Das Gilgamesch-Epos nach Erich von Däniken
11. Tafel des Gilgamesch-Epos (Wikimedia Commons)
Das Gilgamesch-Epos ist das älteste Heldenepos der Menschheit und zweifellos bekannteste Literaturwerk des alten Orients. Kein Wunder also, dass auch Erich von Däniken es für seine prä-astronautischen Theorien adaptierte. Doch berichtet der babylonische Text tatsächlich von Weltraumflügen und anderen Anachronismen, wie der Schweizer Autor behauptet? Tatsächlich zeigen sich bei Dänikens Nacherzählung der verschiedenen Episoden massive Abweichungen vom realen Text. Dieser Artikel versucht sich an einer Einordnung der fehlerhaften Stellen.
1. Enkidu – von einer Halbgöttin verführt?
Das Gilgamesch-Epos beginnt mit der Einführung des eponymen Helden: Gilgamesch ist der tyrannische König der sumerischen Stadt Uruk, der seine Bevölkerung knechtet und unterdrückt. Die Wehklage der Menschen jedoch bewegt die Götter zum Eingreifen: Auf Befehl des höchsten Gottes Anum wird Enkidu erschaffen – ein haariger Wildmensch von übermenschlicher Kraft, der Gilgamesch Paroli bieten soll. Doch bevor es dazu kommen kann, muss dieser zunächst zivilisiert werden. Bereits in seinem ersten Buch Erinnerungen an die Zukunft fasst Erich von Däniken die folgende Handlung zusammen:
„Als Gilgamesch, der König der Stadt Uruk, von diesem wenig attraktiven Wesen hört, regt er an, man solle dem Primitiven eine schöne Frau geben, damit er von dem Vieh entfremdet werde. Enkidu, der Primitive, fällt (ob mit Vergnügen, wird nicht berichtet) auf den Trick des Königs herein und verbringt sechs Tage und sechs Nächte mit einer halbgöttlichen Schönheit. Diese kleine königliche Kuppelei gibt zu denken: In einer barbarischen Welt liegt der Gedanke an eine Kreuzung zwischen Halbgott und Halbtier doch nicht so nahe.“[1]
Im Geschichtsbild der Prä-Astronautik ist dies ein immer wiederkehrendes Thema: Götter, d.h. Außerirdische, vereinigen sich mit sterblichen Menschen, um auf diese Weise halbgöttliche Nachkommen zu zeugen. Das deutlichste und immer wieder zitierte Vorbild hierfür ist die Nephilim-Passage im Alten Testament (1. Mose 6) sowie dem apokryphen Buch Henoch: Abtrünnige Engel, die „Gottessöhne“ oder „Wächter“, nehmen sich menschliche Frauen und zeugen mit diesen das Geschlecht der Riesen – ein in der Prä-Astronautik immer wieder zitiertes Motiv. Der Kritiker Kenneth Feder prägte für diesen Topos bereits den satirischen Begriff der „Horny Astronaut Hypothesis“[2].
Im vorliegenden Fall jedoch ist die Situation eine partiell andere: Nicht eine unschuldige Menschenfrau wird von einem lüsternen Gott verführt, sondern ein Tiermensch von einer Halbgöttin. Oder? Tatsächlich weicht die Darstellung im entscheidenden Punkt vom realen Text des Epos ab: Die Frau, die Enkidu verführen und damit zivilisieren soll, ist Schamchat, die gemeinhin als Prostituierte und/oder Tempelbedienstete gedeutet wird. Doch keine Stelle im Gilgamesch-Epos deutet darauf hin, dass es sich bei ihr um eine Halbgöttin gehandelt habe. Während die Passage der Zivilisierung Enkidus durch Verführung zwar so im Epos vorkommt, ist doch die Konnotation eine gänzlich andere als bei Däniken suggeriert.
Allerdings passt diese Fehldarstellung nicht in das klassische „Horny Astronaut“-Klischee. Möglicherweise könnte hier – unausgesprochen – ein anderer Stoff im Hintergrund stehen: Wie sich anhand eines Kapitels im zweiten Buch Zurück zu den Sternen belegen lässt (vgl. MMM 4: Monster, Aliens, Sex und Nazis), wo die Enkidu-Episode ebenfalls erwähnt wird, wurde Erich von Däniken offenbar durch die Kunstmythologie des Rechtsesoterikers Jörg Lanz von Liebenfels beeinflusst. Dieser postulierte eine vorzeitliche Rasse von Gottmenschen, die sexuellen Verkehr mit Tieren und/oder tiermenschlichen Mischwesen praktizierte und dadurch degenerierte. In seinem Hauptwerk Theozoologie zitiert auch Lanz von Liebenfels die Passage um Enkidus Zivilisierung aus dem Gilgamesch-Epos[3], allerdings fehlt dort noch die Vergöttlichung Schamchats. Woher dieses Missverständnis bei Däniken stammt, lässt sich nicht sagen. Doch handelt es sich dabei nur um eine von mehreren fundamentalen Fehldarstellungen bei der Nacherzählung des Gilgamesch-Epos …
2. Angriff des Anzu-Vogels
Erich von Däniken zitiert zwei Passagen des Epos, bei denen es sich um eine mythisch verklärte Darstellung von Weltraumflügen handeln soll. So die erste:
„Und die dritte Tafel weiß nun wieder von einer Wolke aus Staub, die aus der Ferne kam, zu berichten: der Himmel habe gebrüllt, die Erde gebebt, und schließlich sei der »Sonnengott« gekommen und habe Enkidu mit mächtigen Flügeln und Krallen gepackt. Man liest mit Erstaunen, daß es wie Bleischwere auf Enkidus Körper gelegen habe und daß ihm das Gewicht seines Körpers wie das Gewicht eines Felsens vorgekommen sei.
Billigen wir den alten Erzählern nicht weniger Phantasie zu, als wir sie aufzubringen vermögen – und ziehen wir auch noch die Zutaten der Übersetzer und Kopisten ab, dann bleibt doch die Utopie des Berichts übrig: Woher sollten und konnten die alten Chronisten wissen, daß die Last des Körpers bei einer gewissen Beschleunigung schwer wie Blei wird? Uns sind die Gravitations und Beschleunigungskräfte bekannt. Wenn ein Astronaut – bei seinem Start mit mehreren gravos in seinen Sitz gepreßt wird, dann ist das vorausberechnet. Welche Phantasie aber gab den alten Chronisten diesen Gedanken ein?“[4]
Eine solche Szene findet sich auf den ersten Blick nicht in der eigentlichen Handlung des Epos – erfunden ist sie trotzdem nicht ganz: Es handelt sich hierbei um die Schilderung mehrerer Traumvisionen aus der altbabylonischen Fassung des Gilgamesch-Epos.
Nachdem Gilgamesch und Enkidu zunächst miteinander gekämpft haben und daraufhin Freunde geworden sind, beschließen sie, eine gemeinsame Heldentat zu begehen: Sie reisen in den legendären Zedernwald im Libanon, der von dem übermächtigen Ungeheuer Humbaba bewacht wird. Auf dem Weg dorthin baut Enkidu jeden Abend eine Traumhütte, in der Gilgamesch jeweils einen visionären Traum erlebt. Träume galten im antiken Mesopotamien nicht als Illusionen, sondern bedeutende Vorzeichen für die Zukunft – so sind auch die hier dargestellten Passagen als Vorausgriffe auf folgende Ereignisse zu verstehen.
Das Gilgamesch-Epos ist in mehreren Fassungen aus verschiedenen Zeiten überliefert, die jeweils an unterschiedlicher Stelle lückenhaft sind. In der bekanntesten Version, dem Zwölftafelepos aus dem 1. Jahrtausend v.u.Z. (vor allem bekannt aus der Bibliothek des Assurbanipal in Ninive), fehlt die genannte Szene aufgrund fragmentarischer Erhaltung der Tontafeln. Erhalten ist sie jedoch in der altbabylonischen Version, die in Bruchstücken aus der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v.u.Z. überliefert ist. Diese folgt im Grunde derselben Handlung wie die spätere Fassung, weicht jedoch in Formulierungen und kleineren Details ab. Eine Tafel aus Nippur mit der Inventarnummer IM 58451 berichtet folgendes:
»Mein Freund, ich sah einen vierten (Traum)!
Er übertrifft noch meinen dritten Traum.
Ich erblickte den Anzu-Vogel am Himmel,
er erhob sich und flog wie eine Wolke über uns.
Etwas Schreckliches war da, mit ganz fremdartigem Antlitz.
Sein Mund war Feuer, sein Atem Tod.
Ein junger Mann [. . .]te den Übergang,
(während) er [. . .] und in meinem Nacht(gesicht) dasteht.
[Er zerbrach] seine Flügel, dann packte er meine Hand
(und) warf es [zu Bod]en.
[2 Zeilen fehlen.]
[»Daß du den Anzu am Himmel erblicktest –]
[er erhob sich und] fl[og wie eine Wo]lke über uns;
etwas Schreckliches war da, mit ganz fremdartigem Antlitz;
sein Mund war Feuer, sein Atem Tod,
vor seinem Schreckensglanz fürchtest du dich;
er … seinen Fuß, doch ich lasse dich aufstehn –:
Der junge Mann, den du sahst, ist der starke Schamasch.«[5]
In der Zwölftafelversion dagegen ist nur noch das Ende – die Interpretation des Traumes – erhalten. Dort wird der Löwenadler Anzu allerdings nicht mehr mit dem Sonnengott Schamasch, sondern mit Humbaba identifiziert.[6]
Bei Erich von Däniken jedoch werden beide Fassungen vermischt: Der Anfang („der Himmel habe gebrüllt, die Erde gebebt“) stammt tatsächlich aus der jungen Version:
Es brüllten die Himmel, und dabei donnerte die Erde,
der Tag verstummte, und Finsternis machte sich breit.
Es fuhr ein Blitz hernieder, Feuer loderte auf.
Funkenschwaden ballten sich wieder und wieder zusammen,
unaufhörlich rieselte Tod hernieder.
Es verdunkelte sich der Flammenschein, und dann erlosch das Feuer.
Als nach und nach (die letzten Funken) herniedergefallen,
verwandelte sich (das Feuer) in Asche. –
Du wurdest doch in der Steppe geboren. Können wir uns (darüber) beraten?»[7]
Hierbei handelt es sich jedoch um einen anderen Traum, der vor der (dort nicht erhaltenen) Passage mit dem Löwenadler steht und von dieser durch die charakteristische narrative Überleitung getrennt ist. Es bleiben also vier Feststellungen über die seltsame Episode in der Darstellung Dänikens:
- EvD erwähnt nicht, dass es sich um einen Traum handelt. Selbst innerhalb der Handlung des Epos ist die Schilderung nicht in derselben Weise wörtlich zu verstehen wie andere Szenen – es handelt sich nicht um eine Darstellung (angeblicher) historischer Ereignisse.
- Die Passage in der zitierten Form existiert nicht – vielmehr ist sie aus Ausschnitten zweier deutlich getrennter Traumvisionen zusammengesetzt.
- Nicht Enkidu, sondern Gilgamesch ist Protagonist der Visionen.
- Das von Erich von Däniken besonders herausgestellte Motiv der als Beschleunigung gedeuteten „Bleischwere“ fehlt.
Diese Verfälschung würde in der Prä-Astronautik-Literatur durchaus Parallelen finden – exemplarisch genannt sei etwa das von Erich von Däniken wiederholt aufgegriffene „Atombomben-Zitat“ aus dem indischen Epos Mahabharata, das ebenfalls fälschlich aus verschiedenen Passagen zusammengesetzt wurde[8].
In diesem Fall jedoch kann der Autor zu einem gewissen Grad entlastet werden. Wie die Recherche zeigte, geht die Textverfälschung nämlich nicht auf Däniken zurück, sondern auf die von ihm verwendete Vorlage.
Für vollständige Quellenangaben ist der „Sonntagsforscher“ leider nicht bekannt. Im Literaturverzeichnis von Erinnerungen an die Zukunft findet sich immerhin – ohne Übersetzer oder Erscheinungsjahr – der Titel Gilgamesch, Epos der alten Welt (Insel).
Eine Ausgabe mit diesem Titel ist bei einer oberflächlichen Recherche nicht aufzufinden. Die Nennung des Verlags führt jedoch zur korrekten Publikation: Gilgamesch; eine Erzählung aus dem alten Orient, herausgegeben 1920 von Georg Burckhardt im Insel-Verlag. Bei diesem vor nunmehr einhundert Jahren erschienenen Büchlein handelt es sich um eine geglättete Nachdichtung des Epos, die nach dem damaligen Wissensstand verschiedene Textzeugen des Gilgamesch-Epos verbindet – sodass letztlich alles, so Burckhardt, „mit größter Freiheit der Phantasie zu einer einheitlichen Form umgeschmiedet ist. So geht die hier versuchte Gestaltung zu einem Ganzen von einem rein künstlerischen Interesse am Stoffe aus. Wer sich historisch und antiquarisch mit dem Gilgamesch beschäftigen will, der greife lieber zu den oben genannten Büchern. […] Für alle Menschen, die unbefangene Freude an dem alten und ewig jungen Spiel der Phantasie haben, ist diese Erzählung geschrieben.“[9] Diese Aussagen allzu konkret auf Erich von Däniken und andere Prä-Astronautiker zu beziehen, sei an dieser Stelle unterlassen.
In der burckhardt’schen Zusammenstellung liest sich die genannte Passage folgendermaßen:
„Schwere Träume, mein Freund, schaute ich diese Nacht. Es brüllte der Himmel, Antwort bebte die Erde. Einem Starken stelle ich mich allein. Wie die Nacht war düster sein Antlitz, glotzend quoll das Auge hervor. Er sah aus wie ein scheußlicher, zähnefletschender Wüstenhund. Wie ein Geier hatte er mächtige Flügel und Krallen. Er packte mich fest, warf mich in einen Abgrund, ließ mich untertauchen in furchtbare Tiefe. Wie Bergesschwere lag es auf mir. Wie ein massiger Felsen erschien mir die Last meines Leibes. Er verwandelte dann meine Gestalt und machte vogelgleich meine Arme:
‚Fliege nun tiefer hinab, tiefer hinab in die Wohnung der Finsternis, zu der Behausung Irkallas.“[10]
Sowohl die Verbindung beider Szenen, als auch die „Bergesschwere“ gehen auf diese Nachdichtung zurück, in der der Traum auch in der Tat Enkidu in den Mund gelegt wird. Erich von Däniken gebührt allein die Verfälschung, einen Ausschnitt der Szene aus dem Zusammenhang gerissen zu haben: Er verschweigt sowohl die Charakterisierung des Ereignisses als Traum als auch das Ende der Szene, da Enkidu selbst in ein Vogelwesen verwandelt und tief hinab nach Irkalla – die Unterwelt – geschickt wird. (Das Gilgamesch-Epos und andere Quellen berichten, dass die verstorbenen Bewohner der Unterwelt vogelartig vorgestellt wurden.[11])
Wie aber kommt es zu den so krassen Abweichungen Burckhardts vom tatsächlichen Epos?
Anfang des 20. Jahrhunderts war das Gilgamesch-Epos weit weniger gut erforscht als heute, manche nun bekannten Textzeugen (Manuskripte) noch nicht entdeckt. Dies führte dazu, dass die genannte Traumsequenz mit einer deutlich späteren Szene verwechselt und identifiziert wurde, woraus ein völlig falscher Kontext entstand. Gemeint ist hierbei ein anderer Traum, der an späterer Stelle des Epos den Tod des Enkidu ankündigt. Nur in diesem Kontext sind die „Vervogelung“ Enkidus und sein Weg in die Unterwelt zu verstehen.
Noch weitere Szenen werden von Däniken aus der Nachdichtung Burckhardts übernommen und sinnentstellend aus dem Kontext gerissen.
3. Himmelfahrt und Tod des Enkidu
Erinnerungen an die Zukunft, 63: | Gilgamesch (Burckhardt 1920), 29 f: |
„Auf der siebenten Tafel steht nun der erste Augenzeugenbericht einer Raumfahrt, von Enkidu mitgeteilt: vier Stunden sei er in den ehernen Krallen eines Adlers geflogen. Und dies ist der Bericht im Wortlaut: »Er sprach zu mir: »Schau hinunter aufs Land! Wie sieht es aus? Blick auf das Meer! Wie erscheint es dir?< Und das Land war wie ein Berg, und das Meer wie ein kleines Gewässer. Und wieder flog er höher, vier Stunden hinauf, und sprach zu mir: >Schau hinunter aufs Land! Wie sieht es aus? Blick auf das Meer! Wie erscheint es dir?< Und die Erde war wie ein Garten und das Meer wie der Wasserlauf eines Gärtners. Und wieder vier Stunden flog er höher und sprach: >Schau hinunter aufs Land! Wie sieht es aus? Blick auf das Meer! Wie er- scheint es dir?< Und das Land sah aus wie ein Mehlbrei und das Meer wie ein Wassertrog.« | „Warum haben sich die großen Götter beraten? Warum planen sie mein Verderben, Freund? Seltsam war der Traum, den ich sah, sein Ende kündete Unheil. Ein Adler packte mich mit ehernen Krallen und flog mit mir vier Stunden hinauf. Er sprach zu mir: ,Schau hinunter aufs Land! Wie sieht es aus? Blick auf das Meer! Wie erscheint es dir?‘ Und das Land war wie ein Berg, und das Meer wie ein kleines Gewässer. Und wieder flog er höher, vier Stunden hinauf, und sprach zu mir: ,Schau hinunter aufs Land! Wie sieht es aus? Blick auf das Meer! Wie erscheint es dir?‘ Und die Erde war wie ein Garten, und das Meer wie der Wasserlaufeines Gärtners. Und wieder vier Stunden flog er höher und sprach: ,Schau hinunter aufs Land! Wie sieht es aus? Blick auf das Meer! Wie erscheint es dir?‘ Und das Land sah aus wie ein Mehlbrei, und das Meer wie ein Wassertrog. Zwei Stunden noch trug er mich höher hinauf, da ließ er mich fallen. Und ich fiel, und ich fiel und lag zerschmettert am Boden. Dies ist der Traum. Heiß vor Schrecken wachte ich auf.“ |
Auch diese Stelle ist klar von Burckhardt übernommen. Allerdings verschweigt Däniken das Ende der Erzählung, da Enkidu von dem Adler fallen gelassen und am Boden zerschmettert wird, bevor er aus seinem Traum erwacht – dies wäre nicht mit der Interpretation als Raumflug vereinbar gewesen.
Für EvD ist die Interpretation hingegen klar:
„Hier muß irgendein Wesen den Erdball aus großer Höhe gesehen haben! Zu richtig ist der Bericht, als daß er reines Produkt der Phantasie sein könnte! Wer hätte berichten können, daß das Land wie ein Mehlbrei, das Meer wie ein Wassertrog ausgesehen habe, wenn noch nicht die geringste Vorstellung der Erdkugel »von oben« bestanden hat? Denn tatsächlich sieht die Erde aus beträchtlicher Höhe wie ein Puzzlespiel aus Mehlbrei und Wassertrögen aus.“[12]
Das Argument muss nicht überzeugen: Auch auf dem Erdboden dürfte Menschen der Antike ebenso wie heute klar gewesen sein, dass weiter entfernte Objekte kleiner erscheinen – umso mehr, wenn man den Blick von einem der hohen Tempeltürme (Zikkurats) Mesopotamiens in Betracht zieht.
Unabhängig davon bleibt jedoch die Tatsache, dass auch diese Passage im Gilgamesch-Epos so nicht existiert.
Stefan Maul übersetzt die Traumsequenz folgendermaßen:
„Er redet über alles, was ihm im Sinn, mit seinem Freund:
«Welch einen Traum, mein Freund, sah ich doch im Verlaufe dieser Nacht!
Es riefen die Himmel, die Erde gab Antwort,
und zwischen ihnen da stand ich selbst.
Da war ein Mann, ganz finsteren Gesichtes,
dessen Züge denen des Löwenadlers glichen.
Löwenpranken waren seine Hände, Adlerkrallen seine Klauen.
Er packte mich am Schopfe, mich überwältigte er.
Ich schlug ihn, doch wie ein Springseil schwang er zurück.
Da schlug er mich und tauchte mich unter so wie ein Floß.
Wie ein gewaltiger Stier walzte er hinweg über mich.
Mit Gift bespritzte er meinen Körper.
<Rette mich doch, mein Freund!> rief dir ich da zu.
Du aber fürchtetest ihn und kamst mir nicht zu Hilfe.
[4 Zeilen fehlen]
Er rührte mich an; in ein Wesen, das einer Taube gleicht,
hatte er mich verwandelt.
Da band er mir wie einem Vogel die Schwingen.
Er hält mich gepackt und führt mich dabei zum Hause des Dunklen,
zum Sitz der Irkalla,“[13]
Hier nämlich finden sich auch Vogelverwandlung und Höllenfahrt Enkidus wieder, die bereits in der letzten von Burckhardt falsch komponierten Szene zitiert wurden: Nicht der Himmel ist das Ziel des bösartigen Vogeldämons, sondern die Unterwelt.
Dessen ungeachtet verwendete Erich von Däniken das falsche Zitat noch Jahrzehnte später weiter. Nahezu wortwörtlich wird es in Der Götter-Schock (11992) wiederholt, hierbei mit einem interessanten Zusatz:
Die Fortsetzung dieses ersten Weltraumberichtes ist im babylonischen Etana-Epos nachzulesen, das im schlechtesten Falle 4000 Jahre in die Vergangenheit zurückreicht [87]: „Mein Freund, blicke hin, wie das Land geworden ist. ‚Das Land ist geworden zu einem Kuchen, und das weite Meer ist groß wie ein Brotkorb.‘ Und noch einmal trug er ihn höher empor und sagte: Mein Freund, blicke hin, wie das Land verschwunden ist. ‚Ich blicke hin, wie die Erde verschwunden ist, und am weiten Meer sättigen sich meine Augen nicht! Mein Freund, ich will nicht zum Himmel aufsteigen. Mache Halt, dass ich zur Erde zurückkehre!‘“[14]
Unbeabsichtigt liefert Däniken hier die Erklärung für die fehlerhafte Nacherzählung bei Burckhardt: Die falsch eingefügte Himmelfahrts-Szene stammt eben nicht aus dem Gilgamesch-, sondern aus dem Etana-Epos, das bei Däniken als vermeintlich zweite Quelle danebengestellt wird.[15]
Auch in dem wiederum späteren Buch Falsch informiert! (2007) erwähnt dieser die angebliche Himmelfahrt des Enkidu:
„Mit einem Hintergedanken klebe ich an Abraham, der ebenfalls eine Himmelfahrt erlebt, dabei die Erde »unter sich« sieht [28], oder an Enkidu des Gilgamesch-Epos, der von »Adlerflügeln« über die Erde hinausgetragen wird [29,30].“ [16]
Interessant: Die beiden Endnoten verweisen auf die Bücher „Ebermann, Oskar: Sagen der Technik. Leipzig 1930“ und „Schott, Albert: Das Gilgamesch-Epos. Stuttgart 1977“. Die besagte Gilgamesch-Ausgabe von Albert Schott (unter Mitarbeit des bekannten Altorientalisten Wolfram von Soden), seit 1958 in diversen Auflagen erschienen, enthält die fraglichen falschen Stellen jedoch nicht. Im Gegensatz zu der geglätteten Nachdichtung von Burckhardt entspricht die Schott-Übersetzung weitgehend der heutigen, korrekten Rekonstruktion des Gilgamesch-Epos. Offenbar wurde also von Erich von Däniken nur pro forma eine neue Quelle angegeben, ohne die fragliche Stelle überhaupt mit dieser abzugleichen.
Das zweite Buch, Ebermanns Sagen der Technik (eine kulturübergreifende Sagensammlung mit unangenehmem NS-Einschlag), erwähnt kurz den Etana-Mythos und bildet eine Darstellung desselben auf einem Rollsiegel ab. Der fehlerhafte Bezug auf Enkidu dagegen fehlt auch hier.[17]
Die Unterweltsvision (ganz ohne Himmelfahrt) kündigt schließlich die dramatischste Szene im Gilgamesch-Epos an: Enkidu wird von einer tödlichen Krankheit ergriffen und verstirbt, was seinen Partner Gilgamesch in eine schwere Krise fallen lässt. Über die Ursache spekuliert Däniken:
„Und auf der achten Tafel stirbt derselbe Enkidu, der die Erde aus ziemlicher Höhe gesehen haben muß, an einer geheimnisvollen Krankheit, so geheimnisvoll, daß Gilgamesch fragt, ob ihn vielleicht der giftige Hauch eines Himmelstieres getroffen habe. Woher wohl nahm Gilgamesch seine Ahnung, daß der giftige Hauch eines Himmelstieres eine tödliche und unheilbare Krankheit hervorrufen konnte? “[18]
„Im Gilgamesch-Epos stirbt Enkidu, weil er >vom giftigen Hauch des Himmelstieres< berührt wurde.“[19]
Auch dies ist von Burckhardt entlehnt:
„Wir erschlugen den schnaubenden Wunderstier. Hat seines Schnaubens giftiger Hauch dich vielleicht getroffen?“[20]
Tatsächlich ist der Grund für den Tod Enkidus im Epos ein anderer: Als erste Traumvision seines Dahinsiechens erblickt Enkidu die Götterversammlung, die über das Schicksal der beiden Helden debattiert. Zwar ergreift der Sonnengott Schamasch Partei für Gilgamesch, doch kann er nicht verhindern, dass der Götterkönig Enlil stattdessen Enkidu für die Tötung Humbabas und des Himmelsstieres zum Tode verurteilt. In den üblichen Textzeugen des Epos fehlt die Szene leider, da die Tafel an dieser Stelle abgebrochen ist – doch ist sie aus einer hethitischen Nachdichtung des Epos aus der Stadt Hattuša bezeugt.[21]
Es handelt sich also um eine Schicksalsbestimmung der Götter (ein in der mesopotamischen Mythologie häufig anzutreffendes Motiv), die sogleich in die Tat umgesetzt wird: Im Traum verschleppt der Dämon Enkidus Seele in die Unterwelt und vollendet damit dessen Schicksal. In der darauffolgenden Krankheit stirbt Enkidu, auch ohne den Hauch des Himmelsstieres.
4. Der Kampf gegen Humbaba
Von Burckardt zitiert Erich von Däniken eine weitere bemerkenswerte Szene:
„Die fünfte Tafel berichtet, wie sich Gilgamesch und Enkidu auf den Weg machen, den Wohnsitz der »Götter« gemeinsam zu besuchen. Von weitem schon habe der Turm, in dem die Göttin Irninis lebte, gestrahlt. Pfeile und Wurfgeschosse, die sie als vorsichtige Wanderer auf die Wächter schleuderten, seien wirkungslos abgeprallt. Und als sie das Gehege der »Götter« erreichten, dröhnte ihnen eine Stimme entgegen:
»Kehrt um! Kein Sterblicher kommt auf den heiligen Berg, wo die Götter wohnen, wer den Göttern ins Angesicht schaut, muß vergehen.«
»Du kannst mein Angesicht nicht schauen, denn kein Mensch bleibt am Leben, der mich schaut…«, heißt es bei Moses im 2. Buch. […] Wenn auf der gleichen Tafel berichtet wird, daß eine Tür wie ein lebender Mensch sprach, ist diese seltsame Erscheinung für uns ohne Nachdenken als Lautsprecher identifiziert.“[22]
„Das Gilgamesch-Epos schildert den dramatischen Kampf von Enkidu und Gilgamesch gegen das Ungeheuer Chuwawa, das allein und erfolgreich die Wohnstätte der >Götter< bewachte. Wurfspeere und Keulen, die Enkidu und Gilgamesch schleuderten, prallten wirkungslos an dem feuchtenden Ungeheuer« ab, aber hinter ihm sprach eine >Tür< mit der >Donnerstimme< eines menschlichen Wesens. Der kluge Enkidu entdeckte die verwundbare Stelle des göttlichen Dieners Chuwawa, er konnte ihn kampfunfähig machen.“[23]
Es handelt sich um eine mehr oder minder getreue Nacherzählung Burckardts:
„In blendendem Weiß erstrahlt der heilige Turm der Göttin Irnini. […] Sie schossen die Pfeile auf ihn, warfen das Wurfholz. Die Geschosse prallten zurück, er blieb unversehrt. Nun steht er vor ihnen. Schon packt er Enkidu mit kralligen Tatzen. Da erhebt der König die Streitaxt. Getroffen sinkt Chumbaba zu Boden, und Gilgamesch trennt ihm das Haupt vom schuppigen Nacken. Sie nehmen den mächtigen Leib und schleppen ihn fort ins Freie. Sie werfen ihn hin den Vögeln zum Fraß. Den Kopf mit den Hörnern tragen sie mit sich auf hoher Stange zum Zeichen des Sieges.
Weiter geht es nun mutig hinauf zum Berge der Götter. Durch der Zedern prächtigste Fülle gelangen sie endlich zur Spitze des Berges. Da ruft vom Berg eine Stimme, es ertönt die Stimme Irninis:
„Kehrt um! Euer Werk ist getan. Wendet euch wieder nach Uruk, der Stadt, sie wartet auf euch! Kein Sterblicher kommt auf den heiligen Berg, wo die Götter wohnen. Wer den Göttern ins Angesicht schaut, muß vergehn!“[24]
Auch diese Szene findet sich so nicht im Epos. Nach der Tötung Humbabas sprechen Gilgamesch und Enkidu miteinander und fertigen aus dem Holz der zuvor gefällten Zeder eine Tür, die sie nach Nippur verschiffen, um sie dem Gott Enlil für seinen Tempel zu schenken.[25]
Von einer Stimme vom Berg herab ist nichts zu lesen. Dies ist eine weitere „Rekonstruktion“ der Nachdichtung Burckhardts. Allerdings finden sich auch bei diesem weder ein „Gehege der Götter“ noch eine sprechende Tür, wie es Däniken in seinen Büchern angibt. Der Ursprung dieser Elemente bleibt unbekannt – im originalen Gilgamesch-Epos liegt er jedoch nicht.
5. Fazit
Angesichts der Prominenz und kulturgeschichtlichen Bedeutung des Textes ist es kein Wunder, dass das Gilgamesch-Epos auch in der Prä-Astronautik-Szene aufgegriffen wird. Die Rezeption des Textes in den Büchern Erich von Dänikens jedoch stellt sich als Aneinanderreihung größtenteils falscher Zitate heraus.
Däniken lag bereits in seinen ersten Büchern nicht das korrekte Gilgamesch-Epos vor. Stattdessen gehen seine Zitate auf die Nachdichtung von Georg Burckhardt zurück, welcher den Text in nach heutigem Ermessen katastrophaler Art „rekonstruierte“: Reihenfolge und Kontext der einzelnen Szenen weichen deutlich vom Text des tatsächlichen Epos ab – teils wurden Passagen unterschiedlichen Ursprungs ohne Kennzeichnung miteinander vermischt, bis hin zur falschen Einfügung einer Szene aus dem Etana-Epos. Obwohl er im späteren Buch Falsch informiert! schließlich eine andere Gilgamesch-Ausgabe als Quelle angibt, bleiben diese Falschdarstellungen bei Erich von Däniken bestehen.
Die bereits fehlerhafte Vorlage verfälschte Däniken selbst weiter: Die jeweils zitierten Textausschnitte lassen zentrale Informationen weg, die mit seinen technischen Interpretationen nicht vereinbar sind, so etwa die Identifikation der im Epos beschriebenen Vorgänge als Traumvisionen sowie die „Vervogelung“ und Verschleppung Enkidus in die Unterwelt. Umgekehrt finden manche Bemerkungen in der Paraphrase (etwa die sprechende Tür, das „Gehege der Götter“ oder die Halbgöttlichkeit Schamchats) auch bei Burckhardt keine Entsprechung und müssen somit als Fiktion betrachtet werden.
Auf diese Weise entsteht eine Geschichte voller phantastischer Beschreibungen, die allzu gute moderne Interpretationen im Sinne der Prä-Astronautik ermöglicht: Lautsprecher, todbringende Kampfroboter, ein allzu lebendig geschilderter Weltraumflug und Sex zwischen Halbgöttin und Halbtier. Nur mit dem antiken Gilgamesch-Epos hat all dies wenig zu tun.
6. Quellen
Burckhardt, G. 1920: Gilgamesch; eine Erzählung aus dem alten Orient, zu einem Ganzen gestaltet. Insel-Bücherei 203, Leipzig.
Däniken, E. von 2015 (11968): Erinnerungen an die Zukunft. Ungelöste Rätsel der Vergangenheit, Rottenburg.
Däniken, E. von 2015 (11969): Zurück zu den Sternen. Argumente für das Unmögliche, Rottenburg.
Däniken, E. von 2015 (11992): Der Götter-Schock, Rottenburg.
Däniken, E. von 2015 (11995): Der jüngste Tag hat längst begonnen. Die Messias-Erwartungen und die Außerirdischen, Rottenburg.
Däniken, E. von 2007: Falsch informiert! Vom unmöglichsten Buch der Welt, Henochs Zaubergärten und einer verborgenen Bibliothek aus Metall, Rottenburg.
Ebermann, O. 1930: Sagen der Technik. Von Fliegern und Schiffern, Brücken und Bauten, Uhren, Glocken, Zauberspiegeln und anderen Dingen. Dürrs Sammlung deutscher Sagen 30, Leipzig.
Feder, K. 2010: Encyclopedia of Dubious Archaeology. From Atlantis to the Walam Olum, Santa Barbara/Denver/Oxford.
George, A. 2003: The Babylonian Gilgamesh Epic. Introduction, Critical Edition and Cuneiform Texts. Volume I, Oxford/New York.
Hecker, K. 1994: Das akkadische Gilgamesch-Epos, in: O. Kaiser (Hg.), Mythen und Epen II. TUAT 3/4, Gütersloh, 646–744.
Hecker, K. 2001: C Akkadische Mythen und Epen. 1. Etanas Himmelsflug, in: O. Kaiser (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Ergänzungslieferung, Gütersloh, E-34–E-51.
Lanz von Liebenfels, J. 1905: Theozoologie oder Die Kunde von den Sodoms-Äfflingen und dem Götter-Elektron, eine Einführung in die älteste und neueste Weltanschauung und eine Rechtfertigung des Fürstentums und des Adels (mit 45 Bildern), Wien/Leipzig/Budapest.
Maul, S. M. 2005: Das Gilgamesch-Epos. Neu übersetzt und kommentiert von Stefan M. Maul, München.
Zgoll, A. 2013: Einladung an die Toten zum Festmahl: Ischtars Abstieg in die Welt der Toten und Dumuzis Rückkehr in die Welt der Lebenden, in: S. Franke (Hg.), Als die Götter Mensch waren. Eine Anthologie altorientalischer Literatur, Darmstadt/Mainz, 63–72.
[1] Erinnerungen an die Zukunft (Kopp 2015), 62
[2] Feder 2010, 17.
[3] Lanz von Liebenfels 1905, 19.
[4] Erinnerungen an die Zukunft, 62.
[5] aB Nippur, Vs. 9 – Rs. 6 nach Hecker 1994, 660–662.
[6] SB Gilgamesch 4:157.
[7] SB Gilgamesch 4:101-107 nach Maul 2005, 77.
[8] Siehe hierzu:
Markus Pezold 2006 ff: Die Atombomben des Mahabharata
Palaeoseti.de 2020: Atombomben im altindischen Mahabharata
Jason Colavito 2011: Ancient Atom Bombs: Fact, Fraud, and the Myth of Prehistoric Nuclear Warfare
[9] Burckhardt 1920, 63 f.
[10] Burckhardt 1920, 15.
[11] SB Gilgamesch 7:189; Ištars Höllenfahrt 10 (vgl. Zgoll 2015, 63).
[12] Erinnerungen an die Zukunft, 63.
[13] Maul 2005, 106.
[14] Der Götter-Schock (Kopp 2015), 88 f.
[15] Übersetzung vgl. Hecker 2001 – es gibt keine inhaltlich relevanten Abweichungen zum Auszug bei EvD.
[16] Falsch informiert!, 59.
[17] Ebermann 1930, 16 + Abb. zwischen S. 36/37.
[18] Erinnerungen an die Zukunft, 63.
[19] Zurück zu den Sternen (Kopp 2015), 67.
[20] Burckhardt 1920, 32.
[21] Maul 2005, 101.
[22] Erinnerungen an die Zukunft, 62 f.
[23] Zurück zu den Sternen, 193 f.
[24] Burckhardt 1920, 23.
[25] Vgl. Maul 2005, 89.