene Beobachtungslinien erkannt, und die gesamte Anlage wird schließlich als ein riesiges prähistorisches Observatorium dargestellt.“
Heute sind die Archäologen weitaus zurückhaltender als 1966, wenn es darum geht, die astronomischen Bezüge der Steinkreise zu enträtseln. Sorgfältiges Studium hat den Entdeckerenthusiasmus der ersten Stunde ersetzt.
Aus einem Abstand von fast 25 Jahren urteilt Mohen:
„Ohne die Bedeutung der Ausrichtung nach bestimmten Himmelsgestirnen bei den Megalithenbauten zu leugnen, ist aber aufgrund der Grenzen unserer heutigen Kenntnisse auf diesem Gebiet kritische Zurückhaltung geboten.“ (S. 39)
Sicher brauchten die Megalithiker als sesshafte Bauernkultur einen Kalender, und daher ist nicht zu bestreiten, dass ihre Monumente diese Funktion eingenommen haben könnten. Doch ein Landwirt braucht keinen rigiden, auf reinen astronomischen Daten bestehenden Kalender, er muss nichts wissen vom Auf- und Untergang bestimmter Sterne am Horizont – er braucht konkrete Angaben, wann er säen und ernten soll. Und das ist nicht von den astronomischen Daten, sondern den jeweiligen klimatischen Bedingungen im Jahr abhängig. Falls der Kalender das religiöse Leben bestimmte, dürften markante Daten am wichtigsten gewesen sein – etwa die Winter- und Sommersonnenwenden.
Mohen weist darauf hin, dass die verschiedenen Markierungen, die übereinander gepeilt auf astronomische Ereignisse hinweisen, aus allen fünf Bauperioden stammen – also nicht unbedingt gleichzeitig miteinander existiert haben.
Mohen (S. 37) schreibt:
„Die verschiedenen Konstruktionsphasen des Monuments trennen um mehrere Jahrhunderte das innere System (auf der Grundlage der 30 basierend) vom äußeren System (auf der Zahl 56 basierend), die in Hawkins Hypothese über die Voraussage von Mond- und Sonnenfinsternissen als komplementär gegeben sind.“
Unbestreitbar ist jedoch, auch wenn dann von Hawkins jungsteinzeitlichem Computer nicht mehr viel übrig bleibt, dass alle fünf Bauphasen von Stonehenge (die sich immerhin von 3100 bis 1100 v. Chr. über 2000 Jahre hinzogen) nach dem Aufgang der Sonne am Tag der Sommersonnenwende orientiert sind. Diese Hauptachse des Bauwerks wurde stets beibehalten und durch Peillinien über Steintore und den etwas außen stehenden „Heel Stone“ markiert. Spätestens ab Bauphase II, etwa 2300 bis 2100 v. Chr., wurde diese Hauptachse zusätzlich durch die Avenue, eine breite, von Erddämmen gesäumte Prozessionsstraße, in der Landschaft sichtbar gemacht.
Was also bleibt, wenn man die allzu weit gehenden Spekulationen Hawkins‘ beiseitelässt, ist eine astronomische Ausrichtung des Monuments nach der Sonne. Diese Orientierung wird durch kerzengerade Linien in der Landschaft, die verschiedene Steindenkmäler miteinander verbinden, dargestellt.
Eine komplexere astronomische Ausrichtung als Stonehenge weist der gewaltige irische Grabhügel von Newgrange im Boyne-Tal nördlich von Dublin auf. Er ist eines der frühesten Megalithdenkmäler, etwa 4000 v. Chr. erbaut. In seiner jetzigen Form nach der Restauration Ende der siebziger Jahre erscheint Newgrange mächtig und von atemberaubender Schönheit: über einen Kreis aus wuchtigen Steinen erhebt sich eine Trockensteinmauer aus hellem, weißem Quarzgestein, darüber wölbt sich sanft der mit Gras bepflanzte Erdhügel. Mehrere einzelne Menhire stehen neben dem Hauptgebäude, ein gewaltiger, mit kosmischen Spiralen verzierter Monolith liegt vor der Pforte zu einem Korridor, der 20 Meter tief um das Grabmal führt. Dort liegt eine kreuzförmige Kammer mit drei Zellen, in denen zahlreiche Halbreliefs von Bögen und Spiralen gefunden wurden – offenbar Symbole der in Newgrange praktizierten Religion.
Über der Eingangspforte zum Korridor wurde während der Restaurierungsarbeiten ein Schlitz entdeckt, eine Art Oberlicht, das vorher nie bemerkt worden war.
Nach der Herrichtung dieses Spaltes über der Pforte erlebten die Archäologen zum ersten Mal seit Jahrtausenden wieder ein Lichtspiel, das ein wesentlicher Bestandteil sämtlicher in Newgrange praktizierter Riten gewesen sein muss: Beim Sonnenaufgang zur Sommersonnenwende dringt ein Lichtstrahl durch die Luke in der Tür, wird gebündelt und erhellt für einen kurzen Augenblick die Reliefs in den düsteren Kammern am Ende des Ganges – der Lichtstrahl streicht über die magischen Spiralen an der Wand der hintersten Kammer.
Moher folgert (S. 269):
„Einige bedeutende Monumente wie Gavrinis (in der Bretagne), Newgrange und Stonehenge scheinen eine präzise Ausrichtung nach dem Erscheinen der Sonne am Tag der Sommersonnenwende zu besitzen.“
Doch diese Präzision, die, wie bereits gesagt, nicht die eines Computers ist, tritt nur bei den großen Monumentalbauten auf. Vermutlich sind nur bei den größten Sakralbauten, die jeweils der Mittelpunkt einer lokalen Kultur waren (in Großbritannien Stonehenge, Avebury und der Ring of Brogar auf den Orkney-Inseln), mehr als die wichtigsten astronomischen Orientierungen integriert worden. Bei den mehreren tausend weiteren Steinkreisen, den Dolmen und Steinreihen, Henge-Monumenten und weiteren megalithischen Ensembles aus Dolmen und Menhiren, sind die astronomischen Bezüge weitaus weniger offensichtlich.
Aubrey Burl, ein britischer Archäologe, der sich auf die Entwicklung der Megalithkultur in Großbritannien spezialisiert hat, hat die Ausrichtung zahlreicher Steinkreise auf den Orkney-Inseln, in Schottland, Irland, England, Wales, Cornwall, der Bretagne und in West- und Südfrankreich gemessen und statistisch ausgewertet.
Moher (S. 269) schreibt dazu:
„Statistisch gesehen wird klar, dass die Megalithmonumente in bestimmter Weise ausgerichtet sind. Die Südost- und Südwestorientierung tritt je nach Region immer wieder auf: Dies ist die Richtung der auf- und untergehenden Sonne.“
Aubrey Burl erklärt, wie es zu dieser Ausrichtung gekommen sein mag:
„Die Navajo-Indianer glaubten, dass der Tod ein Kamerad von Sonne und Mond sei, und die Karolineninsulaner im Pazifik dachten, ihre Ahnen stürben erneut bei jedem abnehmenden Mond und würden bei zunehmendem Mond wiedergeboren.“
Glaubensvorstellungen wie diese könnten wohl zur Errichtung der frühesten bekannten astronomischen Sichtlinien in Großbritannien geführt haben – grobe Ortungen, deren Genauigkeit noch von zahlreichen weiteren Faktoren abhing. In manchen Regionen genügte es, die Grabkammer nach dem Sonnenaufgang an einem beliebigen Tag des Jahres auszurichten, anderswo dachte man, dass nur die Winter- oder Sommersonnenwendlinien heilig waren. Es ist zumindest sicher, dass viele dieser Orientierungen nicht sehr präzise waren. Die Beschaffenheit der Umgebung, das verwendete Material und die unterschiedliche Begabung der Erbauer, der Wunsch, das Grabmal auffällig zu gestalten – all das hat Einfluss auf die Präzision der Ausrichtung gehabt. Zudem musste der Korridor der Gräber weit genug sein, damit man ein Skelett durchziehen konnte. Der daraus resultierende Winkel, der von der Kammer des Grabes aus sichtbar war, war relativ weit.
Die Astro-Archäologen, die komplizierte Observatorien in den Steinkreisen und Großsteingräbern vermuten, werden also von den Archäologen nicht bestätigt.
Obwohl auch Burl zugibt, dass bestimmte Steinkreise – etwa die Kreise mit liegenden Kimmensteinen im schottischen Aberdeenshire – als Observatorien errichtet wurden.
Diese spezielle Variante der Kreistempel, die nur in der Gegend von Aberdeen in Schottland zu finden ist, ist auf den 18,61-jährigen Mondzyklus ausgelegt. Zu bestimmten Tagen, die im Mondkalender von Bedeutung sind, scheint der Mond über den liegenden Schwellenstein der Anlagen zu rollen. Es gibt Hinweise darauf, dass der Boden der Steinkreise dann mit heißen Kohlen bedeckt wurde, um zusätzliche Lichteffekte hervorzurufen. Doch auch diese Anlagen, die mit wirklicher Präzision errichtet werden mussten, damit die gewünschten optischen Täuschungen beobachtet werden konnten, sind nicht dazu geeignet, Mond- oder Sonnenfinsternisse vorherzusagen (Burl, S. 16–20).
Die astronomische Ausrichtung der Steinkreise und Megalithmonumente wird also von der Archäologie nicht mehr länger bestritten.
Es geht allerdings zu weit, Stonehenge und andere jungsteinzeitliche Tempelanlagen als eine Art Computer oder wissenschaftliches Observatorium zu betrachten.
Die Grabmonumente und Steintempel der Megalithkultur waren nach bedeutenden Tagen im Mond- und Sonnenkalender ausgerichtet – vermutlich in der gleichen Weise, in der unsere christlichen Kirchen in West-Ost-Richtung mit der Apsis im Osten ausgerichtet sind, oder die moslemischen Moscheen gegen Mekka orientiert werden. Diese Ausrichtungen und Orientierungen sind also, entgegen der populären Auffassung, die in Sachbüchern und Magazinartikeln auftauchen, nicht astronomisch, sondern geomantisch. Unter Geomantie versteht man die von besonderen Priestern oder Fachleuten, Geomanten genannt, festgelegte Ausrichtung von Bauwerken auf der Erde im Einklang mit bestimmten kosmologischen und astrologischen Gesichtspunkten. Die Geomantie soll dafür sorgen, dass sakrale Bauwerke auf dem Erdboden im Schnittpunkt von Erd- und Sonnenenergien stehen.
Das wird bei den Steinkreisen besonders deutlich: Sie sind an besonders auffälligen Sternen, Mond- und Sonnenaufgängen am Himmel und am Horizont orientiert, aber zugleich auch auf weitere megalithische Bauwerke im Umkreis, auf Bergkuppen und heilige Brunnen in der Umgebung.
Diese Ausrichtung auf markante Punkte am Boden, am Horizont und am Himmel, sollte wohl die „alchimistische Hochzeit“, die Verschmelzung von Himmel und Erde herbeiführen.
Die Priester, die die Steinkreise errichteten, waren keine Mathematiker und Astronomen, wie wir sie heute kennen, sie waren in erster Linie Schamanen eines Totenkultes. Nur so lassen sich die vielfältigen Bezüge ihrer Tempel zu geographischen Punkten am Boden und astronomischen Ereignissen am Himmel deuten.
Dass die Kreise zu einer Zeit errichtet wurden, in der die Astronomie und andere Wissenschaften noch der Religion untergeordnet waren, ändert nichts an der Tatsache, dass diese Megalithmonumente mit ihren gigantischen Dimensionen und raffinierten Lichtspielereien, die einen Sonnenaufgang zum mystischen Erlebnis machen konnten, zu den bewundernswertesten menschlichen Bauwerken gehören, auch wenn sie keine Computer oder Observatorien oder sonstige funktionale Gebäude waren.
Artikel zuerst erschienen in Blickpunkt Weltraum 6 (1990), 28–31.
Ulrich Magin lebt nahe Bonn und ist Autor des Buchs „Megalithen in Deutschland: Rätselhafte Großsteingräber, Hinkelsteine und Steinkreise“ (Nikol).