Ein Wundersee in Portugal
Zu immer wieder anomalistisch gedeuteten Berichten gehören Meldungen von Schiffen in ungewöhnlichen Fundumständen, auf Bergen oder in Bergwerken – mal prä-astronautisch, mal im Sinne einer verlorenen Hochkultur, mal unter dem Label Atlantis oder Sintflut (dazu kommen noch Spekulationen um präkolumbianische Kontakte, falls die Meldung aus Amerika stammt).[1]
Dass sich die Jagd nach Anomalien und die Lektüre von Klassikern nicht ausschließen, entdeckte ich bei dem Lesen von Herman Melvilles sperrigem Meisterwerk Moby Dick eine solche Geschichte. In Kapitel 41 liest man:
„So that here, in the real living experience of living men, the prodigies related in old times of the inland Strello mountain in Portugal (near whose top there was said to be a lake in which the wrecks of ships floated up to the surface); and that still more wonderful story of the Arethusa fountain near Syracuse (whose waters were believed to have come from the Holy Land by an underground passage); these fabulous narrations are almost fully equaled by the realities of the whalemen.“
In Deutsch etwa:
„Es gab demnach hier, in der echten und gegenwärtigen Erfahrung lebender Menschen all die Vorzeichen, die man in alten Zeiten vom Berge Strello im Landesinnern von Portugal erzählte (nahe dessen Gipfel es einen See geben sollte, in dem die Wracks von Schiffen an die Oberfläche trieben); und sogar die noch viel wunderbarere Geschichte von der Quelle der Arethusa in Syrakus (deren Wasser mittels einer unterirdischen Verbindung aus dem Heiligen Land stammten); all diese märchenhaften Erzählungen werden von der Wirklichkeit des Walfängers fast erfüllt.“
Gebirge und See
Die Serra da Estrela (heutige Schreibweise, der Name bedeutet Sterngebirge – nach der Form) ist das höchste Gebirge Portugals: 1993 m über dem Meeresspiegel. Es befindet sich im Nordosten des Landes und ist Ursprung mehrerer portugiesischer Flüsse, darunter des über 200 km langen Zézere.
Auf dem Berg gibt dort ein paar kleinere Karseen: „An Seen besitzt Portugal nur die wenigen von Schneewasser gespeisten Gebirgsseen der Serra da Estrela.“[2] Diese Seen haben Durchmesser von ein paar hundert Metern.
Welchen See meint wohl Melville? Früher hatten alle malerische Namen: „Unter den Seen sind der runde, der lange und der finstere See auf dem hohen Gebirge Estrella zu bemerken.“[3] „Die Landseen sind nach Zahl und Größe unbedeutend; die vier Alpenseen der Serra de Estrella: Lagoa escura (der dunkele See), ronda, redonda und de Pachao.“[4]
Über alle wurden wundersame Geschichten erzählt, unter anderem, die eigentlich durch Gletscherschliff und Toteis entstandenen Seebecken seien Vulkankrater: „Merkwürdig sind auf den Serra de Estrella mehre Seen, die zum Theil lauwarm sind, Blasen werfen und dabei kristallhelles Wasser haben.“[5]
Über den finsteren See, Lagoa escura, lesen wir.
„Der finstere See in Portugal. Das Granitgebirge Serra de Estrella in Portugal mit seiner, 8000 Fuß über dem Meere erhabenen, 8 Monath im Jahre mit Schnee bedeckten Höchsten Spitze Cantaro-Delgado bildet eine Alpenlandschaft, wie man sie in einem so warmen Landstriche kaum erwartet. Merkwürdig sind daselbst mehrere warme See’n in den hocherhabenen Kraterkesseln eines ehemaligen, theilweise versunkenen Vulkans. Mit dem krystallhellen Quellwasser sprudeln noch fortwährend eine Menge Gase auf. Der unterste von diesen See’n heißt der Runde, weil seine Kreisrundung mittelst des Zirkels kaum regelmäßiger gebildet werden konnte. Sein felsiger, bis zu einer sehr bedeutenden Höhe sich erhebender Kraterkranz hat die nämliche Form noch beibehalten, und kann seinen vulkanischen Ursprung gar nicht verleugnen. Der höchste von den hiesigen See’n heißt der Finstere, und ist ein wahres Seitenstück zu dem melancholischen See in Norwegen, welcher, unweit Bergen, in einem außerordentlich tiefen, von einem steilen Kraterkranze umgebenen Becken liegt. In dem finstern Abgrunde dieses [norwegischen] See’s wird das Wasser durch kein Lüftchen der Oberwelt bewegt. Sein Wasserspiegel ist dem Einflusse des Tageslichts so sehr entzogen, daß man am hellen Mittage die Sterne in ihm erblickt.“[6]
Auch wenn keine dieser älteren geografischen Beschreibung Schiffswracks erwähnt, sieht man schon, dass gewöhnlichen kleinen Seen seltsame Eigenschaften zugeschrieben wurden.
Melvilles Quelle
Melvilles Quelle kann die Beschreibung des Sees im Jahr 1639 durch den katholischer Geistlichen und Universalgelehrten Juan Caramuel y Lobkowitz (1606‒1682) gewesen sein. Er schreibt:
„Der bedeutendste dieser [Berge] heißt Estrela, weil er in der Nähe der Sterne liegt. Es wird von einem See und dem finsteren Wald behütet. Sein Süßwasser fließt in den Ozean, obwohl dieser zwanzig Meilen entfernt ist. […] Die Stürme, die die Meere aufwühlen, lassen die Wellen auf dem See aufkochen und verursachen oft Schiffswracks, die zum Erstaunen der Einheimischen aus unterirdischen Höhlen herausgeschleudert werden.“[7]
Einen weiteren, ähnlichen Bericht (ohne Nennung der Wracks) soll ein französisches Buch von 1738 enthalten.[8]
Weitere Belege
Eine Suche nach deutschsprachigen Varianten dieser Information war leider recht unergiebig, allerdings konnte ich zwei Werke finden, die die Wracks im See bereits „rational“ deuten, also nicht mittels des fiktiven Untergrundkorridors zwischen Meer und Bergsee.
1821 beschäftigte sich der Geowissenschaftler Heinrich Friedrich Link (S. 3) mit Funden von fossilen Meerestieren im Hochgebirge und geht auf die klassischen Vorstellungen ein, etwa Ovids berühmte Verse, nach dem, was einstmals Meer, heute Berg, was einstmals Berg, heute Meer sei. Er lehnt die Erklärung einer Sintflut oder von unterirdischen Gängen für die Wracks und die Gezeiten einfach ab:
„Das Schiffsgeräth, welches man auf dem Berge Stella (ohne Zweifel Serra de Estrella) in Portugal in einem See gefunden, wie Bueffon *) aus einer ältern Erdbeschreibung anführt, gehört wohl zu jenen Dichtungen; auch gab die Sage diesem kleinen See Ebbe und Flut, welches gewiß nicht wahr ist. Wo man wirklich Eisengeräth unter der Erde fand, zeigt die genauere Untersuchung daß dort vormals Sümpfe gewesen waren**). Anker in Torfmooren und auf niedrigen Bergen besonders in nordischen Gegenden gefunden, können zufällig dahin gerathen sein, da die Schiffer im Winter den Strand verlassen, und alles mit sich nehmen, was sie für die Folge zu bewahren gedenken.“
(Anmerkungen: *) Histoire d. l. terre Art. XIX. **) Brocchi Conchiliologia fossile subapennina T. I. C. XI.)
1826 geht er auf das Thema erneut ein:
„Was man sonst von den periodischen Bewegungen mancher Seen gesagt hat, gehört zu den Fabeln. So sollen einige Seen schon unruhig werden, ehe der Sturm und das schlechte Wetter anfängt, ja der Aberglauben behauptet, daß ein Ungewitter entstehe, wenn man den See durch eingeworfene Steine unruhig mache. Vielen Seen hat man Ebbe und Flut zugeschrieben, unter andern den Seen auf der Serra de Estrella, welche fast auf dem Gipfel dieses oben sehr verflachten Gebirges sich befinden, aber man merkt nichts davon.“[9]
Ein Erklärungsumfeld
Was über den Bergsee berichtet wird, muss schlichtweg falsch sein. Sein Wasser kann nicht mit dem Ozean verbunden sein, weil dem das Prinzip der kommunizierenden Röhren widerspricht – da kann nicht ein Ende auf dem Meeresspiegel liegen, das andere in 2000 m Höhe, und beiden Enden mit Wasser gefüllt sein. Ebenfalls ist auszuschließen, dass ein See auf Granitgrund ein Kratersee ist. Und selbst wenn nicht feststeht, welcher See angeblich Wracks aus dem Meer ausspuckt, so kann man doch per Google Earth sehen, dass die Seen allesamt seicht sind und keine Schiffe enthalten, nicht einmal Balken.
Seen, die unterirdisch mit dem Meer verbunden sind, sind allerdings ein in Europa weit verbreitetes Sagenmotiv. Von vielen Schwarzwaldseen heißt es ebenfalls, sie seien „Meeraugen“, ihr Wasserspiegel sinke und steige periodisch mit Ebbe und Flut.
Wie solche Vorstellungen entstanden sind, lässt sich fast nur assoziativ begreifen – bis ins Mittelalter glaubte man an die „Sympathie“ von Gegenständen. Plinius berichtete, ein Seehundfell, selbst ein abgezogenes, bewege seine Haare nach wie vor mit Ebbe und Flut – weil es einmal mit dem Meer in Verbindung gestanden hatte. Um wie viel mehr konnte das für einen See gelten!
Vielleicht sind Tsunamis während Erdbeben schuld. Während des starken Bebens von Lissabon 1755 soll sowohl Loch Ness in Schottland wie der Stechlin in Brandenburg wie im Sturm getobt und periodisch geschwankt haben, von Dutzenden weiterer Seen in Europa bis nach Skandinavien wird ähnliches berichtet (der Comer See sei sogar gänzlich leergelaufen!). Vielleicht hat eine ähnliche Beobachtung in der Serra da Estrela dazu geführt, dass dem See die Sagenmotive der Verbindung mit dem Meer, der vulkanische Ursprung und schließlich die Wracks (als Beweis für die unterirdischen Kanäle) angedichtet wurden.
Der Gelehrte Athanasius Kircher stellte sich die ganze Erde mit solchen Tunnels durchzogen vor, durch die auch die Erdbeben entständen. Schwankte der Seespiegel im 17. Jahrhundert und griff man auf die damals geltende wissenschaftliche Erklärung dafür zurück, musste solch eine Sage zwangsläufig entstehen.
Unterirdische Kanäle, versunkene Städte, Wracks aus dem Meer, riesige Fische, die mordende und lockende Nixe, der See, der jedes Jahr ein Opfer will – das sind alles Bestandteile der sogenannten mythologischen Landschaft, die jeden See umgibt, und deren Uranfänge aus einer Zeit stammen, als man Naturkräfte noch als Gestalten visualisierte, um unheimliche Naturphänomene zu fassen.
Literatur
Cannabich, J. G. F. 1847: Lehrbuch der Geographie, Weimar.
Link, H. F. 1821: Die Urwelt und das Alterthum, erläutert durch die Naturkunde, Berlin.
Link, H. F. 1826: Handbuch der physikalischen Erdbeschreibung. Band 1, Berlin.
Magin, U. 1998: The Petrified Ship in a Swiss Mine: An introduction to the Mystery of Out-of-Place Ships. Fortean Studies 5, 73–95.
Magin, U. 2011: Investigating the Impossible: Sea-Serpents in the Air, Volcanoes that Aren’t, and Other Out-of-Place Mysteries, San Antonio/New York.
Melville, H. (11851): Moby Dick. Penguin Popular Classics.
Merkeler, K. F. 1843: Lehrbuch der historisch-comparativen Geographie: in vier Büchern. Band 4, Darmstadt.
Neues Rheinisches Conversations-Lexicon: oder Encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. 6. Band (1835), Band 10, Köln.
Grieben-Reiseführer 1965: Portugal, München.
Pitcher, E. 2016: Portugal. Hidden Places, Great Adventures and the Good Life, London.
Wagener, S. C. 1828: Das Leben des Erdballs und aller Welten: Neue Ansichten und Folgerungen aus Thatsachen, Berlin.
Wilkins, H T. 1952: Secret Cities of Ancient South America, London.
Ulrich Magin lebt nahe Bonn und ist Autor des Buchs „Die Seeschlange vom Comer See: Geheimnisvollen Seeungeheuern im Gardasee, im Comer See und im Lago Maggiore auf der Spur“ (TwilightLine Medien GbR).
Siehe auch: Das Schiff im Berg
[1] Vgl. Magin 1998, 2011.
[2] Portugal 1965, 16.
[3] Cannabich 1847, 21.
[4] Merkeler 1843, 584.
[5] Neues Rheinisches etc. 1835, 846.
[6] Wagener 1828, 440.
[7] Zitiert nach Pitcher 2016, 106; Übersetzung UM.
[8] Wilkins 1952, 427.
[9] Link 1826, 331.