Der Kristallschädel von Lubaantum

Kristallschädel im British Museum (Bild LI)

1927 entdeckte der britische Archäologe Mitchell-Hedges in der Mayastadt Lubaantum einen Schädel aus Bergkristall, den die Maya unmöglich hätten anfertigen können, weil ihnen dazu die zum Schleifen des Schädels nötige moderne Technologie fehlte, erklärte Johannes Fiebag[1]. Mercurio (1988) bestätigt diese Angaben von Fiebag und fügt noch hinzu, der Schädel sei von Mitchell-Hedges Tochter Anna an ihrem 17. Geburtstag gefunden worden. Ulrich Dopatka[2] gibt an, das Schleifen des Schädels hätte – mit Maya-Mitteln – 300 Jahre gedauert. Ähnlich äußert sich nun auch Erich von Däniken, der das Fundstück meines Wissens nach in die prä-astronautische Literatur eingeführt hat.[3]

Mitchell-Hedges: ein „britischer Archäologe“

Der Kristallschädel befindet sich heute im Besitz von Anna Mitchell-Hedges, der Adoptivtochter von F. A. Mitchell-Hedges. Dieser war nun nicht, wie Fiebag schreibt, ein „britischer Archäologe“, sondern ein Abenteurer, der sein Leben lang (1882–1949) nach Beweisen für die Existenz von Atlantis und Seeungeheuern forschte. Über diese „Expeditionen“ und seine wunderbaren Funde und Sichtungen hat er mehrere Bücher und zahlreiche Zeitschriftenartikel verfasst. Seine Interessen machen ihn nicht unglaubwürdig, aber ein „Archäologe“ ist er nie gewesen.     
1927, oder nach eigenen Berichten 1924 oder 1926[4], entdeckte Anna den Schädel, als sie zusammen mit ihrem Vater in einem Tempel in der Mayastadt Lubaantum grub. In manchen Versionen der Geschichte erwähnt Anna Mitchell-Hedges, es sei ihr 17. Geburtstag gewesen. „Wir entfernten gerade eine schwere Wand, die auf den Altar gefallen war. Unter dem Altar fand ich den dort begrabenen Schädel, aber erst drei Monate später fanden wir 7 Meter davon entfernt den dazugehörigen Kiefer. Die anwesenden Indios erkannten den Schädel sofort als Gott ihrer Ahnen“[5].   
Obwohl Mitchell-Hedges seine Entdeckungen in Lubaantum und anderswo häufig in Tageszeitungen beschrieb, erwähnte er den doch sehr sensationellen Kristallschädel kein einziges Mal – bis 1954, 27 Jahre nach der angeblichen Entdeckung[6]. In seiner Autobiographie Danger My Ally (Gefahr ist mein Kamerad) schreibt er: „Ich habe gute Gründe dafür, nicht zu verraten, wie der Schädel in meinen Besitz kam. Er ist mindestens 3600 Jahre alt und wurde der Legende nach von einem Hohepriester der Maya bei esoterischen Ritualen benutzt. Es heißt, dass man mit dem Schädel einen Todesfluch ausstoßen kann, der immer erfolgreich ist.“
Warum war Mitchell-Hedges über die Herkunft des Schädels so schweigsam, wo doch Tochter Anna jedem Forscher eine so farbenprächtige, wenn auch häufig neu datierte Geschichte erzählte?    
Der Kristallschädel wurde zum ersten Mal in einem Artikel der Zeitschrift Man im Juli 1936 erwähnt – allerdings als „Burney-Schädel“ und nicht als „Mitchell-Hedges-Schädel“.[7] Adrian Burney war ein britischer Kunsthändler, der – und jetzt wird es ernst – den Schädel, der sich bis dahin in seinem Besitz befunden hatte, am 15. September 1943 bei Sotheby‘s in London versteigern ließ. Käufer – für 400 Britische Pfund – war … Mr. Mitchell-Hedges.[8]

Woher Mitchell-Hedges den Schädel wirklich hatte

Das heißt, in einfachen Worten, dass die Geschichte von der Entdeckung des Kristallschädels tief unter der Erde der Mayastadt Lubaantum im Jahre 1927 durch Anna Mitchell-Hedges nicht stimmt! Eine interessante Geschichte, die Mitchell-Hedges irgendwann nach 1943, als er den Schädel in London gekauft hatte, erfand, um das Stück interessanter zu machen.        
Das heißt aber auch, dass der Schädel nicht aus der Maya-Zeit und der Maya-Kultur stammt. Adrian Burney hat leider keine Aufzeichnungen hinterlassen, wie er zu dem Schädel gekommen ist.

Was die Experten sagen

All die Hintergründe um diese komplizierte Geschichte wurden erst 1988 durch Recherchen des Britischen Museums und der forteanischen Zeitschrift Strange bekannt.        
Bereits vorher hatten Experten für die Maya-Kultur ernsthafte Zweifel angemeldet. Der Schädel passe weder stilistisch noch technologisch zu den Maya. Dr. Frederick Dockstader, Kurator des Museum of the American Indian, vermutete, es handle sich um eine europäische Arbeit aus der Zeit der Renaissance; die Edelstein-Expertin Elizabeth Carmichael vom Britischen Museum stellte fest, es sei „definitiv keine aztekische Arbeit“, und Adrian Dighby, ebenfalls vom Britischen Museum sagte, „es ist definitiv keine prä-kolumbianische Arbeit, aber es gibt vergleichbare Objekte als Kultgegenstände bei esoterischen Sekten.“ Andere Experten wiesen darauf hin, dass im 16. bis 18. Jahrhundert ähnliche Kristallquarzobjekte aus China nach Europa exportiert wurden.[9]        
Zu all diesen Zeiten wären sowohl die Technologie als auch die stilistischen Vorbilder zu finden. Allerdings – der Kristallschädel wäre dann kein Rätsel mehr. Da es keine Urkunden vom ersten mutmaßlichen Besitzer (es könnte vor ihm noch weitere gegeben haben), Adrian Burney, gibt, werden wir vermutlich nie erfahren, wann und wo der Schädel hergestellt wurde.

Der zweite Kristallschädel

Neben dem „Mitchell-Hedges-Schädel“ gibt es noch einen zweiten, angeblich aztekischen Schädel im Britischen Museum in London. Dieser Schädel ist in Arthur C. Clarkes Buch Geheimnisvolle Welten[10] abgebildet. Auch die Herkunft dieses Schädels ist rätselhaft. Er wurde vom Britischen Museum 1898 beim Juwelier Tiffany in New York für die Edelsteinsammlung des Museums gekauft. Nach eingehenden Untersuchungen ist man zu dem Schluss gekommen, dass der Schädel „eindeutig nicht von den Azteken stammt“. Auch hier gilt wieder, dass es sich vermutlich um das Kultobjekt einer Sekte oder Freimaurerloge gehandelt hat.[11]

Schlussfolgerung

Der Kristallschädel wäre mysteriös, wäre er tatsächlich vor dem Jahr 800 von den Maya in Lubaantum angefertigt worden: Mit ihrer Technologie hätten die Maya sicherlich jahrelang zur Anfertigung gebraucht – ob 300 Jahre, das mag dahingestellt sein. Stammt der Kristallschädel nicht von den Maya, sondern ist modern, dann hätte man – auch vor 200 Jahren schon – über die Technologie verfügt, ihn in kurzer Zeit maschinell zu fertigen. Und die Maya-Herkunft ist, wie die neuesten Forschungen ergeben, eine romantische Erfindung, die Mitchell-Hedges dazu diente, sein Flair als abenteuerlicher Entdecker weiter auszubauen. Bereits 1950 schloss das Britische Museum nach einer eingehenden Untersuchung beider Schädel, sie seien „in der heutigen Zeit angefertigt und mit Diamantenstaub in Form geschnitten worden. Vermutlich handle es sich um einen Kristallschädel, der für einen Hellseher angefertigt wurde“[12].       
Solange der einzige Beweis für die prä-kolumbianische Herkunft der Kristall-Schädel eine Erfindung ist, können die „geheimnisvollen Kristall-Schädel“ nicht als Beweise für fortschrittliche Technologie der Maya gelten.

Literatur

Chorvinski, M. 1987: The Controversial Crystal Skulls: The British Museum Crystal Skull. Strange 1, 26–31.

Chorvinsky, M. / Chapman, D. 1988: The Mitchell-Hedges Skull. Strange 3, 5–9, 52–55.

Clarke, A. C. / Welfare, S. / Fairley, J. 1990: Geheimnisvolle Welten, Augsburg.

Däniken, E. von 1973: Meine Welt in Bildern, Düsseldorf.

Dopatka, U. 1979: Lexikon der Prä-Astronautik, Düsseldorf.

Fiebag, P. / J. 1995: Aus den Tiefen des Alls, Berlin.

Mercurio, E. 1988: Rätsel um den Kristall-Schädel von Lubaantum, in: E. von Däniken (Hg.), Kosmische Spuren. Neue Entdeckungen der Präastronautik aus fünf Kontinenten, München, 130–139.

Artikel erstmals erschienen in Epal 7 (1996), 4 f.


[1] Fiebag 1995, 315–317.

[2] Dopatka 1979, 195.

[3] Däniken 1973, 216.

[4] Chorvinsky/Chapmann 1988, 54.

[5] nach Chorvinsky/Chapman 1988, 6.

[6] Chorvinsky/Chapmann 1988, 6, 53 f.

[7] Chorvinsky/Chapman 1988, 6.

[8] Chorvinsky/Chapman 1988, 53.

[9] Chorvinsky/Chapman 1988, 6 f.

[10] Clarke 1990, 50–55.

[11] Chorvinsky 1987, 28.

[12] Chorvinsky/Chapman 1988, 7.