Babylonische Verwirrung – König Hammurapi im Kapitol

Das Kapitol der Vereinigten Staaten in Washington, D. C. beherbergt die beiden Kammern des US-amerikanischen Parlaments. In seiner ursprünglichen Form um 1800 errichtet, verliehen zahlreiche Ausbauten im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts dem Gebäude seine heute weltweit bekannte Gestalt.      
„Das Kapitol hat eine wechselhafte und anfangs von Fehlkonstruktionen geprägte Baugeschichte, die bis heute andauert“ – so leitet der deutsche Wikipedia-Artikel den Abschnitt über die Geschichte des Hauses ein. Dieser Historie ist aus der Perspektive der Altorientalistik noch ein weiteres kurioses Missgeschick hinzuzufügen.           
Schon der Name von Gebäude und Senat leiten sich aus dem alten Rom her, auch in Architektur und Gestaltung ist das Kapitol ganz dem Klassizismus verpflichtet: Der Fries in der großen Rotunde präsentiert Eckpunkte der amerikanischen Geschichte im griechisch-römischen Stil, das Deckengemälde zeigt George Washingtons Aufnahme unter die antiken Götter. Was läge also näher, als auch das Repräsentantenhaus als oberste Instanz der Gesetzgebung neben dem Senat mittels Kunstwerken in eine lange historische Tradition zu stellen?          
So entschied man sich bei der Neugestaltung des Saales des Repräsentantenhauses 1949/50, die Wände über den Galerietüren mit den Porträts von 23 historischen Personen zu versehen, die sich über die Jahrtausende um die Gesetzgebung verdient gemacht hatten. „Die Themen der Reliefs wurden von Wissenschaftlern der University of Pennsylvania und der Columbia Historical Society of Washington, D.C., in Absprache mit maßgeblichen Mitarbeitern der Library of Congress ausgewählt. Die Auswahl wurde von einem Sonderausschuss aus fünf Mitgliedern des Repräsentantenhauses und dem Architekten des Kapitols genehmigt.“[1] Rund um den Saal finden sich nun im Uhrzeigersinn die Reliefporträts von George Mason, Robert Joseph Pothier, Jean-Baptiste Colbert, Edward I., Alfons X., Papst Gregor IX., Ludwig IX., Justinian I., Tribonian, Lykurg, Hammurapi, Mose, Solon, Papinian, Gaius, Maimonides, Süleyman dem Prächtigen, Papst Innozenz III., Simon de Montfort, Hugo Grotius, William Blackstone, Napoleon Bonaparte und Thomas Jefferson. Der Blick aller Gesichter ist auf das Gesicht des Mose ausgerichtet, der in der Mitte der Nordwand und als einziger in Frontalansicht dargestellt ist.

Rede von US-Präsident Barack Obama vor dem Kongress – an den oberen Wänden zu sehen die Reliefs der historischen Gesetzgeber (Wikimedia Commons)

Die älteste historische Figur der Gruppe bildet hierbei König Hammurapi (konv. auch Hammurabi) von Babylon, der 1792–1750 v. Chr. das Altbabylonische Reich regierte. Bekannt ist dieser vor allem für den sogenannten Codex Hammurapi: Eine 2,25 m hohe Dioritstele, die in einer 8000 Wörter langen Inschrift in akkadischer Keilschrift nicht weniger als 282 Rechtssätze aufzählt. Die berühmte Formel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, die auch im Alten Testament auftaucht, hat hier ihren Ursprung. Ob es sich bei dem Codex tatsächlich um ein verbindliches Gesetzbuch handelte oder nicht vielmehr um eine Sammlung von exemplarischen Beispielen, die als Orientierungshilfe oder Verhandlungsgrundlage bei Rechtsfällen dienten, wird in der Forschung bis heute diskutiert. Zwar ist der Codex Hammurapi nicht die älteste aus dem antiken Mesopotamien überlieferte Gesetzessammlung (der Codex Ur-Namma, Codex Lipit-Eštar und Codex Ešnuna gehen diesem voraus), doch aufgrund seines Umfangs, der repräsentativen Stele und seiner Rezeption in der Forschungsgeschichte die mit Abstand bekannteste. So ist es nur folgerichtig, auch König Hammurapi in die Reihe der historischen Gesetzgeber aufzunehmen. Doch offenbar ist dem Künstler Thomas Hudson Jones, der die Reliefplatte mit dem Bild Hammurapis 1950 anfertigte, dabei ein peinlicher Fehler unterlaufen.

Relief von „Hammurabi“ im Sitzungssaal des Repräsentantenhauses (Wikimedia Commons)
Vgl. Architect of the Capitol: Hammurabi, Relief Portrait

Das Gesicht des Hammurapi ist offensichtlich inspiriert von dem Relief, das die Oberseite der Codex-Stele schmückt. Dieses zeigt im Original zwei Figuren: Auf einem Thron, der die stilisierte Außenfassade eines Tempels imitiert, sitzt der Sonnengott Šamaš, der im alten Babylonien auch als Gott des Rechts und der Gerechtigkeit galt. Erkennbar ist er an den Sonnenstrahlen, die seinen Schultern entspringen; eine vierfach gehörnte Krone zeichnet ihn als Gott aus. Mit der rechten Hand überreicht er Ring und Stab – wahrscheinlich eine Form von Herrschaftsinsignien ‒ an den König, der vor ihm steht: Hammurapi hält eine Hand zu einem Gebetsgestus erhoben, seinen Kopf schmückt eine Turban-artige Krone. Es handelt sich bei der Komposition um eine sogenannte Einführungsszene, bei der ein menschlicher Bittsteller einem Gott gegenübertritt – gut bekannt ist dieser ikonographische Typus vor allem von Rollsiegeln.

Relief auf dem Codex Hammurapi (Rama, CC BY-SA 3.0 Wikimedia Commons).

Vergleicht man jedoch die Abbildung auf der Stele mit dem Relief im Kapitol, fällt auf den ersten Blick ein Fehler auf: Das Kapitol-Relief zeigt gar nicht Hammurapi (dieser trägt eine Art Turban), sondern den Sonnengott Šamaš (mit Hörnerkrone)! Die Hörnerkrone war im alten Mesopotamien das unverwechselbare Kennzeichen von Göttern – Hammurapi aber ließ sich selbst nie als Gott darstellen. Offensichtlich hielt der Künstler Thomas Hudson Jones bei seiner Vorlage die sitzende Figur für den König – und kopierte für das Relief im Kapitol das falsche Gesicht. Offenbar hat seit über siebzig Jahren keiner der zahlreichen Politiker und Besucher diese Verwechslung bemerkt oder eine Korrektur für nötig befunden.   
„In God we trust“, steht im selben Saal eingemeißelt über der Rednertribüne. Doch jener Gott, der mit seinem Gesicht jeder Sitzung des amerikanischen Repräsentantenhauses beiwohnt, ist in Wahrheit der babylonische Sonnengott Šamaš.

Titelbild bearbeitet nach Marianne Cornelissen-Kuyt, CC BY-SA 4.0 Wikimedia Commons.


[1] Architect of the Capitol: Relief Portrait Plaques of Lawgivers (Üs. LI).